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Deutsch-deutsche Grenze
Die vergessenen Todesopfer des Kalten Kriegs

Bernhard Neumann wurde im Mai 1949 am Bahnhof Zoo, mitten in Westberlin, von Ostberliner Volkspolizisten erschossen. Über Todesfälle an den DDR-Grenzen aus der Zeit vor dem Mauerbau war bislang wenig bekannt. Jetzt versuchen zwei Forschungsprojekte diese Lücke zu schließen.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 12.01.2017
    Der Mauerbau in Berlin im August 1961.
    Der Mauerbau in Berlin im August 1961. (picture alliance / dpa)
    Der neue Band "Die vergessenen Toten" holt 39 Menschen in die öffentliche Erinnerung zurück. Die Autoren stellen sie darin erstmals mit einer Kurzbiografie vor und berichten über die Umstände ihrer Tode an den Berliner Grenzen vor dem Mauerbau 1961. Mitautor Gerhard Sälter von der Gedenkstätte Berliner Mauer:
    "Da ist zum Beispiel der Wolfgang Röhling, ein Junge, der will mit ein paar Freunden am Hamburger Bahnhof schwimmen gehen, weil es heiß ist, Sommer. Es ist direkt am 17. Juni, das interessiert die Jungs natürlich nicht. Haben das ein bisschen mitgekriegt, und drüben steht ein Posten der Kasernierten Volkspolizei, und die schreien dann rüber: Sachsenschweine. Werfen ein paar Steine rüber, die gar nicht so weit kommen. Und der eine von den Kasernierten Volkspolizisten legt seine Waffe offensichtlich gezielt auf eine Astgabel, damit er den auch trifft, und legt einen von den Jungs um."
    Die meisten Quellen wurden vor 1989 vernichtet
    "Die Todesfälle waren schwieriger zu erforschen als erwartet", erzählt der wissenschaftliche Mitarbeiter der Gedenkstätte. Die meisten Behörden produzierten in der frühen DDR-Zeit wenig Papier, viel davon ist vernichtet oder nicht auffindbar. Auch die Staatssicherheit konzentrierte sich damals mehr auf ihren eigenen Aufbau und hinterließ zu diesem Thema kaum Dokumente.
    "Die nach 1989 zuständig werdenden Staatsanwaltschaften haben, anders als bei den Mauertoten, nicht in allen Fällen ermittelt, hatten dabei ebenfalls erhebliche Schwierigkeiten und sind manchmal auch zu unklaren und unvollständigen Ergebnissen gekommen. Und haben einen Teil ihrer Akten leider bereits vernichtet. Wir mussten uns deshalb auf eine sehr heterogene und vergleichsweise dünne Quellenüberlieferung stützen. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, wir haben manchmal auch einfach ziemliches Glück gehabt, wo wir dann im Keller des Landeskriminalamtes noch große Aktenbestände gefunden haben, von denen niemand etwas wusste."
    Als Vorbild für die Recherche nach Todesopfern an den Grenzen zwischen Ost- und West-Berlin sowie am Berliner Außenring zur DDR diente das Standardwerk über die "Todesopfer an der Berliner Mauer 1961 - 1989" von Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke.
    Zufällige Opfer der DDR-Grenzsoldaten
    Auch in dem neuen Band "Die vergessenen Toten" gilt als Opfer an Grenze oder Mauer, wer bei der Flucht ums Leben kam oder wessen Tod räumlich und ursächlich eng mit dem DDR-Grenzregime zusammen hing. In beiden Büchern zählen die Autoren weder Schusswaffenunfälle noch Suizide von Grenzpolizisten dazu – und auch nicht die zivilen Todesopfer, die bei der Grenzkontrolle an einem vermeintlichen Herzschlag verstarben.
    "Wir haben zwei Agenten tatsächlich auch, oder mutmaßliche Agenten dabei. Wir haben einen sowjetischen Deserteur. Aber das Gros der Leute ist einfach Berliner, die ihren Alltagsgeschäften nachgehen – in unterschiedlichster Weise. Und dabei heraus gerissen worden ist. Es gibt das SPD-Mitglied, das in seiner Stammkneipe sitzt, die direkt hinter der Grenze zu Ost-Berlin ist. Und weil er aus Sachsen ist, auf die dortige Herrschaft nicht gut zu sprechen ist und beim Verlassen seiner Stammkneipe irgendeine Bemerkung dazu macht, die den Grenzern nicht gefällt, die daraufhin eine Personalausweis-Kontrolle vornehmen. Und gibt es einen Streit. Und am Ende ist er tot."
    Dass nur drei Flüchtlinge unter den Opfern waren, hat die Wissenschaftler der Gedenkstätte Berliner Mauer überrascht: Einer von ihnen war der 15-jährige Hans-Roland Scholz. Er wollte 1956 mit Kollegen nach West-Berlin fliehen und wurde bereits an der Grenze der DDR nach Ost-Berlin erschossen.
