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Deutsche Erinnerungsorte

Woran denkt ein Deutscher, wenn er sich die Geschichte seines Landes vergegenwärtigt? An Bismarck und Goethe, den Reichstag oder Luther, Auschwitz, den Volkswagen, die Bundesliga oder den deutschen Wald? - Personen, Institutionen und Gegenstände von solcher Disparatheit haben die Historiker Etienne Francois und Hagen Schulze unter dem Titel "Deutsche Erinnerungsorte" in drei dicken Bänden versammelt. 120 Autorinnen und Autoren beschreiben dort auf mehr als 2000 Buchseiten historische Topoi aus Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft - von Karl dem Großen bis zu Beethovens Neunter, von der Reformation über Marlene Dietrich bis zum Führerbunker und zum System der Sozialversicherung. Wie, so fragt sich der Leser, definiert sich angesichts dieser thematischen Vielfalt der Begriff des Erinnerungsortes, der all das zusammenhalten soll? - Herausgeber Etienne Francois:

Wolfgang Stenke | 09.05.2002
    Das sind Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und kollektiver Identität. Das kann materielle Orte sein, aber auch immaterielle, das können Städte wie Personen, Bilder oder Begriffe - ein bisschen alles, was man heute unter der Bezeichnung Ikone zusammenfasst - aber die alle eins gemeinsam haben: eine hohe symbolische Dimension, die Fähigkeit, mehrere Assoziationen miteinander zu verbinden, große Gruppen von Menschen anzusprechen und sich über Generationen hinweg zu übertragen.

    Etienne Francois - ein französischer Historiker, der in Berlin und Paris lehrt, und sein deutscher Kollege Hagen Schulze, der in London das German Historical Institute leitet, haben sich einer Herkulesarbeit unterzogen. Nach fünfjähriger Vorbereitung durch Kolloquien und Seminare, in denen das Projekt konzipiert wurde, haben sie aus mehr als 400 Vorschlägen jene 120 Themen herausdestilliert, die dann von einer erlesenen Autorenriege aus Wissenschaft und Publizistik essayistisch abgehandelt wurden. Ein großer Wurf der, das sei vorweg gesagt, freilich auch Einwände provoziert. Aber die beiden Herausgeber gehörten nicht zur Oberliga ihres Faches, wenn sie sich dagegen nicht schon im Vorwort imprägniert hätten:

    Dies ist kein sinnstiftendes oder staatstragendes Projekt. (...) Auch eine nostalgische Rückschau 'im Genre der melancholischen Selbstbetrachtung' ist nicht beabsichtigt. (...) Als moralisierende 'Lehrmeister der Nation' fühlen wir uns genau sowenig.

    Dieser Versuch der Abgrenzung zielt auf den Pariser Meisterdenker Pierre Nora. Sein Projekt über die französischen "lieux de memoire", das in der Ära Mitterrand begonnen wurde, ist das Vorbild der "Deutschen Erinnerungsorte". Nora publizierte eine Sammlung jener "loci memoriae", in denen sich "das Gedächtnis der Nation Frankreich in besonderem Maße kondensiert."

    Nur ist Deutschland nicht Frankreich. Angesichts der Brüche der deutschen Geschichte konnten Francois und Schulze nicht auf einen festgelegten kulturellen Kanon zurückgreifen. - Etienne Francois:

    Hier in Deutschland, wir wissen es, wir haben nicht nur das System des Föderalismus mit dem Wettstreit zwischen der größeren Identität und den regionalen, sondern auch den tiefgreifenden Bruch - und das ist das Wesentliche - der Zivilisationsbruch von '33 bis '45, was jede Form von Kontinuität unmöglich macht. Darüberhinaus kommt noch die Tatsache, dass wir im heutigen Deutschland mindestens zwei sehr stark differierende Gedächtniskulturen haben - die Gedächtniskultur Ost und die Gedächtniskultur West. Und wenn man das alles summiert, dann man sieht man, dass man das Konzept von Pierre Nora, das für ein Land wie Frankreich, zentralistisch, mit einer langen Tradition der Selbstspiegelung in der Kontinuität der eigenen Geschichte, auf Deutschland nicht übertragen kann. Und deswegen haben wir eine ganz andere Form der Gliederung gewählt, eine offene Form, mit diese Brüche, diese Vielfalt der Gedächtniskulturen, diese Offenheit, viel deutlicher in Erscheinung kommt.

