Dienstag, 16. April 2024

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Deutsche Flüchtlinge im Dritten Reich
"Sie haben in der Türkei eine neue Heimat gefunden"

Für die türkischstämmige Regisseurin Eren Önsöz ist es ein Reichtum, wenn man mehrere Heimaten hat. Sie hat einen Dokumentarfilm über deutsche Juden gemacht, die 1933 in die Türkei unter Atatürk geflohen waren. Sie kenne selbst das Gefühl, "von der Ferne auf die alte Heimat" zu gucken, die zu einem "großen Sehnsuchtsort" werde, sagte Önsöz im DLF.

Eren Önsöz im Gespräch mit Philine Sauvageot | 07.08.2016
    Vom Wind verwickelte Türkeiflagge im Künstlerviertel Beyoglu
    Die Türkei sei immer mit Politik verbunden, weil sie einfach geostrategisch eine so wichtige Rolle inne habe, so die Regisseurin Eren Önsöz. (dpa / Matthias Tödt)
    Philine Sauvageot: Wir sprechen dieser Tage viel über Türken, die in Deutschland leben – aber eigentlich sprechen wir nie über die Deutschen, die in der Türkei leben. Dabei flohen 1933 etwa 1.000 deutsche Professoren und Künstler jüdischer Abstammung aus dem Dritten Reich in die Türkei. Die deutschen Akademiker wurden zu Heimatlosen und folgten dann dem Ruf von Staatsgründer Kemal Atatürk, der die Intellektuellen für seine Universitätsreform brauchte. Eine wichtige Auswanderungswelle von Deutschland in die Türkei – noch deutlich bevor die Gastarbeiter in den 60er-Jahren zu uns kamen. In den Fremdenpässen der deutschen Flüchtlinge vermerkten die türkischen Behörden damals das Wort "heimatlos". Sie schrieben es nur anders: HAYMATLOZ – mit AY in der Mitte und Z am Ende. Genauso nennt auch die türkischstämmige Regisseurin Eren Önsöz ihren neuen Dokumentarfilm. Ich habe sie gefragt: Wenn jemand heimatlos wird, so wie die deutschen Intellektuellen damals, was genau verliert er dann?
    Eren Önsöz: Ich weiß nicht, ob sie wirklich ihre Heimat verloren haben, sie waren trotzdem überzeugte Deutsche im Ausland, und es ist ja auch oft so, wenn man ins Ausland geht, dass dann die Heimat, die alte Heimat, zu einem großen Sehnsuchtsort wird. Dieses Gefühl ist mir sehr gut bekannt, das kenne ich von meinen Eltern. Ich bin selber als Türkischstämmige in Deutschland aufgewachsen und kenne dieses Gefühl, wenn man eben von der Ferne auf die alte Heimat guckt. Und dieses Gefühl hat auch diese Menschen angetrieben, in der Türkei weiterhin aktiv zu sein, aber auch die alte Heimat Deutschland nicht zu vergessen. Also sie haben in der Türkei eine neue Heimat gefunden, durch den Staatsgründer Atatürk, der gesagt hat, ich brauche wirklich die besten aller Fachgebiete an den Universitäten, die ich reformiere, die von diesem verstaubten religiösen Quatsch befreie, und wirklich einen Neuanfang starte mit den Deutschen, die mit einer total anderen Bildung in das Land kommen, und wir machen Tabula rasa und fangen 1933 neu an, also zu einem Zeitpunkt, als diese Menschen hätten in Konzentrationslagern landen können.
    "Es ist ein Reichtum, wenn man mehrere Heimaten hat"
    Sauvageot: Das heißt, diese Menschen sind eigentlich gar nicht heimatlos gewesen, sondern hatten eigentlich zwei Heimaten.
    Önsöz: Genau. Ich empfinde es eben auch als Reichtum und auch wie Goethe schon immer vom Weltbürgertum geredet hat, ich finde, es ist ein Reichtum, wenn man mehrere Heimaten hat. Sie waren natürlich Deutsche, aber sie haben in der Türkei eine neue Heimat gefunden, und es auch wirklich so weit, dass sie die türkische Staatsangehörigkeit angeboten bekommen haben, angenommen haben. Die Protagonisten, die ich gehabt habe in dem Film, sind teilweise aus Mischehen – dann hat der Deutsche in der Türkei eine neue Partnerin gefunden, eine Türkin – und viele sind sogar auch in der Türkei begraben.
    Sauvageot: Aber reicht es schon für den Heimatbegriff, angstfrei leben zu können, oder heißt es vielmehr, das Land mitzugestalten?
