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Deutsche Literaturgeschichte
Welche Schriftsteller finden anderswo Widerhall?

In ihrer kursorisch angelegten "Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur" nimmt sich die Germanistin Sandra Richter die Wechselwirkung von deutschsprachiger Literatur mit der Nationalliteratur anderer Länder vor. Unstimmigkeiten und Fehler sorgten jedoch bei unserer Rezensentin für Irritation.

Von Maike Albath | 28.01.2018
    Buchcover: Sandra Richter: “Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur”
    Sandra Richters "Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur" werde ihrem hochfliegenden Titel nicht gerecht, kritisiert Dlf-Rezensentin Maike Albath. (Cover: C.Bertelsmann Verlag, Foto: dpa / Arno Burgi)
    Es beginnt vielversprechend, nämlich mit einem Monster. Die Germanistin Sandra Richter erzählt, wie Frankensteins furchteinflößende Kreatur in einem Lederkoffer ausgerechnet Goethes Werther aufstöbert und sich zu Gemüte führt. Das Monster versteht den empfindsamen Briefroman des verzweifelt Liebenden zwar nicht ganz, aber ist tief von ihm angerührt. In einer schönen Volte zeigt Richter, wie die Verfasserin des Schauerromans Frankenstein Mary Shelley auf den Werther stieß und ihn dann für ihre Belange einsetzte – nämlich als Hinweis auf die bereitwillige Selbsterziehung des Wesens.
    Mary Shelleys kurioser transkultureller Brückenschlag ist zugleich ein Beleg für das europaweit grassierende Werther-Fieber. Den Filiationen bestimmter Werke nachzugehen, die Umdeutungen und Verknüpfungen mit fremden Stoffen zu beleuchten und die Wirkungsgeschichte deutscher Autoren rund um den Erdball nachzuzeichnen, sind die Ziele der ziegelsteinschweren Literaturgeschichte von Sandra Richter. Die Autorin will Seitenwege jenseits der abgetretenen Pfade der Nationalliteraturen beschreiten. Eine sympathische Haltung für die zukünftige Leiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Den Ansatz ihrer Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur skizziert die Wissenschaftlerin so:
    "Die Frage nach der Wahrnehmung von Literatur außerhalb eines bestimmten Sprach- und Kulturraums scheint paradox: Durch ihre ästhetische Form, ihre Einmaligkeit, ihren Anspruch, Texte und Leser gleich welcher Herkunft anzusprechen, überwindet Literatur die Grenzen ihrer Sprache und Kultur. Literatur ist per se multikulturell, transnational, extraterritorial. Sie betätigt sich als von Raum und Zeit weitgehend unabhängige Seismografin einer sich schnell verändernden Welt. Mit Aristoteles gesprochen: Literatur hebt konkrete Ereignisse und individuelle Gefühle im ästhetisch Allgemeinen auf.
    Zugleich aber entsteht Literatur nicht in einer ästhetischen Eigenwelt, sondern unter bestimmten Voraussetzungen der Produktion: in Freiheit oder unter Zwang, in einem oder mehreren Sprachsystemen, vor dem Hintergrund kultureller Erfahrungen. Literatur trifft auf interessierte Agenten, Verleger, Kritiker, Übersetzer, Leser – oder auf Desinteresse und Ablehnung. Literatur bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen dem eigenständigen Kommunikationsraum Literatur einerseits, konkreten Räumen und Zeitläuften andererseits, seien sie lokal oder global. Das vorliegende Buch will Literatur aus diesem Spannungsfeld heraus begreifen."
    Migrationsrouten von Literatur
    Wie verlaufen also die Migrationsrouten von Literatur und vor allem: Welche Schriftsteller finden anderswo Widerhall? Die Autorin weist schon im Prolog darauf hin, dass ihr Buch nur ein "Flickwerk aus Fallbeispielen", wie sie es nennt, sein könne. Etliche markante Figuren, die man erwarten würde, kommen vor: Lessing, Goethe und Madame de Staël, Heine, Rilke, Kafka, Thomas Mann und Günter Grass.
    Richters Auswahl beschränkt sich nicht auf den Kanon, sondern bezieht das Populäre mit ein, was durchaus erfrischend ist: auch Karl May, Felix Dahn oder Vicki Baum sind mit von der Partie. In zehn großen Kapiteln, die von den ersten Zeugnissen deutschsprachiger Literatur wie Hartmann von Aues Erec von 1180 bis zu aktuellen Romanen von Emine Sevgi Özdamar und Terézia Mora reichen, bietet die Autorin ein riesiges Panorama.