    Noras "lieux de memoire" führen die lange Kontinuität von Staat und Nation gewissermaßen bis in die graue Vorzeit zurück - mit deutlichen Akzenten auf Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Nach dieser Lesart hantierte man, überspitzt formuliert, schon in den Steinzeithöhlen von Lascaux mit dem Inventar des Hauses Frankreich. Während bei Nora die Chronologie regiert - "La Republique", "La Nation", "La France" - haben Francois und Schulze sich für ein thematisches Gliederungsprinzip aus 18 Leitbegriffen entschieden. Das sind unter anderem:

    "Reich", "Dichter und Denker", "Erbfeind", "Revolution", "Schuld", "Freiheit, "Disziplin", "Leistung", "Recht", "Bildung" Gemüt", "Romantik", "Identitäten".

    Diesen Themenkreisen werden die einzelnen Topoi zugeordnet. Zum "Reich" gehören dann etwa Karl der Große, Nürnberg und der Führerbunker, zur "Leistung, die Hanse, die D-Mark und die Bundesliga, während der Duden, Albert Einstein und die Berliner Museumsinsel zum Thema "Bildung" rechnen. Auswahl und Einteilung, das räumt Etienne Fancois ein, setzten den Mut zur Lücke voraus:

    Wir haben nur 120 von diesen Knotenpunkten geliefert, mehr konnten wir nicht, vom Umfang her, der Realisierbarkeit des Projekts. Wir haben versucht, ungefähr alle Bereiche anzutippen, aber mehr nicht. D.h., es gibt Lücken, Themen, die wir nicht behandelt haben, entweder, weil wir keine Autoren haben oder weil wir den Eindruck hatten, dass sie schon von anderen abgedeckt sind. Die andere Teilantwort, das ist die große Frage, die wir nicht beantworten können: Wie gehen wir um mit den Gedächtniskulturen der unmittelbaren Gegenwart? Sicher entstehen neue Gedächtniskulturen, die Gedächtniskulturen der Deutsch-Türken oder früher der Deutsch-Italiener, aber das sind noch relativ neue Phänomene, die noch in dem Stadium der Kristallisation sind und nicht diese Form der Selbständigkeit, der Kohärenz haben, die uns erlauben würde zu sagen: Ja, das ist ein richtiger Erinnerungsort mit dem Minimum an Kohärenz und Selbständigkeit, was ihm erlaubt, auch später selbständig zu leben.

    So ist z.B. Kreuzberg - der Berliner Stadtteil, der wie kein anderer Ort das Deutschland der Einwanderer repräsentiert - durch den Raster der Auswahl gefallene Bei anderen Topoi kann man die durchaus arbiträre Zuordnung bekritteln. Marx zum Beispiel wird überaus kenntnisreich von Iring Fetscher abgehandelt - aber eben neben dem "evangelischen Pfarrhaus" und "Oberammergau" im Themenbereich "Glaube und Bekenntnis". Und in anderen Fällen stellt sich die Frage nach der Repräsentativität und der Präsenz der jeweiligen Topoi im Bewusstsein der Zeitgenossen. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft als Keimzelle preußisch deutscher Organisation der Großforschung ist zweifellos von Bedeutung, angemessener aber wäre es gewesen, sie in Zusammenhang mit ihrer Nachfolgeorganisation, der Max-Planck-Gesellschaft, vorzustellen. - Oder: Vom "Reich" ist die Rede, keineswegs aber von der Republik. Bismarck wird gewürdigt, Adenauer jedoch nicht mit einem eigenen Essay bedacht. Ebenso wenig der bundesdeutsche Verfassungspatriotismus oder die pessimistische Kulturkritik wilhelminischer Gelehrter an den westlichen Zivilisationen, die in den militanten "Ideen von 1914" kulminierte. Die Liste fehlender Erinnerungsorte ließe sich ohne weiteres verlängern. Doch funktioniert ein solches Projekt nicht ohne eine gewisse Willkür der Auswahl. - Hinzu kommt ein weiterer Aspekt:

