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Deutsch-polnisches Verhältnis
"Man braucht sich gegenseitig"

Den Besuch von Angela Merkel in Polen hält der Politikwissenschaftler Stefan Garsztecki für einen wichtigen Schritt im bilateralen Verhältnis. Es sei richtig gewesen, sich mit Kritik an der polnischen Regierung zurückzuhalten, sagte er im DLF. Man müsse das Rechtsstaatsverfahren des Europarates abwarten.

Stefan Garsztecki im Gespräch mit Mario Dobovisek | 07.02.2017
    Kanzlerin Angela Merkel und die polnische Premierministerin Beata Szydlo in Warschau am 8. Februar 2017
    Kanzlerin Angela Merkel und die polnische Premierministerin Beata Szydlo in Warschau am 8. Februar 2017 (imago stock&people / Shi Zhongyu)
    Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Stefan Garsztecki, Politikwissenschaftler an der Technischen Universität Chemnitz. Guten Abend, Herr Garsztecki.
    Stefan Garsztecki: Guten Abend, ich grüße Sie.
    Dobovisek: Eingriffe in die Freiheit von Justiz und Medien, die hatte Berlin in der Vergangenheit scharf kritisiert. Heute betont Merkel zwar die Bedeutung einer unabhängigen Justiz und unabhängiger Medien, hält sich aber sonst mit Kritik eher zurück. Wie sehr braucht sie denn die Partner in Polen?
    Garsztecki: Ich glaube schon, dass unter den geänderten internationalen Bedingungen Deutschland Polen braucht für notwendige Reformen in der Europäischen Union. Ich glaube, dass man da gemeinsame Interessen hat, das was von der Regierung in Polen auch betont wird. Man muss wahrscheinlich erst nach den Wahlen in Europa, die anstehen, also in Frankreich und in Deutschland, zur Reform der Europäischen Union da herangehen, und da ist Polen sicherlich der wichtigste Partner in Ostmitteleuropa.
    Dobovisek: Sollte die Kanzlerin trotzdem in bestimmten Fragen wie zum Beispiel Justiz und Medien und deren Freiheit bestimmter auftreten?
    Garsztecki: Nein. Ich glaube, sie hat das ja auch angesprochen. Sie hat da ein persönliches Beispiel heute bei ihrer Visite in Warschau geliefert, indem sie sich auf den Einfluss der Solidarnosc für Bürger der DDR berufen hat. Das ist ja auch von Oppositionellen in der DDR lebhaft verfolgt worden, was in Polen passiert ist, und ich glaube, anlässlich dieser Visite war das wahrscheinlich ausreichend. Im Übrigen läuft das andere Verfahren, das sogenannte Rechtsstaatsverfahren. Es gibt ja die Venedig-Kommission, das läuft ja nach wie vor.
    Da hat die Kommission Polen kurz vor Weihnachten letzten Jahres aufgefordert, dazu Stellung zu beziehen, und hat der polnischen Regierung zwei Monate eingeräumt. Es wäre meines Erachtens jetzt nicht klug gewesen, das anlässlich dieser Visite zu hoch zu hängen, weil es ja eh noch weiter läuft, und es könnte jetzt einfach ein wichtiger Schritt im bilateralen Verhältnis sein, weil die Regierung schon mehr als ein Jahr im Amt ist und bisher hat es den Besuch von Merkel in Polen nicht gegeben.
    Dobovisek: Wie würden Sie heute nach Merkels Besuch in Warschau das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen beschreiben?
    "Sicherlich braucht Polen Deutschland mehr als umgekehrt"
    Garsztecki: Ich glaube, es hat auf beiden Seiten eine gewisse Ernüchterung gegeben, eine positive Ernüchterung, dass man, glaube ich, jetzt gesehen hat, man braucht sich gegenseitig. Sicherlich braucht Polen Deutschland mehr als umgekehrt. Das hat was mit den Größenverhältnissen beider Länder zu tun. Aber auch diese Ernüchterung ist ja positiv, wenn es denn zu leichten Kurskorrekturen führt. Wenn man in den letzten Monaten die polnischen Nachrichten, das heißt die staatlichen Nachrichtensendungen verfolgt hat, war sehr häufig ein antideutscher Ton für Beobachter herauszuhören, und der Parteivorsitzende von Recht und Gerechtigkeit, Kaczynski, hat sich ja schon positiver geäußert.
    Wahrscheinlich hat man in Warschau jetzt auch gemerkt, dass "Schlimmeres" drohen kann, nämlich mit Martin Schulz, der deutlich skeptischer in Polen wahrgenommen wird, und von deutscher Seite, glaube ich, lässt man sich zunächst einmal auf die Verfahren der Europäischen Union beziehungsweise des Europarates, also der Venedig-Kommission ein, so dass das Verhältnis heute eigentlich nicht so gut ist wie unter Tusk, aber auch nicht so schlecht ist, wie es in der Presse gemacht wird.
    "Wir haben faktisch schon ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten"
    Dobovisek: Jetzt wärmt Angela Merkel da eine alte Idee wieder auf, die Idee eines Europas mehrerer Geschwindigkeiten. Da wurden die polnischen Partner heute ganz hellhörig, denn dann müssten sie ja etwa bei der Flüchtlingsverteilung nicht mehr mitmachen. Würde die Gemeinschaft damit allmählich zu einem Europa, sagen wir, der Rosinenpicker werden?