    Önsöz: Das Land mitzugestalten, das ist natürlich für einen Wissenschaftler das größte Glück. Stellen Sie sich vor, 33, diese Wissenschaftler wären sofort in Konzentrationslagern gelandet und wären umgekommen. Stattdessen haben sie nicht nur die Chance gehabt, auszureisen, zu emigrieren, sondern zu schaffen, kreativ zu sein, zu arbeiten, ein Land mitzugestalten, was geprägt ist von der Vision und Utopie des Staatsgründers Atatürk. Und diesen Menschen hat er nicht nur Brot und Asyl gewährt, sondern hat auch sie auf ein Podest erhoben und hat gesagt, mit mir gestaltet ihr dieses Land neu. Und dass diese Geschichte, diese faszinierende deutsch-türkische Geschichte bis heute so unbekannt ist und nicht mal in deutschen Geschichtsbüchern Erwähnung gefunden hat, ist, finde ich, ein Skandal.
    Sauvageot: Wie genau haben diese Heimatlosen also die Türkei mitgeprägt?
    Önsöz: Man muss sich vorstellen, dass wirklich Atatürk aus allen Fachbereichen Deutsche ins Land geholt hat: Medizin, Bauwesen, Architektur, Kunst, Chemie, Botanik, in allen Fachbereichen waren deutsche Wissenschaftler tätig. Wenn man Ankara, die Hauptstadt, die Atatürk neu gegründet hat, besucht, stehen sehr, sehr viele Bauten von Bauhaus-Architekten noch heute, aber der jetzige Premier Erdogan versucht natürlich, dieses laizistische Erbe zunichtezumachen.
    Sauvageot: Haben die Dreharbeiten für den Film dann auch Ihr Verständnis von Heimat verändert oder verstärkt?
    Önsöz: Natürlich, schon bei der Recherche ist mein Stolz für die Türkei sehr gewachsen, weil ich diese Geschichte auch eben noch nicht so gut kannte, und je mehr ich mich in dieses Thema hineinvertieft habe, war ich begeistert von dieser Utopie, von dieser Vision, die wir heute in diesen Staaten, in denen wir leben, überhaupt nicht mehr haben. Die Länder werden regiert von Lobbyisten, aber nicht mehr von Politikern, die eine Vision haben und die wirklich das Beste für ihr Volk wollen. Und deshalb war ich sehr stolz auf die Türkei, dass sie so eine Vergangenheit hat, und dass ich als Frau heute Filme mache als Deutsch-Türkin, das liegt sicher auch in dieser Tradition begründet. Aber ich bin auch sehr, sehr froh, in Deutschland zu leben. Also nach diesen ganzen Unruhen um den Gezi-Park et cetera, die Tränengasangriffe, die vielen Toten und die jetzige Situation auch in der Türkei bin ich wirklich froh, dass ich in Deutschland lebe und auch hier meine Meinung sagen kann.
    Sauvageot: Einer Ihrer Protagonisten spricht ja davon, dass er für die Deutschen der Türke und für die Türken der Deutsche sei, immer zwischen zwei Kulturen eigentlich, zwischen zwei Stühlen, nirgends zu Hause. Teilen Sie dieses Gefühl?
    Önsöz: Nein, ich finde, das ist ein alter Hut, also solche Sachen mag ich schon gar nicht mehr hören. Wir sind alle so was von international, wir fliegen in zwei Stunden rüber in die Türkei. Dieses "ich bin Opfer zwischen zwei Stühlen", also diese Thematik ist für mich wirklich längst vergessen.
    "Das Verbindende zwischen den Kulturen hervorzuheben"
    Sauvageot: Aber diese Frage wird häufig gestellt, woher kommst du denn nun wirklich.
    Önsöz: Ja, aber ich finde, das hat sich in den letzten Jahren sehr, sehr viel geändert. Meine Kinder sind klein, wenn ich in die Kita gehe, da fragt wirklich niemand mehr, wo kommst du wirklich her. Die Namen sind gemischt, die Ehen, die Kinder, die daraus entstanden sind, das war wirklich so ein Gastarbeiterding, mit dem man stigmatisiert wurde. Es waren immer negative Vorurteile, mit denen ich mich als junger Mensch herumschlagen musste, und deshalb ist bei meiner Arbeit so wichtig, das Verbindende zwischen den Kulturen hervorzuheben, und nicht das, was uns trennt.
    Sauvageot: Sie haben gerade von dem Verbindenden zwischen den Kulturen gesprochen, was genau meinen Sie konkret, was verbindet die deutsche und die türkische Kultur?
