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Deutsch-Israelische Beziehungen
"Israel wurde von deutschen Exilanten geprägt"

Keine andere Immigrationswelle habe Israel so geprägt wie die der Deutschen und Russen, sagte die Schriftstellerin Gila Lustiger im DLF. Die deutsche Kultur sei Teil der israelischen. Auch würde die jüngere Generation "unbefangener" mit dem Holocaust umgehen.

Gila Lustiger im Gespräch mit Christine Heuer | 12.05.2015
    Die Schriftstellerin Gila Lustiger
    Die Schriftstellerin Gila Lustiger (dpa / Jörg Carstensen)
    Die Architektur, die Verlage, die Presse, die Universität in Jerusalem - fast alles in Israel sei von den deutschen Emigranten geprägt worden. Tel Aviv sei ein Bauhaus-Museum, in Haifa wurden Brecht, Döblin und Mann gelesen. "Die deutsche Kultur ist Teil der israelischen Kultur, sagt Lustiger. Die Schriftstellerin erinnerte an die Bertelsmann-Studie, wonach 70 Prozent der Israelis ein positives Bild der Deutschen haben.
    "Die Israelis haben kein Problem mit der deutschen Kultur, sie haben ein Problem nach 1945 gehabt mit den Deutschen, die zwei Weltkriege verzapft haben und das europäische Judentum vernichtet haben." Immer mehr junge Israelis würden auch wieder nach Berlin ziehen. "In gewisser Weise würden sie nach Berlin zurückziehen, weil fast alles in Israel von deutschen Immigranten geprägt wurde", sagte Lustiger. Ihre Kinder hätten ihrem Vater Fragen gestellt, die sie nicht stellen konnte. Die jüngere Generation würde "unbefangenen damit umgehen" und habe der "ganzen Sachen ihren Schrecken" genommen.
    Die Deutschen hätten dagegen ein ganz differenziertes Bild zu Israel. Das sei so, weil sie nicht mit der israelischen Politik und Regierung übereinstimmen. "Für viele von uns verheißt der Sieg von Benjamnin Netanjahu für das Land und auch den Verhandlungsprozess mit den Palästinensern wirklich nichts Gutes. Und das ist ein Euphemismus", sagte Lustiger im DLF. Es sei fatal, wenn die Medien und die deutsche Öffentlichkeit Israel auf die Politiker reduziere. Man kann ein Land nicht so vereinfachen. Sie bezeichnete den israelischen Ministerpräsidenten als "Populisten". Die Israelis hätten ihn nicht gewählt, weil sie gegen den Friedensprozess seien, sondern weil sie sich von den Linken missverstanden fühlten. Es dürfe aber nicht vergessen werden, dass Israel ein demokratisches Land sei. "Das einzige demokratische Land im Nahen Osten", betonte Lustiger.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: 50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen, diesen Jahrestag begehen Politiker heute in Berlin sehr feierlich. Der israelische Präsident Rivlin ist dazu in die deutsche Hauptstadt gekommen. Sie werden heute sicher viel hören und sehen von diesem Jahrestag. Heute früh möchten wir Sie ein bisschen erden und über das Verhältnis von Juden und Deutschen jenseits der hohen Politik sprechen, über das Verhältnis der Menschen zueinander, und zwar mit der deutschen Schriftstellerin Gila Lustiger, die wir in Paris erreichen. Guten Morgen, Frau Lustiger.
    Gila Lustiger: Guten Morgen!
    Heuer: Sie sind Deutsche, Sie leben in Frankreich, Sie haben auch in Israel gelebt und Sie sind das Kind einer jüdischen Mutter.
    Lustiger: Einer israelischen Mutter.
    Heuer: Einer israelischen Mutter. Was von all dem, Frau Lustiger, prägt Sie am meisten in Ihrer Beobachtung der Welt, abgesehen davon natürlich, dass Sie eine Schriftstellerin sind?
    Lustiger: Ja, ich möchte mit einer Anekdote anfangen, weil ich Schriftstellerin bin. Ich habe Germanistik studiert und ich habe Germanistik in Jerusalem studiert, und im Nachhinein weiß ich, dass ich da hingezogen bin - das ist ja ziemlich ungewöhnlich, um dort deutsche Literatur und deutsche Kultur zu studieren -, weil ich mit denen studiert habe, die unbelastet waren, nämlich mit den deutschen Exilanten. Und das weiß man vielleicht in Deutschland nicht, aber Israel ist, wurde von deutschen Exilanten und Emigranten geprägt wie von keiner anderen Emigrationswelle. Tel Aviv zum Beispiel, die sich ja "Ira Levana" nennt, die weiße Stadt, ist mit ihren 4000 Bauhaus-Gebäuden das größte Bauhaus-Museum der Welt. Tel Aviv wurde zwar 1909 gegründet, aber von den ganzen Bauhaus-Architekten, die nach der Machtübernahme und vor allen Dingen nach 1935 nach Tel Aviv kamen, eigentlich geprägt worden und sie haben diese Stadt eigentlich gebaut.