    Garsztecki: Wir haben faktisch schon ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten, oder, wie die Politologen das nennen, eine variable Geometrie. Wir haben den Euro, wir haben den Schengen-Raum, wir haben unterschiedliche Länder in der Europäischen Union, die ja nicht alle Mitglied in der NATO sind, und das könnte unter Umständen zunehmen und das ist vielleicht sogar zu befürchten, weil gerade in der Flüchtlingsfrage ist ja trotz Beschluss vom September 2015 keine Linie zu erkennen, dass das auch umgesetzt werden könnte.
    Und das ist natürlich auch gelebte Solidarität. Und um das gleich zu sagen: Natürlich könnte Polen 10.000 Flüchtlinge aufnehmen. So arm ist das Land mittlerweile nicht mehr. Es ist das einzige Land in der Europäischen Union, was die letzten 20 Jahre positive Wachstumsraten hatte. Auf der anderen Seite glaube ich nicht, dass man das jetzt nur an dieser Frage festmachen sollte, also der Aufnahme von Flüchtlingen.
    Dobovisek: Aber was könnte Angela Merkel da noch von Warschau erwarten in den nächsten Monaten?
    Garsztecki: Man wird auf diese Flüchtlingsfrage sicherlich zurückkommen müssen. Und was von polnischer Seite jetzt immer gesagt wird, Reform der Europäischen Union, eine stärkere Rolle für die Nationalstaaten, das ist natürlich etwas, was wir auch aus anderen Staaten hören, und vielleicht könnte es gelingen, mit einer flexibleren, gemeinsam mit einzelnen Partnern, unter anderem Polen erarbeiteten Lösung. Wir haben den Vorschlag aus Slowenien gehört, der sehr proeuropäisch war. Vielleicht könnte jetzt ein etwas realistischerer Vorschlag kommen, der die nationalen Parlamente einbindet.
    Das ist ja das, was Polen jetzt vorschlägt. Wir erinnern uns da an die Finanzkrise. Da hatte ja das Bundesverfassungsgericht auch gesagt, dass die Meinung des Bundestages gehört werden müsste. Das wird in Polen natürlich auch gesehen und dann wird argumentiert, dass man nicht mit doppelten Standards messen dürfe. Das heißt, wenn wir schon Parlamente berücksichtigen, dann in allen Mitgliedsländern. Das kann aber natürlich nicht heißen, komplett von der europäischen Integration und von dem Mehrwert, den wir haben, wieder wegzugehen.
    "Sicherheit muss man natürlich europäisch gemeinsam organisieren"
    Dobovisek: Schauen wir uns einen anderen Aspekt zum Schluss noch mal an: die Sicherheit. Polen fühlt sich seit der Ukraine-Krise von Russland bedroht und verlässt sich auf die NATO, vor allem auf die USA und den wichtigen Partner Großbritannien. Mit Trump und dem Brexit gerät Polens Außenpolitik da, sagen wir mal, ins Wanken. Hat Warschau auf die falschen Partner gesetzt?
    Garsztecki: Ja, das würde ich schon definitiv so sagen. Die proamerikanische Rhetorik, zum Teil auch die Naivität, dass man sich Mehrwert aus einer sehr engen Kooperation mit den USA erhofft hatte, ist zum Teil schon sehr verwunderlich gewesen in den letzten Jahren, auch schon von Vorgängerregierungen. Und jetzt bekommt man ein bisschen die Quittung dafür, weil man kann natürlich aus seiner Geographie nicht entfliehen.
    Ich kann mich erinnern, als Polen über das Referendum zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union verhandelt hat, gab es tatsächlich, wenn auch sehr exotische Stimmen, die etwa für einen Beitritt zur NAFTA geworben hatten, also zur amerikanischen Freihandelszone, und das zeigt, wie bizarr bisweilen die Diskussion ist. Das hat was mit der Skepsis gegenüber Deutschland zu tun und ich glaube, die Konservative oder die Rechte in Polen muss das überwinden. Und Sicherheit muss man natürlich europäisch gemeinsam organisieren.
    Dobovisek: Füllt Deutschland da gewissermaßen eine Lücke, wenn es heute anfängt, zum Beispiel eine Meldung von heute, Bundeswehrsoldaten nach Litauen schickt?
    Garsztecki: Ja, das wird in Polen natürlich sehr, sehr positiv wahrgenommen, auch im Baltikum. Ich glaube allerdings nicht, dass man so weit gehen muss, wie das Jaroslaw Kaczynski jüngst in einem Interview für die "FAZ" gemacht hat, dass Europa eine Atommacht werden solle. Wir haben ja Atommächte in der Europäischen Union, momentan noch Großbritannien und Frankreich, dann wohl in Zukunft nur noch Frankreich, aber das kann natürlich nicht der Weg der Europäischen Union sein.
    Ich glaube, Europa muss eine Zivilmacht bleiben, und darüber gibt es natürlich sehr viele Einflussmöglichkeiten auch auf Russland.
    Dobovisek: Stefan Garsztecki, Politikwissenschaftler und Historiker an der Technischen Universität in Chemnitz. Vielen Dank für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.