Mechthild Lanfermann über "Trügerischer Sommer"

Wenn ein Familiengeheimnis zu platzen droht

Mechthild Lanfermann im Deutschlandradio Kultur
Mechthild Lanfermann lässt den 15-jährige Thore in "Trügerischer Sommer" in alten Wunden seiner Familie bohren. © Deutschlandradio / Matthias Horn
Moderation: Frank Meyer · 26.11.2018
Mechthild Lanfermann hat mit "Trügerischer Sommer" erstmals keinen Krimi vorgelegt. Sie habe Abstand nehmen wollen vom festgelegten Schema des Genres, sagt sie. Ganz von der Spannung lassen kann sie aber auch im neuen Roman nicht.
Frank Meyer: Eine Frau, eine Künstlerin namens Barbara lebt in Berlin. Sie wollte eigentlich nie zurück in ihre alte Heimat, in die norddeutsche Provinz. Aber jetzt muss sie doch zurück in die Kleinstadt, weil ihr Vater dort im Sterben liegt. Und als sie zurückkommt, da kommt einiges ins Rollen in ihrer Heimatstadt. Die Autorin Mechthild Lanfermann erzählt von Barbara und ihrer Rückkehr in ihrem Roman "Trügerischer Sommer". Das ist das fünfte Buch, das sie veröffentlicht hat. Vorher gab es vier Kriminalromane von ihr. Mechthild Lanfermann ist auch meine Kollegin hier im Deutschlandfunk Kultur, und da freue ich mich jetzt doppelt, dass Sie hier im Studio sind. Willkommen!
Mechthild Lanfermann: Danke, ich freu mich auch!
Meyer: Ihre Hauptfigur Barbara - ich hab gesagt, Künstlerin. Das stimmt einerseits, aber es stimmt irgendwie auch nicht, denn das mit der Kunst hat in ihrem Leben nicht so richtig funktioniert. Sie kann einfach nicht davon leben, was sie da macht. Auch sonst hat vieles nicht so geklappt, wie sie sich das mal ausgemalt hat, als sie als junge Frau da so mit fliegenden Fahnen nach Berlin kam. Was ist das für eine Person, was für eine Frau, diese Barbara?
Lanfermann: Ich glaube, das ist ein bisschen auch eine Altersfrage, dass manche Dinge eben nicht so funktioniert haben oder nicht so gelaufen sind, wie man sich das vorstellt. Vielleicht auch zwischen 40 und 50 so eine Zeit, wo man merkt, es wird auch nicht mehr alles so klappen. Man muss sich von manchen Dingen verabschieden. Und in diesem Stadium ist sie im Moment. Und das ist dann eine ganz besondere Zeit, wo sie dann zurückgerufen wird in die Kleinstadt, von der sie dachte, da will sie nie wieder hin, und das ist auch ein Leben, das sie nicht führen möchte. Aber dadurch, dass sie einfach auch andere Erfahrungen schon gemacht hat, guckt sie sich das mit anderen Augen an. Ich glaube, das ist so eine Erfahrung, die in meiner Generation einige machen.
Meyer: Mit anderen Augen angucken - wie kommt ihr dann die alte Heimat vor, wenn sie da so neu drauf schaut mit ihren Lebenserfahrungen?
Lanfermann: Sie sieht, dass da viele Sicherheiten sind, die sie selbst nicht hat. Oder auch viele Kontakte da sind, oder man sich nicht dauernd selbst behaupten muss, wie man das hier in der Großstadt vielleicht auch eher machen muss.

"Idylle funktioniert nur, wenn sie bestimmte Dinge ignoriert"

Meyer: Sie hat also ein Netz von Leuten, die sie kennt. Man ist in so einem Netz von alten Geschichten, die man einander erzählen kann. Auch wirtschaftlich geht es ihr besser, als sie zurückkehrt und für einige Wochen tatsächlich wieder arbeitet. Also sie fühlt sich richtig aufgefangen in der Kleinstadt.
Lanfermann: Genau, so ein bisschen. Aber es funktioniert eben nur, indem sie bestimmte Dinge nicht anschaut, unter anderem eben auch ihre Familiengeschichte. Sie denkt so ein bisschen, sie kann zurückkommen und trotzdem neu anfangen. Aber das funktioniert eben auch nicht so richtig.
Meyer: Also ist das Buch auch für Sie jetzt so eine Reflektion darüber, wo man besser leben kann? An dem Ort, den man sich ausgesucht hat fürs Leben, die aufregende Großstadt, oder vielleicht doch die alte Heimat?
Lanfermann: Ein bisschen schon. Ich habe dann auch keine Lösungen. Es ist nicht so, dass ich am Ende sage, da ist es besser oder da ist es besser. Ich habe nur das Gefühl, dass mit den Jahren sich die Blickwinkel verschieben, und das, was wichtig ist, verschiebt sich. Und dann schaut man noch mal neu auf die Gegebenheiten, was ist wo eigentlich. Aber es ist auch nicht so, dass ich sagen würde, da ist das Leben das richtige. Das kann ich nicht sagen.
Meyer: Wenn wir mal reinschauen in Ihren Roman – ein wesentlicher Motor, der die Handlung vorantreibt, die Figuren unter Spannung hält, das ist ein Ereignis, das die Familie von Barbara zerstört hat. Ihr Vater, wie gesagt, liegt im Sterben. Sie hat einen etwas älteren Bruder, und dann gibt es noch einen aus der Familie vertriebenen Bruder, der so aus dem Sichtfeld verschwunden ist. Es gibt eine Mutter, die früh gestorben ist. Und dieses Ereignis, das lauert so im Hintergrund, bricht sich aber doch immer mal wieder Bahn. Sie werden jetzt nicht zu viel verraten wollen, aber vielleicht mal andeuten, was das für ein Ereignis war?
Lanfermann: Es ist ein Familienereignis, das quasi diese Familie gesprengt hat und sie alle ein wenig versehrt zurückgelassen hat. Und wie das, glaube ich, tatsächlich manchmal auch ist in Familien, hat dann jeder so seine Version, was eigentlich damals passiert ist. Gleichzeitig wird vieles verdrängt, und es wird nicht mehr darüber geredet, was, wie ich finde, auch sehr typisch norddeutsch ist, dass man nicht viel redet. Das mag auch in anderen Regionen so sein, da ist es ganz besonders so. Und dadurch hat sich jeder auch so seine eigene Version zurechtgeschneidert.