    Uns lag daran, an einigen Beispielen deutlich zu machen, dass die Gedächtniskulturen eben Konstruktionen sind, die auch eine Geschichte haben, einen Verlauf, auf und ab. Und deswegen haben wir einige dieser Erinnerungsorte, die für frühere Generationen oder die für bestimmte Gruppen über eine gewisse Zeit lang wichtig waren, und die heute so gut wie nichts mehr bedeuten oder viel weniger bedeuten. Wir haben z.B. einen Beitrag über Canossa. Canossa - man weiß noch ungefähr den Namen, aber was kann man damit verbinden? Nichts mehr. Aber frühere Generationen, viele Generationen und Millionen von Deutschen, haben in früheren Epochen sehr viel damit verbunden. Das hat bei ihnen sofort sehr hohe Assoziationen und Emotionen wachgerufen. Heute ist das nicht mehr der Fall. Und ich finde, das ist ein interessantes Beispiel um zu sehen, dass das Gedächtnis auch seine Konjunkturen hat - entsteht, manchmal blühen kann und dann zurückgeht. Denn, wir wissen es: Zum Gedächtnis gehört auch das Vergessen.

    Die drei Bände über die deutschen Erinnerungsorte funktionieren nach dem Prinzip der lose verkoppelten Assoziation. Wer zum Beispiel etwas über die (westdeutsche) Republik erfahren will, der ist bestens bedient mit Gerd Roelleckes Essay über das Verfassungsgericht in Karlsruhe, Heinz Budes Anmerkungen zu 1968 und Adam Krzeminskis Darstellung von Willy Brandts Warschauer Kniefall. Dabei ergeben sich Informationsüberschüsse in alle denkbaren Richtungen: So verfolgt Krzeminski das schwierige Verhältnis von Deutschen und Polen zurück bis ins 18. Jahrhundert, selbstverständlich wird dieses Problem für die jüngere Vergangenheit doppeldeutsch durchdekliniert. Und in den besten Beiträgen kommt stets die gesamteuropäische Dimension in den Blick - beispielhaft in Joachim Ehiers' brillantem Aufsatz über Karl den Großen. Nach allen Regeln historiographischen Handwerks werden da die Facetten eines Herrschermythos' bis in die Gegenwart gespiegelt. - Der Berliner Historiker schreibt über "Charlemagne - Karl den Großen":

    Nach den beiden großen Kriegen unseres Jahrhunderts, die Europa verändert, zu großen Teilen zerstört und in seiner Substanz nachhaltig verletzt haben, war die Rückbesinnung auf diesen Vater ein mächtiger therapeutischer Anstoß. Besonders in Deutschland machte man davon gern Gebrauch, um mit den neuen Kleidern einer alten abendländischen Autorität weniger seine Wunden als vielmehr jene Schandflecken zu bedecken, die seit dem großen Exzess nicht verblassen wollen.

    Auch in Frankreich hat die Karls-Tradition eine aktuelle, politisch-pragmatische Bedeutung für den Prozess der europäischen Einigung. Sie geht über bloße Geschichtspropaganda hinaus:

    Die deutsch-französische Achse war nur deshalb als Kern der europäischen Union plausibel und akzeptabel zu machen, weil es nach dem Ende eines von nationalstaatlichen Prioritäten gekennzeichneten Diskurses durch den Appell an gemeinsame karolingische Ursprünge möglich schien, die erwünschten postnationalen Strukturen historisch begründet zu vermitteln.

    Mit der Ost-Erweiterung der Europäischen Union stößt diese Legitimationsfunktion des Karls-Mythos an ihre Grenzen. Der Historiker formuliert daher ein Fazit, das ganz aktuelle politische Befürchtungen spiegelt:

    Es könnte sein, dass ein über den alten lateinischen Raum hinaus unmäßig erweitertes Europa mit seiner Gründerfigur nichts mehr anzufangen weiß.

    Zu solchen Reflexionen über Nutzen und Nachteil der Historie für die Gegenwart laden viele Beiträge dieser drei gewichtigen Bände ein. Wenn dabei die Geschichte Züge einer säkularen Religion annimmt, dann hat zumindest Etienne Francois dagegen nichts einzuwenden:

    Ich kann mir schlecht eine Gesellschaft vorstellen, die nicht irgendetwas wie eine säkulare Religion hat als Bindeglied zwischen den Mitgliedern dieser Gesellschaft, was über die reinen Interessen hinausgeht - Werte - und da sind wir eben bei dem Begriff der säkularen Religion.