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Deutsche Einheit
"Wir haben selbstkritisch auf unsere eigene Entwicklung zu schauen"

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sieht noch immer deutliche Unterschiede zwischen Ost und West - etwa in der Wirtschaft. Auch rechtsextremistische Gewalt gebe es im Osten erheblich häufiger, sagte Thierse im DLF. Dafür könne es kein Verständnis geben.

Wolfgang Thierse im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 01.10.2016
    Wolfgang Thierse, ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestags.
    Wolfgang Thierse, ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestags. (imago stock&people)
    Die Differenzen zwischen Ost und West etwa in der Wirtschaft könnten zwar nicht die Gewalt erklären, sehr wohl aber die Stimmungsunterschiede. Um diese zu verstehen, müsse man sich an die Radikalität des Umbruchs nach dem Ende der DDR erinnern. Die Ostdeutschen seien eingesperrt gewesen und hätten den Umgang mit Fremden nicht erlernen können. Zudem seien rechtsextreme Ideologen gezielt nach Ostdeutschland gezogen: "Das ist ja das Verrückte, dass die Ausländerfeindlicheit da besonders hoch ist, wo der Anteil der Ausländer besonders niedrig ist."
    Nach Ansicht Thierses muss Demokratie besser erklärt werden. Dafür brauche es viele engagierte Demokraten. Man müsse immer wieder klarstellen, dass demokratische Politik langsam sei und Kompromisse erfordere. Genau dadurch ermögliche sie aber die Beteiligung der Menschen, betonte Thierse.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Die Einheitsfeiern finden in Dresden statt, und zwei große Themen stehen da natürlich drüber: Das eine ist die Sicherheit angesichts der Bombenattrappen und auch der Anschläge, die es gegeben hat, und das Zweite die Debatte ist die Frage, rechte Gewalt nur im Osten oder auch im Osten und möglicherweise im Westen, was sagt uns das alles zum Stand der Deutschen Einheit heute Morgen. Darüber wollen wir reden mit Wolfgang Thierse, den ich jetzt am Telefon begrüße: Guten Morgen, Herr Thierse!
    Wolfgang Thierse: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Thierse, die rechte Gewalt hindert die wirtschaftliche Entwicklung, das haben wir gestern noch im Bundestag gehört. Ich sag ganz offen, mich stören daran ehrlich gesagt zwei Dinge: Erstens, rechte Gewalt ist immer verabscheuungswürdig, egal, welchen Einfluss das auf die wirtschaftliche Entwicklung hat, und zweitens, kann man nicht auch fragen, die wirtschaftliche Entwicklung im Osten ist ohnehin eher zum Stillstand gekommen oder der Aufholprozess ist gebremst, und ist das nicht vielleicht ein Grund für Enttäuschung – wie sehen Sie das?
    "Rechte Gewalt im Osten vier- bis fünfmal so hoch wie im Westen Deutschlands"
    Thierse: Ja, zunächst muss man sagen, es gibt keinerlei Argument, auch keinerlei Hinweis auf wirtschaftliche und soziale Probleme, die irgendwie Gewalt rechtfertigen, egal ob in Ost oder West. Man ist immer in einer schwierigen Situation, wenn man da etwas zu erklären versucht, was ist in Ostdeutschland los, dass das wie Verständnis klingt. Das darf auf keinen Fall sein. Und wenn man dies geklärt hat, dann kann man darüber reden, dass es natürlich noch Differenzen zwischen West und Ost gibt – die Zahlen sind ja eindeutig, die Produktivität ist noch niedriger, die Einkommen, die Löhne sind niedriger, das Rentenproblem ist ein besonderes. All das erklärt Stimmungsunterschiede, aber es erklärt natürlich nicht die Gewalt, die da gelegentlich explodiert, aber da darf man eben auch nichts beschönigen.
    Bezogen auf die Bevölkerungszahl ist rechtsextremistische Gewalt in Ostdeutschland etwa vier- bis fünfmal so hoch wie im Westen Deutschlands, das sollten auch alle ostdeutschen Ministerpräsidenten zur Kenntnis nehmen und auch viele Journalisten, die das wieder relativieren wollen. Ich sag da als Ostdeutscher, wir haben da selbstkritisch auf unsere eigene Entwicklung zu schauen.
    Rechtsextreme Ideologen seien ausdrücklich nach Ostdeutschland gezogen
    Zurheide: Ich hätte das genau nachgefragt, das haben Sie jetzt schon abgeräumt, herzlichen Dank dafür. Jetzt frage ich, woher kommt das. Also ich erinnere mich an manche Gespräche, die da so lauten: Na ja, die demokratische Kultur ist eben nicht eingeübt – aus historischen Gründen, das ist klar –, reicht das, wenn man darauf verweist?
    Thierse: Nein, also wie gesagt, ich versuche jetzt nicht, Gewalt zu erklären, die ist nicht wirklich zu rechtfertigen, aber wenn ich den Stimmungsunterschied sehe, die AfD-Ergebnisse, Pegida, NPD-Erfolge und vieles andere – um das überhaupt zu begreifen, was da passiert, muss man sich noch mal erinnern an die Radikalität des Umbruchs 1990 und folgende. Das hat bei vielen Menschen tatsächlich zu sozialer Verunsicherung, aber auch zu moralischer und politischer Verunsicherung geführt.