Ein 15-Jähriger stochert in alten Wunden

Meyer: Und für die Konstruktion des Romans, welche Rolle hat da dieses Ereignis aus der Vergangenheit?
Lanfermann: Ich glaube, die Rolle dieses so oft zitierten Familiengeheimnisses ist, dass man noch mal sehen kann, wie funktionieren diese Figuren überhaupt, wie sind die so beschaffen? Warum sind sie so, wie sie sind, mit all ihren Verletzungen und Versehrtheiten. Und das kann man eben sehr gut an einem konkreten Ereignis festmachen. Natürlich haben wir alle unsere Verletzungen, die besonderen Wege, wie wir geworden sind, wie wir sind. Aber dadurch kann man sehr gut sagen, da ist etwas, was immer noch gärt in diesen Personen, und was sie umschiffen möchten. Darum benehmen sie sich vielleicht komisch, oder sie geben andere Dinge zu, und so weiter. Man kann sehr viel vom Charakter erzählen, auch über die Generationen hinweg, wenn man dann so ein großes Familiengeheimnis hat.
Meyer: Und der Mensch, der dieses Familiengeheimnis, das die anderen immer unterm Teppich halten wollen, dann wieder aufstöbert, das ist ein 15-Jähriger namens Thore. Das ist der Sohn von Barbara, den sie da durchaus gegen seinen Widerstand mitschleppt in die Provinz. Der würde lieber in Berlin bleiben, meistens jedenfalls. Das ist so Ihr Agent, der die falschen Fragen stellt in dem Roman und die Decke wegzieht.
Lanfermann: Genau. Und das ist auch kein Wunder, dass er aus einer neuen Generation kommt, eben einer, der mit diesen alten Geschichten nicht belastet ist. Das ist nicht seine Vergangenheit, das ist auch nicht seine Stadt. Und er kommt da erst mal recht frisch hin, und er hat auch einiges auf dem Kerbholz. Der lässt sich da auch was einfallen, was ihm da gefallen könnte, und bohrt in den alten Wunden und fängt an, nachzufragen und zu suchen, auch diesen verschollenen Bruder, und will wissen, was ist denn eigentlich – es ist ja sein Onkel – was ist denn da eigentlich passiert, dass der so komplett aus der Familie gestrichen wird. Und damit begibt er sich auf eine Reise, die auch gefährlich wird, auch für ihn, auch für Barbara. Viele versuchen, mit aller Kraft ihn davon abzuhalten. Und so kommt dann eben ein Konflikt zustande.

