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Deutsch-deutsche Langeweile

Nicholas Shakespeare, Bruce-Chatwin-Biograf und Autor eines Reiseberichts über Tasmanien, hat sich diesmal an einem deutsch-deutschen Gesellschaftsporträt vor dem Hintergrund des Kalten Krieges versucht. Was die Gründlichkeit der Recherche betrifft, kann man Shakespeare nichts vorwerfen. Seine Charaktere jedoch bleiben blass, ihr Gerede banal und durchsichtig.

Von Antje Ravic-Strubel | 27.06.2006
    Geruchsproben, die die Staatsicherheit in Einweckgläsern luftdicht verschloss und massenweise sammelte, um Verdächtigen bei Bedarf schneller auf die Spur zu kommen, stehen derzeit hoch im Kurs und scheinen die Fantasie von Autoren und Filmemachern ungeheuer anzuregen. Auch die Stasi-Offiziere scheint der so plötzlich freigelegte und auf Großleinwände gespannte altvertraute Geruch wieder aus ihren Löchern zu locken, in die sie sich verkrochen hatten. Nicholas Shakespeares neues Buch dürfte ihnen ein Dorn in ihren jüngst zurechtgelogenen Erinnerungswelten sein. Der Roman "In dieser einen Nacht" beginnt damit, wie zwei Diener des MfS die Geruchsprobe eines gerade fluchtartig verlassenen Liebeslagers sicherstellen. Es ist eine Szene mit zwei kriecherischen Gestalten, in der eigentlich nur der Spürhund gut wegkommt.

    Shakespeare, Bruce-Chatwin-Biograf und Autor eines Reiseberichts über Tasmanien, hat sich diesmal an einem Gesellschaftsporträt versucht, das sich auf dem Hintergrund des Kalten Krieges abspielt. Er erzählt eine deutsch-deutsche Geschichte aus der Perspektive eines Engländers.

    Bei "dieser einen Nacht" handelt es sich eigentlich um zwei Nächte.

    Beide Nächte sind für die Hauptfigur des Buches, Peter Hithersay, entscheidend. In der einen Nacht, im Herbst 1960, trifft eine junge Engländerin, die auf Besuch in der DDR ist, mit einem aus dem Strafgefängnis Bautzen geflohenen Häftling zusammen. Henrietta Hithersay ist zum Johann-Sebastian-Bach-Gesangswettbewerb eingeladen. Als sie mit Sondergenehmigung die Umgebung von Leipzig erkundet, stürzt in Borna plötzlich dieser Mann auf sie zu, nimmt sie am Arm und führt sie hastig von der Straße weg. Der Mann ist ein Ostdeutscher namens Peter, der wegen regimekritischer Äußerung eingesperrt wurde und jetzt auf der Flucht ist.

    Die Nacht verbringen sie in Henriettas Zimmer, und in dieser Nacht wird sie von dem Fremden schwanger, bevor er am nächsten Tag wieder festgenommen wird und sie nach England zurückkehrt.

    Die zweite wichtige Nacht in Shakespeares Roman betrifft den Sohn von Henrietta Hithersay. Auch sein Name ist Peter, und man wird unschwer erraten, um welches Kind es sich handelt. An Peters siebzehntem Geburtstag gesteht die Mutter ihm, dass sein Vater nicht der englische Fotograf ist, den sie geheiratet hat und mit dem sie in der Umgebung von Salisbury lebt, sondern jener ostdeutsche Flüchtling, den sie nur für eine Nacht kennen gelernt hatte. Wenig später macht Peter, der Sohn, sich auf den Weg, seine Herkunft zu ergründen. Er lernt deutsch, er fängt an, in Hamburg Medizin zu studieren, und eines Tages fährt er mit einer Pantomime-Gruppe nach Leipzig, in der Hoffnung, auf Spuren seines Vaters zu stoßen.

    Stattdessen trifft er Snjolaug. Snjolaug ist eine Psychologie-Studentin aus Leipzig, die soeben erfahren hat, dass sie nicht weiterstudieren darf, weil ihr Bruder einen Ausreiseantrag gestellt hat.

    Und jetzt wiederholt sich im Sohn, was die Mutter bereits vorgelebt hat.