    Heuer: Frau Lustiger, es ist ein enges, aber es ist natürlich ein äußerst schwieriges Verhältnis zwischen den Deutschen und den Israelis. Der Anlass unseres Gesprächs heute ist, dass die deutsch-israelischen Beziehungen 50 Jahre alt werden. Was halten Sie denn für die wichtigste Veränderung im Verhältnis der Menschen in den letzten 50 Jahren?
    Lustiger: Sehen Sie, ich habe gerade eine Bertelsmann-Studie gelesen, und in dieser Studie der Bertelsmann-Stiftung steht, dass 62 Prozent der Deutschen ein negatives Bild der israelischen Regierung haben und 70 Prozent der Israelis ein positives Bild der Deutschen.
    Heuer: Da geht es um die Politik.
    Lustiger: Das ist die Veränderung, würde ich mal sagen.
    Heuer: Also dass die Israelis uns lieber mögen als wir sie?
    Lustiger: Ja, dass die Israelis, sagen wir mal, uneingeschränkt Deutschland mögen und die Deutschen ein ganz differenzierteres Bild zu Israel haben.
    "Der Sieg von Netanjahu verheißt nichts Gutes"
    Heuer: Warum ist das so?
    Lustiger: Das ist natürlich jetzt vor allen Dingen so, weil sie mit der israelischen Regierung und der israelischen Politik nicht übereinstimmen. Aber nicht nur ich, sondern auch meine israelischen Freunde, für viele von uns verheißt der Sieg von Netanjahu für das Land und auch für den Verhandlungsprozess mit den Palästinensern wirklich nichts Gutes, und das ist ein Euphemismus. Aber nichts desto trotz darf man nicht vergessen, dass Israel ein demokratisches Land ist, und ich möchte hinzufügen, das einzige demokratische Land weit und breit im Nahen Osten. Schauen Sie sich Libyen an, schauen Sie sich den Irak an, Syrien und so weiter und so fort.
    Heuer: Das sind die politischen Rahmenbedingungen. 50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen, wie gut, wie lebendig sind diese Beziehungen zwischen den Menschen in Israel und Deutschland, mal ab von den politischen Urteilen, die es ja in der Tat gibt und über die wir gerade gesprochen haben? Wie gehen die Menschen miteinander um?
    Lustiger: Ja, das darf man wirklich nicht vergessen. Israel ist, wurde wirklich von Deutschland geprägt, von deutschen Emigranten. Sie haben ja unwahrscheinlich viele Israelis, die jetzt in Berlin leben, und sie ziehen nicht nach Berlin, sondern in gewisser Weise ziehen sie nach Berlin zurück.
    Heuer: ..., weil ihre Großeltern dort vielleicht geboren sind und gelebt haben.
    Lustiger: Ja, aber nicht nur, sondern weil fast alles in Israel von deutschen Emigranten geprägt wurde. Die Universität in Jerusalem wurde gegründet von Deutschen. Von der Architektur habe ich ja geredet, aber auch die Verlage, die Presse. Das heißt, keine andere Emigrationswelle - und das muss man wirklich immer wieder deutlich sagen - hat Israel so geprägt wie die Deutschen und die Russen.
    Israelis sind mit "deutscher Kultur aufgewachsen"
    Heuer: Und das ist bis heute ein Magnet auch für junge Israelis.
    Lustiger: Das heißt, sie kommen in bekanntes Gebiet. Sie sind mit der deutschen Kultur aufgewachsen und die Israelis haben kein Problem mit der deutschen Kultur. Sie haben ein Problem nach 1945 gehabt mit den Deutschen, die zwei Weltkriege verzapft haben und das europäische Judentum vernichtet haben. Aber ich kann mich erinnern, dass ich in Jerusalem bei den Exilanten im Wohnzimmer die ganzen Klassiker gesehen habe. In Deutschland wurden diese Bücher verbrannt und verboten, aber in Jerusalem und in Haifa wurde Heine gelesen und Brecht gelesen und Döblin gelesen und Thomas Mann gelesen. Das heißt, die deutsche Kultur ist Teil der israelischen Kultur.
    Heuer: Deutschland ist in Israel bekanntes Gebiet. Umgekehrt, Frau Lustiger, ist Israel den Deutschen heute, den jungen Deutschen vor allem ein vielleicht nicht gut genug bekanntes Gebiet.
    Lustiger: Ich kenne viele Deutsche, die aus dem gleichen Grund angezogen sind von Israel und auch da hingehen. Das würde ich so nicht sagen.
    Heuer: Eigentlich ist das ja eine sehr positive Zwischenbilanz, die Sie da ziehen. Es gibt ein Interesse, ein gelebtes Interesse beider Seiten aneinander.