    Die meisten Menschen wurden bei der Kontrolle von Papieren und Gepäck oder bei dem Versuch, sich dieser zu entziehen, getötet. Sie wollten ein Pfund Butter von Ost nach West schmuggeln, manch Brandenburger Bauer hatte vor, einen Getreidesack zu Geld machen.
    Wenige Todesopfer trotz Schießbefehl
    Das rigide Grenzregime hatte die Ost-Berliner Stadtregierung infolge der sowjetischen Blockade West-Berlins im April 1948 errichtet. Bis zum Mauerbau waren die Grenzen umkämpfte Räume, erzählt Gerhard Sälter. Die Regelungen wechselten häufig. Enklaven und Exklaven sorgten zusätzlich für Verwirrung. Die Weisung, sich mit Waffengewalt durchzusetzen, gab es bereits damals. Eine vollständige Kontrolle war dennoch nicht möglich.
    "Deshalb beabsichtigte die SED seit der Blockade tendenziell, die Grenze zwischen Westberlin und der umgebenden DDR möglichst ganz zu schließen, die Grenze zwischen Ost- und Westberlin durch Stichprobenkontrollen zu überwachen, dafür aber die Grenze zwischen Ostberlin und der DDR, also zwischen der Hauptstadt und dem umgebenden Land, als vorgeschobene Systemgrenze des Kalten Krieges zu behandeln und die Kontrollen, die sie für unerlässlich hielt, dort vorzunehmen."
    Täglich soll mehr als eine halbe Million Menschen allein die Grenze zwischen den beiden Stadthälften überquert haben. Gemessen daran sei die Zahl der Todesfälle nicht hoch, betont der Historiker. Die meisten Grenzsoldaten hätten nicht geschossen. Diejenigen aber, die zur Waffe griffen, hätten angesichts geringer Anlässe überreagiert.
    Andere Situation an der deutsch-deutschen Grenze
    Im Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin ist Jochen Staadt gemeinsam mit anderen Historikern den "Opfern des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze" von 1945 bis '89 auf der Spur. Die Situation war eine andere als die in Berlin:
    "Es gab ein Sperrgebiet, am Anfang war das sehr klein, an der Grenze, das man nicht betreten durfte. Und das wurde dann ausgedehnt. Es gab dann einen fünf-Kilometer-Bereich, in den man ohne besondere Ausweise nicht rein durfte. Und wer dort angetroffen wurde, ohne dass er dort erklären konnte, was er dort macht, wurde festgenommen. Der Fluchtverdacht war dann da, wenn man sich in dieses Gebiet ohne Grund begeben hat."
    Ziel war nicht nur, rund 1.400 Verdachtsfälle aus den Listen etwa von Staatsanwaltschaften, der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter und der "Arbeitsgemeinschaft 13. August" zu überprüfen. Mithilfe von Einzelbiografien versuchen die Wissenschaftler vielmehr abzubilden, wie sich das Grenzregime seit seinen Anfängen verändert hat.
    Immer neue Auflagen erschwerten den Wechsel zwischen Ost und West
    "Die Leute waren es gewohnt, dass sie die Zonengrenze passieren konnten, dass sie Verwandte und Freunde besuchen konnten. Das war zwar auch vor 1949 nicht mehr legal, aber es war die grüne Grenze und man konnte sie an vielen Stellen passieren. Ab 1947 wird die Bewachung der Grenze verstärkt. Es wurden die Interzonenpässe eingeführt, und die Besucher von Ost nach West oder von West nach Ost konnten ohne diese Pässe nicht mehr passieren. Und seit '47 wurde auch schon geschossen an der Grenze durch die Deutsche Grenzpolizei, die die sowjetische Besatzungsmacht aufgestellt hatte." beschreibt der Historiker die Situation damals.
    1952 wurde die innerdeutsche Grenze geschlossen und später nach und nach vermint. Wer von der DDR in die Bundesrepublik reiste, benötigte Reisepapiere und Genehmigungen. Die Kontrollen durch die Deutsche Grenzpolizei, wie sie damals hieß, wurden ständig verschärft, so der Historiker. Ähnlich wie an den Berliner Grenzen kamen die Menschen zunächst selten wegen eines geplanten Fluchtversuchs ums Leben.
    "Die Menschen, die an der Grenze zu Tode kamen in den frühen 50er Jahren waren überwiegend Menschen, die entweder Waren transportiert haben, Waren geholt haben, da wo es billiger war. Das ging sowohl von West nach Ost, als auch von Ost nach West. Und es waren Leute, die besuchsweise die Grenze passiert haben, um Verwandte zu besuchen. Und die dann in Kontrollen gerieten oder weil sie Schmuggelware bei sich hatten, versuchten zu flüchten, und auf die dann damals schon nach den Schusswaffengebrauchsbestimmungen – nach Warnruf und Warnschuss – gezielt geschossen wurde."