    Der Umstand auch, dass wir in der DDR ja doch eingesperrt waren und den alltäglichen selbstverständlichen Umgang mit den Fremden und dem Fremden nicht erlernen konnten, da haben die Westdeutschen einen erheblichen Vorsprung, dann auch noch der Umstand, dass angesichts dessen, was ich beschrieben habe, rechtsextreme Ideologen ja ausdrücklich nach Ostdeutschland gezogen sind, um sich dort das Feld ihrer Propaganda zu suchen. Das sind unterschiedliche Faktoren, die dazu beigetragen haben, dass die Stimmungslage in Ostdeutschland doch noch mal ein bisschen anders ist als im Westen Deutschlands, gerade in Bezug auf das Thema Umgang mit Ausländern, denn es ist doch das Verrückte, dass die Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland da besonders hoch ist, wo der Anteil der Ausländer besonders niedrig ist.
    Zurheide: Und jetzt kommt, soll jetzt nicht einfach klingen, die CDU in Sachsen mit der CSU gemeinsam und sagt, wir brauchen noch eine neue Debatte über Leitkultur. Wie wirkt das auf Sie, wenn man dann Begrifflichkeiten wie Umvolkung noch im Ohr und im Auge hat?
    "Wo hinein sollen diese Menschen integriert werden?"
    Thierse: Ich bin sehr neugierig, wie die CDU mit ihrer Bundestagsabgeordneten aus Leipzig umgeht, die im Übrigen ja aus Bayern stammt, das muss man auch gelegentlich dazusagen.
    Zurheide: Ja, vielleicht deshalb die Sachsen jetzt gemeinsam mit der CSU.
    Thierse: Ja, da gibt es ohnehin viel Verbrüderung. Dass man über das eigene Selbstverständnis redet, was verbindet uns Deutsche, über ökonomische und soziale Zusammenhänge, wer sind wir eigentlich, das ist eine unausweichliche Diskussion. Gerade wenn so viele Menschen zu uns kommen und wir darüber reden, was heißt eigentlich Integration, dann muss man die Frage stellen, wo hinein sollen sie integriert werden, was sind wir, was bieten wir ihnen dann, wozu laden wir sie ein. Diese Debatte halte ich für sinnvoll, und die kann auch positive Wirkung haben, aber sie darf nicht mit dem Unterton der Ausgrenzung und Abgrenzung stattfinden.
    Zurheide: Aber wie kommen wir da praktisch weiter, Herr Thierse, das würde ich gerne wissen. Was muss da passieren, auch um demokratische Kultur oder Diskurskultur einzuüben – darauf kommt es doch an, oder?
    "Sich auf die Diskussion mit verängstigten, wütenden Leuten einzulassen"
    Thierse: Ja, da sind wir wieder bei einem Problem, das hängt natürlich von dem Engagement der Demokraten ab und nicht zuletzt von ihrer Zahl. Es muss genügend Leute geben, die sich bereit erklären, in der Kommune ein Amt zu übernehmen, die sich bereit erklären, sich auf die Diskussion einzulassen mit verängstigten, verunsicherten, wütenden, empörten, verärgerten Leuten. Das ist nicht leicht, da kann man nicht im Lehnstuhl sitzen und das beobachten, sondern man muss die eigene Haut zu Markte tragen. Das ist schwerer, als mancher sich denkt, der da einen flotten Kommentar schreibt.
    Zurheide: Also was wirkt gegen Populismus am besten, da sind wir ja am Ende.
    Thierse: Immer wieder erklären, dass demokratische Politik ihrer inneren Natur nach langsam ist, es gibt keine Wunder, aber man muss erklären, was man tut, worin die Fortschritte bestehen und dass es Fortschritte gibt und dass es auch im Interesse der Leute ist, dass diese Schritt-für-Schritt-Politik gerade auch in Sachen Integration, in ökonomischer Angleichung, in allen Fragen der Anerkennung auch, der Anerkennung der Ostdeutschen, dass das erklärt und getan wird.
    Die Langsamkeit der Demokratie ermögliche die Beteiligung vieler
    Zurheide: Und der Kompromiss darf nicht verteufelt werden.
    Thierse: Wahrlich. Demokratie ist Kompromiss, keiner kann allein seinen Willen durchsetzen, und er darf es auch nicht und schon gar nicht mit Gewalt, denn die Langsamkeit der Demokratie, die mühselig ist und Geduld erfordert und schweißtreibend ist, sie ermöglicht ja erst, dass möglichst viele sich an ihren Meinungs- und Entscheidungsprozessen beteiligen. Das muss man immer wieder erklären und möglichst viele Leute einladen und sagen, nur wenn ihr selber diese Haltung überwindet, zu Hause zu sitzen, zu schimpfen auf die da oben und zugleich von denen Wunder zu erwarten, und wenn sie nicht eintreten, ist man umso wütender und schreit umso lauter. Wenn wir dies nicht immer wieder neu erklären und möglichst viele Demokraten unterwegs sind und alle Medien sich daran beteiligen, wenn das nicht gelingt, dann werden wir weiter solche Art unanständiger Konflikte haben.
    "Sich nicht das Vergnügen am Glück der deutschen Einheit verderben lassen"
    Zurheide: Welche Erwartungen haben Sie an diesem Wochenende, was wünschten Sie sich?
    Thierse: Ich wünsche mir, dass es ganz friedlich zugeht, dass die Mehrheit der Menschen doch begreift, dass wir Anlass haben zu feiern, denn man soll auch das, was in den letzten 25 Jahren an Positivem passiert ist – in Ostdeutschland und in Deutschland insgesamt – nicht einfach beiseiteschieben, weil man fasziniert auf die, jetzt sag ich mal die Reaktionäre und Gewalttäter blickt. Nicht sich das Vergnügen am Glück der deutschen Einheit verderben lassen!
    Zurheide: Wolfgang Thierse war das mit Einstimmungen auf dieses Wochenende zur deutschen Einheit. Herr Thierse, ich bedanke mich für das Gespräch!
    Thierse: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.