Konzentration auf die Charaktere

Meyer: Er erlebt ja auch einiges, was durchaus auch Spannung mit sich bringt. Und Spannung spielt überhaupt eine Rolle für das Buch, eine wichtige. Jetzt haben Sie vor diesem Buch vier Kriminalromane geschrieben. Da hatten Sie eine Hauptfigur, eine Berliner Radiojournalistin, Emma von der Wehr, die zog sich durch durch alle vier. Warum haben Sie jetzt keinen Kriminalroman schreiben wollen?
Lanfermann: Ich hatte nicht mehr so Lust auf diese recht starke Struktur, die ein Kriminalroman ja doch meistens hat, also dass am Anfang ein Verbrechen ist, dass es dann Kräfte gibt, die versuchen, das aufzulösen, und antagonistische, die das verhindern wollen. Das ist ja eine Struktur, die einen dann doch so ein bisschen festlegt. Und da hatte ich nicht mehr so Lust drauf.
Zum anderen ist ein Kriminalroman doch häufig sehr auf ein Thema festgelegt. Das ist dann sehr viel wichtiger als tatsächlich die Figuren, oder das hält sich vielleicht ein bisschen die Waage. Aber ein Thema ist einfach sehr wichtig. Bei meinen Kriminalromanen ging es dann um die Architekturszene, oder es ging um Coltan-Abbau im Kongo. Es ging um Neonazis in Brandenburg, also so themenorientiert. Und ich hatte dann Lust, eher etwas zu schreiben über die Figuren, wie die sich entwickeln, deren Charakter, wie sich das auch durch die Generationen zieht, wie sich Verletzungen durch Generationen ziehen. Und da fand ich diese Form sinnvoller.
Meyer: Wobei, ein Thema gibt es ja eigentlich auch. Es gibt so eine Nebenhandlung, die auch vieles mit antreibt. Massentierhaltung spielt da wirtschaftlich eine große Rolle dort auf dem flachen Land. Dann kommt ein Arbeiter ums Leben, der in so einer Massentierhaltung eingesetzt war. Es hat offenbar was zu tun mit den Medikamenten, die da an die Tiere verabreicht werden in der Massentierhaltung. Also ein Thema ist schon da, aber Sie haben es hier anders behandelt, als Sie es in einem Krimi behandelt hätten?
Lanfermann: Genau. Ich glaube, so ganz aus meiner Haut konnte ich dann doch nicht. Und die sind natürlich auch nicht im luftleeren Raum. Natürlich gibt es Dinge, die da passieren und auf die reagiert wird. Aber ich fand es schon wichtiger, mir diese Figuren stärker anzuschauen.

Später wieder einen Krimi? "Ich würde nie nie sagen"

Meyer: Sie sind, soweit ich weiß, auch jetzt vom Krimi weggekommen oder auf andere Wege gekommen, weil sie in so einer Truppe von Autorinnen waren und sich unterhalten haben darüber, wie man schreibt. Können Sie ein bisschen erzählen, was das für eine Truppe war?
Lanfermann: Ja. Ich war Stipendiatin in der Bayerischen Akademie der Sprache. Das ist eine vom Literaturhaus München initiierte Gruppe gewesen, die sich darüber ausgetauscht hat – das ging fast zwei Jahre – was Krimi eigentlich auch sein kann, oder was so Randgruppen sind oder im weitesten Sinne Spannungsliteratur auch sein kann. Das war sehr spannend, im wahrsten Sinne, und wir haben dann viel darüber geredet, was das eigentlich bedeutet, mit Spannung zu arbeiten. Und ich finde, das ist ein ganz schönes Element, weil man ja auch, wenn man jemanden kennenlernt, nicht unbedingt gleich erzählt, was man alles für Leichen im Keller hat, sondern man zeigt sich erst mal von der guten Seite, so, wie man sich vielleicht auch selbst sehen möchte. Und dann, nach und nach kommen dann doch so ein paar Sachen zum Vorschein. Deswegen finde ich, so mit Spannung zu schreiben oder nach und nach ein Geheimnis zu erzählen, auch sehr legitim und auch sehr wirklichkeitsnahe. Und darüber haben wir uns sehr viel unterhalten und letztendlich über unsere Texte diskutiert.
Meyer: Und haben Sie jetzt schon, nach der Erfahrung mit diesem Roman, entschieden, ob Krimi für Sie ein abgeschlossenes Kapitel in Ihrer Autorinnen-Vita ist?
Lanfermann: Das weiß ich noch nicht. Ich würde nie nie sagen. Aber ich sitze schon an was Neuem, und auch das ist kein Krimi. Also ich glaube, es geht eher in eine andere Richtung weiter.

Angst vor dem Vorwurf der Nestbeschmutzung

Meyer: Ich würde zum Schluss noch gern wissen, Sie haben Ihr Buch schon vorgestellt in Ihrer alten Heimat – das ist dann ganz konkret Cloppenburg. Wie war das? Wird da dann so ein Roman auch als Schlüsselroman gelesen? Das könnte doch der sein, oder die könnte die sein?
Lanfermann: Es gab so den einen oder anderen Lacher. Es wurden schon welche wiedererkannt, das würde ich schon so sagen. Aber ich habe niemanden da bloßgestellt oder tatsächlich bestimmte Leute so im Kopf gehabt. Sondern es sind, glaube ich, eher Situationen, die viele kennen. Ich hab schon auch ein bisschen Sorge gehabt, wie wird das da aufgenommen. Die anderen Sachen spielten in Berlin, da wird so Verbrechen so hingenommen, dass es das hier gibt. In der Kleinstadt ist es dann eher, na ja, ich hatte Angst, dass mir der Vorwurf der Nestbeschmutzerin dann doch gemacht wird. Das war aber gar nicht so. Auch da gibt es viele Menschen, die zum Beispiel mit der Massentierhaltung nicht konform gehen und es sehr schlimm finden. Und auch die anderen Dinge – auch da ist die Welt weitergegangen. Da gibt es auch einen kritischen Blick auf die Gegebenheiten. War völlig schön. Ich meine, es ist auch immer ein bisschen ein Heimspiel, das ist auch toll dann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Mechthild Lanfermann: Trügerischer Sommer
Verlag btb, München 2018
448 Seiten, 10,00 Euro

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