    Sebastian Brants Narrenschiff, 1494 in Basel erschienen, ist ein Beispiel für "deutsche Literatur als heiße Ware", wie die Überschrift schmissig lautet. Aber Sandra Richter erzählt keine lockeren Geschichten, sondern liefert faktengesättigte, informative Ausführungen zur Entstehung des in den ersten 25 Jahren sechzehn Mal aufgelegten und von der Kirche zensierten Werkes, ordnet es ein, skizziert die didaktische Funktion und erläutert schließlich die enorme Verbreitung und die Aneignungen auf Lateinisch und Französisch.
    Einen späten Wiedergänger – und das ist ein interessantes Zeugnis für die Halbwertzeit von Literatur - fand das Narrenschiff 1962 in dem Roman Ship of Fools von Anne Porter. Die Allegorie wurde übernommen, die moralische Lehre, wie sie im Original noch enthalten war, fiel weg.
    Kursorische Darstellungsweise
    Dann nimmt Richter den Faden der Chronologie wieder auf; es geht um Grimmelshausen und die literarische Produktion der Siedler in den USA, die ihr Umfeld mit religiösen Schriften zu missionieren versuchten, dann um Lessing und die Rezeption seines Nathan. Madame de Staël, der großen Vermittlerin der deutschen Literatur in Frankreich, ist ein knapp vierseitiges Unterkapitel gewidmet. Ausgerechnet Goethe habe de Staël nur gefallen, wenn dieser bereits eine Flasche Champagner intus gehabt habe, weiß Richter zu berichten.
    "Goethe aber bemühte sich mit und ohne Alkohol um den Gast. Er schrieb Madame de Staël durchaus charmant und mehrfach. In diesen Briefen stellt er sich als Einsiedler dar, freut sich, dass sie sich für seine "kleinen Sachen" interessiert, grüßt de Staëls Lebensgefährten Benjamin Constant, ermuntert sie, mit dem taciteischen Klischee spielend, möglichst bald "Ihre Bemerkungen über uns ehrliche Deutsche" zu veröffentlichen. Literarisch aber vertraute de Staël dem Urteil ihrer Berater und Freunde: Wilhelm von Humboldt war Hauslehrer der Kinder de Staëls. August Wilhelm von Schlegel, bekannt als Kritiker allzu klassizistischer Antike-Imitation, stand ihr dreizehn Jahre lang zur Seite und folgte ihr als Hauslehrer in die Schweiz. Er machte aus den kulturgebundenen, lokalen deutschsprachigen Romantikern europäische Phänomene."
    Hier unterläuft Sandra Richter ein gravierender Fehler, denn Wilhelm von Humboldt war im Unterschied zu Schlegel mitnichten der Hauslehrer der de Staël und in keiner Weise von ihr abhängig, sondern ein prominenter Gast ihres Salons. Er begeisterte sich 1798 in Paris für die spritzige Intellektualität der Französin; sie wurde neben Schiller sogar seine wichtigste Bezugsperson. Madame de Staëls Champagner-Bemerkung über Goethe, die Richter zitiert, ist natürlich lustig und passt zu unseren Vorstellungen einer Pariserin, aber sie führt in die falsche Richtung. Goethe mag sich 1804 aus strategischen Überlegungen um de Staël bemüht haben, tatsächlich jedoch, und dafür gibt es viele Zeugnisse, fürchteten er und Schiller nichts mehr als den Redefluss der Besucherin und mieden sie, so oft es nur ging.
    Sandra Richter liefert im Folgenden eine knappe Skizze des geistesgeschichtlichen Umfelds. Gerade in dieser Passage zeigt sich aber ein Grundproblem ihrer kursorischen Darstellungsweise. Hier wäre eine Vertiefung angebracht gewesen, denn an de Staël und der Freundschaft zu Wilhelm von Humboldt lässt sich der Kulturtransfer, wie Jürgen Trabant kürzlich zeigte, besonders gut fassen. Beide waren frühe Ethnologen ihrer Länder und bemühten sich, diese zu charakterisieren.
