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Deutsche Geschichte
Ein Schultag im Zeichen des DDR-Sozialismus

Geschichtsunterricht muss nicht langweilig sein. An der Adolf-Reichwein-Schule in Neu-Anspach wird er ganz lebendig. In einer Projektarbeit sind Neuntklässler zurück ins Jahr 1989 gereist - in den Schulalltag der DDR. So werden die dunklen Seiten der DDR den Schülern am eigenen Leib bewusst.

Von Dunja Sadaqi | 01.10.2015
    Schulalltag in der DDR - Schüler im Unterricht an der 6. Polytechnischen Oberschule Karl-Friedrich-Schinkel in Berlin
    Schulalltag in der DDR - Schüler im Unterricht an der 6. Polytechnischen Oberschule Karl-Friedrich-Schinkel in Berlin (Imago / Seeliger)
    "Für Frieden und Sozialismus - seid bereit!"
    "Immer bereit", brüllt es vom grünen Rasen des Fußballfeldes der Adolf-Reichwein-Schule in Neu-Anspach im Taunus. Eine Reihe Neuntklässler steht dort in Reih und Glied, in weißen Hemden und mit feierlicher Miene. Um ihre Hälse sind rote und blaue Tücher geknotet: Thälmann-Halstücher - das Erkennungszeichen der Jungpioniere, der Jugendorganisation der ehemaligen DDR.
    Die Schüler wollen den Schulalltag in der DDR wieder aufleben lassen. Schüler und Lehrer versammelten sich vor 1989 nach militärischen Regeln: auf dem Schulhof, in der Turnhalle oder der Aula. Mit Handys werden die einstudierten Szenen gefilmt.
    Die hessischen Schüler - jetzt die Jungpioniere - heben den rechten Arm zum Pioniergruß, halten die flache Hand so über den Kopf, dass der Daumen zum Kopf, der kleine Finger in den Himmel zeigt. Ein Schüler trägt die DDR-Fahne, auf dem Rasen ist ein großes Bild von SED-Generalsekretär Erich Honecker aufgestellt.
    "Junge Pioniere wissen – die sozialistische ist die beste Gesellschaftsordnung für junge Leute in dieser Zeit. Wir danken dem Generalsekretär der SED und dem Staatsratsvorsitzenden der DDR..."
    Auch für die Lehrerin ein Blick in die Vergangenheit
    Annegret Müller, die Lehrerin der Klasse, steht daneben. Sie kann sich das Lachen oft nicht verkneifen. Sie selbst stammt aus der ehemaligen DDR, aus Waltershausen in Thüringen. Bis sie zehn Jahre alt war, existierte der sozialistische deutsche Staat. Durch das Projekt reist sie nun auch in ihre eigene Vergangenheit zurück. Ihre lebhaften Schüler beim Dreh des Fahnenappells zu sehen, lässt bei ihr ein seltsames Gefühl zurück:
    "Bei dem Einmarschieren hat man gemerkt, die Individuen wurden auf einmal zu einer großen Masse. Das hat man schon gesehen, das war erstaunlich und das in zehn Minuten."
    Ihre Kindheit war schön, betont Annegret Müller. Aber sie kann sich auch an Dinge erinnern, die bedrückend waren: an ihren Vater, der wegen "Westbeziehungen" von Veranstaltungen ausgeschlossen wurde, an Stasi-Spione im Bekanntenkreis. Eine Sache ist ihr besonders im Gedächtnis geblieben.
    "In der Schule, da kam alle vier Wochen glaube ich, der Polizist, der für unseren Bereich zuständig war und der hat uns dann gefragt - das war erste oder zweite Klasse - ob wir die Mainzelmännchen kennen. Ich hab natürlich gesagt, dass ich die Mainzelmännchen nicht kenne, da hatten meine Eltern mich wirklich drauf geeicht, weil das war halt das Zeichen dafür, dass wir auch Westfernsehen schauen, da kann ich mich richtig dran erinnern und da gab es dann auch Probleme bei den Kindern, die ja gesagt haben."