    Die beiden verbringen gemeinsam eine Nacht in einer Schrebergartenkolonie im Bungalow von Snjolaugs Bruder. Wie sich am morgen herausstellt, ist der Bungalow verwanzt, aus dem umgeworfenen Gartenzwerg ragt ein Kabel. Dennoch lädt Peter Snjolaug ein, ihn am Abend zu einem offiziellen Essen zu begleiten, zu dem man die Pantomime-Gruppe eingeladen hat. Aber Snjolaug wird nicht ins Hotel gelassen. Inzwischen ist der jungen Frau eingefallen, dass dieser Engländer sie in seiner Künstlerkiste aus dem Land schmuggeln kann, nach dem Verlust ihres Studiums sieht sie in der DDR keine Perspektive mehr. Peter aber geht das alles zu schnell. Als sich Snjolaug mit Gewalt Zutritt zum Hotel verschafft, verleugnet er sie.

    So der bombastische Auftakt zu einem Psychodrama, könnte man meinen.

    Denn in Peter brennt sich dieser Moment der Verleugnung für immer ein. Sein Leben gerät aus den Fugen, er nimmt Fentanyl, eine medizinische Droge, fällt durch die Medizinprüfung, schlittert von Affäre zu Affäre, während unsichtbar im Hinterkopf immer das Bild dieser jungen Ostdeutschen lauert, von der er nicht mehr kennt als den Kosenamen, den ihre Großmutter ihr gegeben hat. Snjolaug. Schließlich fängt Peter an, sich auf Gerontologie zu spezialisieren. Er arbeitet in einem Altenheim und will von der DDR nichts mehr wissen.

    Solange nicht, bis, wie es der Zufall oder ein allzu gnädiger deus ex machina will, eine alte Frau in sein Altenheim in Wannsee verlegt wird. Für die Leser ist sofort klar, dass es sich um Snjolaugs Großmutter handelt, kein Kunststück, nachdem man bereits 200 Seiten die Versuche des Autors miterlebt hat, Spannung herzustellen. Nur Peter ist schlicht ein Waisenknabe. Er stellt erst am Ende des Buches den Zusammenhang her, als er, nach 500 Seiten und zwanzig Jahre später, auch Snjolaug endlich wiedersieht.

    In gewissem Sinne ist dieses Buch tatsächlich ein Psychodrama: Es ist nämlich eine elende Quälerei, und man fragt sich auf jeder Seite, ob man stark genug ist, das bis zum Ende durchzuhalten. Der Erzählton bleibt immer auf demselben Niveau, jede Regung der Figuren wird so überdeutlich erklärt, dass die Figuren schließlich einander gleich werden, in tausend Nebengeschichten und -geschichtchen zerfasert die Handlung. Was die Gründlichkeit der Recherche betrifft, kann man Nicholas Shakespeare nichts vorwerfen. Die Stasi-Schule in Golm kommt ebenso vor wie die Birthler-Behörde, er hat die Abläufe des DDR-Alltags gewissenhaft studiert und kennt sich mit auch mit Phänomenen der Nachwendezeit aus. Er weiß, dass die einen gleich jeden ihrer Nachbarn der Mitarbeit bei der Staatsicherheit verdächtigten, während andere schlichtweg ihr Gedächtnis verloren. Eine Bekannte Snjolaugs und ehemalige IM, die inzwischen Reizunterwäsche an Hausfrauen verkauft, bezichtigt folgerichtig Snjolaug nach der Wende der Mittäterschaft. Was durchaus denkbar ist; nach ihrem damaligen Auftritt im Hotel wurde sie von der Staatssicherheit verhört, nicht wenige wurden nach einem solchen Vorfall angeworben. - Man kann sagen, Shakespeare hat die Lektion DDR mit eins bestanden.

    Er hat den Roman mit seinen Recherche-Ergebnissen allerdings so überfrachtet, dass die Figuren wie Bauarbeiter durch den Text laufen und unter dem Material ächzen, das sie von hier nach da schleppen, dort einen stützenden Querbalken einziehen, hier eine tragende Wand hochmauern, aber einen Bezug zu ihrem Material haben sie nicht. Als Charaktere spielen sie keine Rolle. Sie sind so blass, ihr Gerede ist so banal und durchsichtig, dass es vielleicht besser gewesen wäre, Shakespeare hätte einen historischen Reisebericht geschrieben statt eines Romans.

    Hier kann bestenfalls noch eine Fentanyl-Spritze helfen.

    Nicholas Shakespeare
    "In dieser einen Nacht"
    (Rowohlt Verlag)