    Wer waren die Toten?
    Unter den Grenztoten waren sehr unterschiedliche Fälle. Einer der bekanntesten zeigt, dass es an der innerdeutschen Grenze um die Konfrontation zweier politischer Blöcke ging: Michael Gartenschläger wurde 1976 beim wiederholten Abbau einer Selbstschussanlage von DDR-Grenzsoldaten gezielt getötet.
    Die FU-Wissenschaftler haben rund 30 Westdeutsche identifiziert, von denen einige versehentlich in betrunkenem oder verwirrtem Zustand ins Grenzgebiet geraten waren. Der Großteil aber, rund 300 Menschen, wurde aufgrund eines Fluchtversuchs von Ost nach West getötet.
    "Es waren überwiegend Arbeiter, Handwerker, Bauern, die geflüchtet sind. Und es waren zu etwa 60 Prozent Männer, wenige Frauen, unter 25. Es gibt fast keine Akademiker unter den Opfern. Es gibt in der Außengrenze Bulgarien, Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn eine ganze Reihe von Akademikern, die es dort versucht haben, weil man der Meinung war, dass es dort einfacher ist, die Grenze zu passieren. Und diese Todesfälle sind auch nur zum Teil untersucht bisher, die sich dort abgespielt haben.
    Auch Selbstmorde von Grenzern
    Anders als das Forschungsprojekt der Gedenkstätte Berliner Mauer zählt der Forschungsverbund SED-Staat auch Fälle von Suizid zu den Grenztoten. Jochen Staadt erzählt von mehreren Bauern, die sich das Leben nahmen, weil sie von ihrem Land und ihren Dörfern in Grenznähe zwangsausgesiedelt werden sollten.
    Außerdem hätten sich nicht wenige Grenzsoldaten wegen ihrer Arbeit suizidiert. Diese Vorkommnisse tabuisierte das SED-Regime damals.
    "Und wir haben versucht, das soweit als möglich zu prüfen, ob diese Fälle aus dienstlichen Zumutungen entstanden sind. Also beispielsweise gibt es einen Fall, wo ein Grenzsoldat angesichts eines schwer verletzten Flüchtlings, dem die Beine durch Minen zerfetzt wurden, am Abend in solche Verzweiflung gerät nach der Bergung dieses Mannes, dass er Suizid beging und auch einen Abschiedsbrief geschrieben hat, dass er das da nicht aushält in der Truppe."
    Viele Soldaten dienten nicht freiwillig an der deutsch-deutschen Grenze
    Die Bandbreite ist groß: Fahnenflüchtige erschossen bei der Flucht in den Westen ihre Kameraden – oder wurden von diesen getötet. Jochen Staadt betont, dass viele nicht freiwillig an der Grenze dienten. Sie wurden mit Versprechungen auf einen Studienplatz oder gegen ihren Willen dort hin versetzt.
    "Unsere Absicht war, als wir festgestellt haben, dass es diese Todesfälle außer den Fluchtzusammenhängen gibt, das uns mal genauer anzugucken und zu sagen: Was hat das eigentlich mit Leuten gemacht, die dort an der Grenze eingesetzt waren und die diesen Zumutungen ausgesetzt waren, die mit diesem Dienst verbunden waren. Und wir sind eigentlich der Meinung, dass man auch die Grenzsoldaten, die gegen ihren Willen dort tätig waren und entweder Fahnenfluchtversuche unternommen haben und dabei ums Leben gekommen sind oder Suizid begangen haben, weil sie traktiert wurden von ihren Vorgesetzten in diesem Grenzdienst oder weil sie den Dienst nicht ausgehalten haben, dass man die auch mit als eine Kategorie – nicht als erste Kategorie, aber als eine Kategorie - der Opfer dieses Grenzregimes mit berücksichtigen muss."
    Ob allerdings die bei der Arbeit verunglückten Grenzsoldaten als Opfer des Grenzregimes bezeichnet werden können, ist unter Wissenschaftlern umstritten. Von rund 350 Todesfällen durch unsachgemäßen Schusswaffengebrauch, aber auch Minen sprechen die Historiker vom Forschungsverbund SED-Staat.
    Gerhard Sälter, Johanna Dietrich, Fabian Kuhn: "Die vergessenen Toten. Todesopfer des DDR-Grenzregimes in Berlin von der Teilung bis zum Mauerbau (1948 – 1961)", Christoph Links Verlag, Berlin 2016, 310 S.
    "Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961 – 1989. Ein biographisches Handbuch", Hg. Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Stiftung Berliner Mauer, Christoph Links Verlag, Berlin 2009, 524 S.