Der Roman "An den Mauern des Paradieses"

Rätselraten um den Autor

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Im Vordergrund ist das Cover des Buches "An den Mauern des Paradieses" zu sehen, im Hintergrund eine Aufnahme eines Blicks durch ein Kaleidoskop.
Detektivgeschichte am Persischen Golf: In "An den Mauern des Paradieses" wird nichts geringerem als der Entstehung der Menschheit nachgespürt. © DTV / Imago / CHROMORANGE / Knut Niehus
Von Andi Hörmann · 07.05.2019
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Der Roman "An den Mauern des Paradieses" ist suspekt. Völlig unbekannt ist der Autor Martin Schneitewind, aus dessen Nachlass das Manuskript stammen soll. Doch es gibt einen Verdacht, wer dahinter stecken könnte.
"Was ist der Realitätsanspruch, den Literatur stellt? Weil eines ist klar: Ein Buch ist etwas anderes als Fake News", meint Raoul Schrott.
Zunächst die harten Fakten: 335 Seiten Roman eines völlig unbekannten, noch nie in irgendeiner Form auf der literarischen Bildfläche erschienenen elsässischen Autors, eines gewissen Martin Schneitewind. Im Anhang: 28 Seiten über den angeblichen Autor Schneitewind, verfasst vom Schriftsteller Michael Köhlmeier. Und 14 Seiten editorische Notizen des Übersetzers Raoul Schrott, der auch Bücher, vor allem Prosa und Lyrik, schreibt.

Zum Gespräch im Literaturhaus in München

Die zwei Herausgeber sitzen sich zum Interviewtermin in einem Hinterzimmer im Münchner Literaturhaus gegenüber. Wasserglas hier, Wasserglas dort. Das Mikrofon in der Mitte.
Die Hypothese des Pressevertreters: Vielleicht hat dieser ominöse Martin Schneitewind das Buch gar nicht geschrieben und die ganze Veröffentlichung ist nur ein intelligenter Marketing-Clou der beiden Schriftsteller?
"Primär haben wir es hier mit einem Buch zu tun, das vorliegt. Also, worum geht es in dem Buch: Ist es gut, ist es schlecht, was sagt es uns? Das sind doch die Fragen. Wer der Autor ist … - ja, ehrlich gesagt, muss das sein?" - fragt Raoul Schrott.
"Ja, ich bin da nicht so radikal wie der Raoul, muss ich sagen. Mich hat das immer interessiert, wie der Autor ist. So eine voyeuristische Neugier war bei mir immer da, muss ich sagen", erklärt Michael Köhlmeier.

Geheimnisvolles Manuskript aus einem Nachlass

Die Geschichte hinter dem Buch macht auf jeden Fall neugierig. Also die Vorgeschichte bitte, erzählt von Michael Köhlmeier. Der räuspert sich erst mal - verdächtig!
"Also, 2015 habe ich eine Mail bekommen einer alten Bekannten von mir, mit der ich zusammen studiert habe, in Marburg an der Lahn, in den 1970er Jahren. Und wo wir auch in einer Wohngemeinschaft gewohnt haben. Sie war die Lebensgefährtin eines Mannes, eben von Martin Schneitewind, der damals auch in der Wohngemeinschaft gewohnt hat. Und Martin Schneitewind ist 2009 gestorben und hat ein Buch hinterlassen, also einen Roman geschrieben. Er kannte mich und wusste, dass ich Schriftsteller bin und hätte es gerne gehabt, dass das Buch veröffentlicht wird und hat seine Frau gebeten …"
Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier sitzt bei einer Veranstaltung am 11. Juni 2017 in Köln auf der 5. phil.COLOGNE, das internationale Festival der Philosophie.
Weist eine Autorenschaft an "An den Mauern des Paradieses" zurück: Der Schriftsteller Michael Köhlmeister hat aber ein Nachwort für den Roman geschrieben.© Picture Alliance / dpa / Horst Galuschka
Aber warum sollte man sich dieser Geschichte annehmen?
"Ich habe die ersten paar Seiten gelesen, die ersten 40, 50 Seiten: Mich hat das sehr gefangen", sagt Raoul Schrott.