    Önsöz: Es gab schon zwischen dem Osmanischen Reich und dem Deutschen Reich sehr viele Verbindungen, und gerade dieses Kapitel, womit ich mich jetzt beschäftige, mit dem Dritten Reich, das war ja ein Glücksfall der Geschichte für diese Menschen, dass sie in die Türkei geholt worden sind, und dass sie die moderne demokratische Türkei mit aufgebaut haben, das ist, finde ich, ein Faszinosum.
    Sauvageot: Das heißt, auch moderne Gedanken oder europäische Gedanken verbinden die beiden Kulturen.
    Önsöz: Natürlich. Also das sehen Sie ja eben durch diese Menschen, die Wissenschaftler, die ins Land geholt wurden, in der Architektur, in der Musik, im Ballett, in der Skulptur, in der Kunst – das sind alles deutsche Einflüsse, die sind heute noch da. Die Akademiker an türkischen Einrichtungen erinnern sich alle an die deutschen Professoren. Das war nämlich der Leitgedanke von Atatürk, dass er die Deutschen ins Land holt und eine Generation voll gebildet, dass der deutsche den türkischen Professor ausbildet und dieses Wissen weitergetragen wird – das ist eingetreten.
    Sauvageot: Können Sie sich das erklären, dass es so viele türkischstämmige Bürger hierzulande gibt, die vielleicht auch schon in der vierten Generation türkische Wurzeln haben, die so heimatverbunden sind Richtung Türkei?
    Önsöz: Das kann ich mir sehr gut erklären, eben wenn man in der Gesellschaft, in der man lebt, nicht voll akzeptiert wird und nicht seinen Platz findet. Natürlich sehnt man sich nach seiner alten Heimat zurück, aber auch, wenn das nicht der Fall ist – das war ja bei den deutschen Wissenschaftlern, die waren voll integriert, sagen wir mal so, weil sie beruflich wirklich die höchsten Ehren hatten und in besten Positionen waren, trotzdem haben sie ihre Heimat nicht vergessen. Das ist etwas, was man den Menschen nicht austreiben sollte oder kann. Wenn man diese Heimat auch hat und in die Wiege gelegt bekommen hat, warum soll man die leugnen – also das ist für mich absurd. Ich finde, man kann sehr gut mit diesen beiden Heimaten leben, aber man sollte in der Gesellschaft, in der man lebt, akzeptiert werden und seinen Platz zugewiesen bekommen. Aber das ist halt diese Sache, mit vielen Migranten, wenn sie auch einfach im Beruf nicht weiterkommen et cetera, das sind ja so ganz subtile Mechanismen, zu sagen, du gehörst nicht dazu. Und das war bei den Deutschen natürlich nicht der Fall, die haben in den höchsten Kreisen die verkehrt. Die waren Freunde von Atatürk, von Inönü, die waren wirklich die Mustertürken quasi in dieser Zeit und standen an der Seite des Staatsgründers, das muss man sich mal heute vorstellen.
    "Das ist nicht die Türkei, die Atatürk gegründet hat"
    Sauvageot: Seit dem Putschversuch Mitte Juli sind in der Türkei nach Regierungsangaben 18.000 Menschen festgenommen worden, weil sie Verbindungen zur Gülen-Bewegung haben sollen, außerdem werden die Atatürk'schen Reformen, wie Sie eben schon erwähnt haben, rückgängig gemacht, laizistische Strukturen aufgelöst. Welche Gefühle haben Sie gegenüber dieser Heimat?
    Önsöz: Natürlich in dieser Zeit sehr, sehr zwiespältig, weil das ist ja nicht die Heimat, die wir hatten. Also dieser Mann hat es wirklich in seiner Regierungszeit geschafft, das Land zu zerstören, alles zu privatisieren, den angeblichen Staatsfeinden zu verkaufen. Das war natürlich auch eine Sache, die am Anfang Erdogan hier … sehr positiv wurde er dargestellt in den westlichen Medien, der anatolische Tiger und das Land geht wirtschaftlich bergauf. Schon damals haben alle aufgeklärten, modernen, laizistischen Türken gesagt, da ist genau die Gefahr. Also alles, was das Land erreicht hatte, macht dieser Mann zunichte und rückgängig. Und ja, mit dieser Türkei kann ich mich natürlich nicht identifizieren, aber wir geben auch dieses Land nicht auf, weder für Erdogan noch für Gülen und seine Sekte und seine Millionen Anhänger. Das ist nicht die Türkei, die Atatürk gegründet hat, und wir werden da nicht beigeben.
    Sauvageot: Dann ist Heimat also auch immer mit Politik verbunden.
    Önsöz: Leider, die Türkei ist immer mit Politik verbunden, weil sie einfach geostrategisch eine so wichtige Rolle hatte, hat und haben wird. Die türkischen Verhältnisse werden immer chaotisch bleiben, weil viele Interessen von außen da mit einwirken.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.