    Lustiger: Ja. Schauen Sie sich doch mal heute Leipzig an mit Schwerpunkt Israel. Das waren wirklich gut besuchte Lesungen und da gibt es schon ein Interesse. Es ist fatal, wenn die Medien und die deutsche Öffentlichkeit Israel auf die Politiker reduziert. Man kann ein Land nicht so vereinfachen. Und da muss man auch hinzufügen: Netanjahu hat die Wahlen gewonnen, ich habe die israelische Presse gelesen, vor allen Dingen hat er die Wählerschaft im Süden für sich gewonnen und aus den Entwicklungsstädten. Und der Norden - das nennt sich in Israel "Sonni" -, die großen Städte Tel Aviv und Haifa und Jerusalem haben viel für die Linke gewählt. Es ging den Wählern, die für Netanjahu gewählt haben, in erster Linie auch darum, dass sie sich von ihm verstanden fühlen. Netanjahu ist ein Populist und er redet die Sprache des Volkes, und das ist vielleicht der größte Fehler der Linken heute in Israel, dass sie einfach den Diskurs nicht beherrschen. Verstehen Sie, die Israelis haben nicht Netanjahu gewählt, weil sie gegen den Friedensprozess sind. Sie haben Netanjahu gewählt und knapp gewählt, weil sie sich von der Linken in Israel missverstanden fühlen.
    Heuer: Viele Israelis fühlen sich bedroht. Auch damit hat Netanjahu ja im Wahlkampf zu punkten versucht und offenbar ist ihm das gelungen. Wir erleben auch in Deutschland mehr antisemitische Angriffe. Wir haben gerade darüber gesprochen, dass viele junge Israelis nach Berlin, nach Deutschland kommen. Müssen Israelis, müssen Juden in Deutschland wieder Angst haben?
    Lustiger: glaube ich nicht. Aber ich bin da kein Fachmann. Was meinen Sie denn?
    Heuer: Ich kann das nicht beurteilen. Ich frage Sie.
    Lustiger: Weiß ich nicht. - Nein, natürlich nicht.
    "Die junge Generation stellt Fragen"
    Heuer: Der Krieg und der Holocaust liegen 70 Jahre zurück. Das ist für junge Deutsche sehr stark Vergangenheit. Belastet diese Vergangenheit heute die Menschen, die heute in dem Alter sind, in Kontakt zu treten? Belastet diese Vergangenheit heute Deutsche weniger und ist das vielleicht auch ganz gut so?
    Lustiger: Kann ich Ihnen auch nichts zu antworten. Ich weiß, dass jetzt viele Israelis, die Enkelkinder der Holocaust-Überlebenden jetzt endlich den Mut finden und die Möglichkeit finden, in letzter Minute noch mit ihren Großeltern zu reden und auch Fragen zu stellen. Meine Generation, ganz persönlich meine Kinder konnten meinem Vater Fragen stellen, die ich nicht habe stellen können. Dass meine Kinder sich mit dem Holocaust auseinandersetzen auf eine ganz skurrile Art und Weise, verschafft es ihnen, unbefangener damit umzugehen. Für mich ist das so ein Tabu und etwas, was mich bedroht, aber meine Kinder haben dadurch, dass sie sich damit befasst haben, ich würde nicht sagen, dass sie sich daran abgearbeitet haben, aber sie haben dieser ganzen Sache ihren Schrecken genommen. Ich sehe auch auf deutscher Seite wieder in der Generation der Enkel auch viele deutsche Jugendliche und junge Frauen und Männer, die das jetzt auch schaffen und die das machen, auch um zu verstehen, wo sie herkommen und was uns eigentlich geprägt hat.
    Heuer: Also eine Entkrampfung. - Im Lüneburg-Prozess gegen den SS-Mann Oskar Gröning - der geht heute weiter - hat Eva Mozes Kor, die Auschwitz überlebt hat, dem Angeklagten die Hand gereicht und sie hat ihm förmlich vergeben. Frau Lustiger, wie finden Sie diese Geste?
    Lustiger: Ich kann mich dazu nicht äußern. Das macht sie mit ihrem Gewissen aus. Ich kann mich in sie hinein versetzen und ich kann sowohl sie verstehen als auch die anderen, die das schockiert. Aber dieser Prozess - und ich habe von einigen meiner Freunde gehört, was soll das, der Mann ist schon hoch betagt, wieso jetzt, es ist doch lächerlich, so einen hoch betagten Mann jetzt noch verurteilen zu wollen, er kommt doch nie ins Gefängnis. Andererseits: Die Opfer sind auch hoch betagt und das ist vielleicht die letzte Chance, die wir ihnen geben, dass sie über ihr Leid reden, dass wir es als wichtig erachten und dass wir ihr Leid anerkennen. Und da ist es für alle Opfer egal, ob sie jetzt Opfer sind des Holocausts, oder anderer Kriegsverbrechen, oder von Vergewaltigung, dass man ihr Leid anerkennt und dass man sie reden lässt und ihnen zuhört und ihnen sagt, wir halten das, was ihr sagt, für relevant. Das ist ganz wichtig und das ist auch die letzte Möglichkeit, dass diese Holocaust-Opfer zu Wort kommen.
    Heuer: Die deutsche Schriftstellerin Gila Lustiger. Frau Lustiger, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch.
    Lustiger: Ja, ich danke Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.