Eine Detektivgeschichte – und Dystopie

Auf die Anmerkung, dass es natürlich auch ein schöner Kunstgriff wäre, wenn Schrott und Köhlmeier das Buch geschrieben hätten, erwidert letzterer:
"Bitte? Wenn ich den Roman geschrieben hätte? Wie hätte ich es können? Ich habe keine Ahnung. Da hätte ich mich sehr viel reinknien müssen in diese ganze Materie. Es benötigt wahrscheinlich nicht viel Literaturkritik, um festzustellen, dass das in keiner Weise weder mein Stil noch meine Art zu Schreiben wäre."
Zehn Jahre nach dem Tod dieses ominösen Martin Schneitewind liegt es uns nun vor, das Buch "An den Mauern des Paradieses". Es beginnt als kafkaeske Detektivgeschichte, entwickelt sich zu einer archaisch biblischen Dystopie und spürt nichts Geringerem als der Entstehung der Menschheit nach. Eine Kostprobe: "Aus ihren Mäulern stieg glühender Dampf. Ihre gegabelten Zungen spien Feuer."

Leser dürfen über Autorenschaft spekulieren

Altorientalische Quellen der Genesis, arkadische Mythen, der Garten Eden. Ist es ein Zufall, dass genau das auch die großen Themen von Michael Köhlmeier sind, diesem meisterhaften Erzähler antiker Sagenstoffe, biblischer Geschichten und — Märchen?
Und ist es Zufall, dass auch Raoul Schrotts literarisches Opus durchzogen ist von antiken Übersetzungen wie der "Ilias" und des "Gilgamesch-Epos"? Mythenstoffe, die auch in Martin Schneitewinds Romanmosaik "An den Mauern des Paradieses" verhandelt werden.
Raoul Schrott, österreichischer Literaturwissenschaftler, Komparatist und Schriftsteller, blickt in die Kamera.
Übersetzer mit thematischer Nähe: Raoul Schrott ist ein Kenner antiker Mythenstoffe.© Picture Alliance / dpa / Erwin Elsner
In "An den Mauern des Paradieses" heißt es: "Waren sind sich die Verfasser ihres Lügens nicht selber bewusst geworden? Oder gab es für sie eine Art der Fiktion, die jede Wirklichkeit als Wahrheit überstieg?"
Wir als Leser dürfen nun bei der Lektüre dieser scheinbaren Entdeckung von Martin Schneitewinds Romannachlass spekulieren und grübeln — über ewige Fragen nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit: Inwiefern hängen Werk und Autor zusammen? Wo sind in der Literatur die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion? Was wissen wir, woran glauben wir?

Im Mittelpunkt steht das Geschichtenerzählen

"Autoren sind eigentlich nie gute Menschen", sagt Raoul Schrott. Und auf die Frage, ob Autoren vielleicht auch große Schwindler seien, erwidert er:
"Das ist die Frage: Was für eine Art von Schwindel stellt Literatur dar? Dieses Buch demonstriert es eigentlich auf eine sehr gute Art und Weise, indem es in einem Paralleluniversum spielt."
Und letztlich ist es vielleicht auch unerheblich, wer das Buch "An den Mauern des Paradieses" geschrieben hat: Schneitewind, Köhlmeier, Schrott. Die Hintergrundgeschichte wird wie die Geschichte selbst zur Glaubensfrage. Das Wissen ordnet sich dem Willen unter. In Quellenforschung und Exegese steckt auch Storytelling.

Martin Schneitewind: "An den Mauern des Paradieses"
Mit Nachworten von Michael Köhlmeier und Raoul Schrott
Übersetzt aus dem Französischen von Raoul Schrott
DTV, München 2019
395 Seiten, 24 Euro

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