    Projekt weckt Interesse der Schüler
    Solche Geschichten sind es, die bei Annegret Müllers Schülern das Interesse geweckt haben. Denn der Schulalltag in der DDR ist weit weg.
    Junge: "Ich interessiere mich für das Fußballspielen, weil ich selbst in meiner Freizeit Fußball spiele ...das ist halt irgendwie komisch von früher, weil man gehört hat, dass der Ball ja anders gewesen sein soll."
    Mädchen: "Das Thema Staatsbürgerkunde ist ja ein Thema, das es heute so nicht mehr gibt und deswegen finden wir es sehr interessant, wie das Thema damals vermittelt wurde."
    Junge: "Wir haben so ein DDR-Schulbuch bekommen. Es ist da interessant zu sehen, wie die damalige Politik Einfluss auf den Inhalt des Erdkundeunterrichts genommen hat."
    Die dunkle Seite der DDR wird den Schülern bei diesem Projekt aber ebenso klar. Zum Beispiel durch Filmmaterial. Solche Geschichten machen betroffen. "Bei der Frage einfach, wenn ich ein Land verlassen will, wieso darf ich das nicht einfach, wieso werde ich da erschossen, da gab es Betroffenheit und dann noch diese Ausgegrenztheit, wenn man also kein Jungpionier war, wie man dann schon gespürt hat, dass man der Feind ist", sagt Annegret Müller.
    Klarheit über die DDR
    Die Erlebnisse haben die Schüler in einer Videoszene verarbeitet. Der Inhalt: Ein DDR-Schüler, der im Staatsbürgerunterricht widerspricht, als es um den Feind USA geht. Er muss zum Schuldirektor:
    "Weißt du, was das für Konsequenzen haben wird? Für dich? Für deine Eltern? Guck mich an! Du willst studieren? Ha! Du wirst immer Probleme haben!"
    Für Marvin Kleinhenz hat die Recherche Klarheit über die DDR gebracht. Der 15-Jährige war zunächst angetan vom Drill der DDR-Schule: "Weil die Schüler damals halt Disziplin erlernt haben, aber auch ein bisschen krass, weil sie hatten ihre Jugend und Kindheit nicht so genießen können. Sie konnten nicht machen, was sie wollten. Jetzt hier in Hessen ist es ja eher so, jeder hat mehr Freiheiten, jeder kann sich kleiden, wie er will und auch seine eigene Meinung mit einbringen. Man ist hier viel freier als damals in der DDR."
    Und was sagt Lehrerin Annegret Müller, die einstige DDR-Schülerin: "Für die politische Bildung bringt's etwas – deshalb mache ich das Ganze, dass die Schüler und Schülerinnen merken, wie es in einer Diktatur zugeht und was es bedeutet in einer Diktatur zu leben. Und solche praktischen Projekte sind mir da mehr wert als Lehrbuchseiten.
    Was sie ihren Schülern nicht mehr vermitteln kann, ist das Ossi-Wessi-Gefühl. Und das sei ganz gut so.
    "Ich glaube, in meiner Generation, da ist man noch getrennt. Meine Klasse - ich glaube, die haben das Problem nicht mehr mit Ost-West, weil sie alle hier sind und egal, ob da jemand aus Pakistan kommt oder der Nächste halt aus Sachsen, das ist alles irgendwie eins."
    So sieht das auch Marvin Kleinhenz. Manchmal erlebe er vor allem ältere Menschen, wie er sagt, die nostalgisch von der Zeit sprechen, in der Ost und Westdeutschland geteilt waren. Für ihn unverständlich.
    "Ich würde den Leuten sagen, dass sie das heute nicht mehr unterscheiden sollen. Denn es gibt doch keinen Unterschied mehr!"