    Mit De l’Allemagne hat Madame de Staël eines der wichtigsten Bücher der europäischen Kultur überhaupt geschrieben, es ist außerdem das Gründungsdokument der vergleichenden Literaturforschung. Es sei "wegen der französischen Zensur im Jahr 1813" auf Englisch erschienen, schreibt Richter, aber tatsächlich war es viel dramatischer, denn Napoleon ließ 1810 zehntausend bereits gedruckte Exemplare wieder einstampfen. Dass die zuvor ohnehin exilierte Madame de Staël die deutschen Länder freundlich betrachtete, war für Napoleon Verrat, die Verfasserin musste Frankreich erneut innerhalb einer Woche verlassen. Die Polizei überwachte die Makulatur in den Druckereien, und der Polizeipräsident bemerkte, man sei noch nicht so tief gesunken, um Modelle bei anderen Völkern suchen zu müssen.
    Dass genau dies der Stein des Anstoßes war, wäre doch für eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur erhellend gewesen. Madame de Staël war nach Tacitus schließlich die erste, die überhaupt versuchte, diese merkwürdigen Deutschen, die keine Nation bildeten, zu beschreiben – und dies auch noch mit Sympathie! Richters Deutung von De l’Allemagne greift zu kurz, denn es handelt sich um ein Buch für die Franzosen, denen sie empfiehlt, durchaus etwas deutscher zu werden. Den Deutschen erteilt sie Ratschläge, wie sie es zu einer Nation bringen könnten.
    Allzu summarisch und eklektizistisch
    Ausführlich widmet sich Sandra Richter dann Goethes Werther, der in ganze Europa Furore machte. Im Norden zog man ihn zur Herzensbildung des starken Geschlechts heran.
    "In England jedoch musste man Sensibilität erst lernen. Mary Shelleys Monster aus Frankenstein; or, the Modern Prometheus (1818) steht als beinahe schon parodistisches Pars pro Toto für die Kreatur, die ihr Gefühl noch entwickeln muss. Werther hingegen galt als vorbildlich sensibilisierter Mann. Alle anderen Männer versagten emotional im Vergleich mit Goethes Helden. Schon Jane Austen und ihre Zeitgenossinnen sahen in Rousseaus Émile und im Werther Lehrbücher für die Sozialisation des Gefühls, und Shelleys Mutter, die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, hatte Werther ähnlich verstanden, der Legende nach gerade an dem Tag, als ihre Tochter geboren wurde. Zwar interessierten sich englische Autorinnen in erster Linie für Charlotte und stellten diese in ihren Adaptionen als sensible Heldin, Kokotte, Femme fatale und Vampirin, als reine und vernünftige Liebende dar, aber auch der effiminierte Held Werther erhielt Aufmerksamkeit."
    Richters tour d’horizon geht weiter, und man kann etliche Entdeckungen machen. Die Autorin zeigt zum Beispiel, wie aus dem dunklen, viel diskutierten Werk Rainer Maria Rilkes ein regelrechter "Rilke-Code" wurde, dessen sich Thomas Pynchon in seinem Roman von 1973 "Die Enden der Parabel" besonders elegant bedient. Auch das Vicki-Baum-Kapitel ist unterhaltsam.
    Nach dreihundert Seiten Lektüre stellt sich dann aber doch die Frage, ob die klassische Form der Literaturgeschichte nicht vieles für sich hat. Allzu summarisch und eklektizistisch wirkt Richter an manchen Stellen. Natürlich will sie nicht mit den Standard-Literaturgeschichten von C.H. Beck in zwölf Bänden konkurrieren, sondern diese besten Falls ergänzen. Ungewohnte Wege hatten vor ihr aber auch schon andere Literaturwissenschaftler beschritten:
    Es gibt die glänzende Neue Geschichte der deutschen Literatur von David Wellbery und Hans Ulrich Gumbrecht von 2007 mit Essays von Fachleuten zu besonderen Ereignissen. Ähnlich verfuhr auch ein Mammut-Projekt aus Italien von 2012: ein großartiger dreitausendseitiger Atlas von Gabriele Pedullà und Sergio Luzzato, der genau wie Richter die Produktionsbedingungen, geographischen Voraussetzungen und Verbreitung von Literatur miteinbezieht. An beiden Unternehmungen waren viele Autoren beteiligt – während Richter ganze Jahrhunderte allein bewältigt, was ein Risiko ist.
    Richter verkennt die biographischen Fakten zu Celan
    In Sandra Richters letztem Großkapitel über kulturell mehrfach verankerte Autoren der Gegenwart findet man ausführliche Erläuterungen zu Feridun Zaimoglu, Ilja Trojanow, Yoko Tawada, Herta Müller und Terézia Mora. Man vermisst Peter Handke, der für Frankreich und Italien entscheidend war und auf den sich dort ganze Generationen von Schriftstellern berufen. Auch die auf Französisch und Deutsch schreibende Anne Weber fehlt, die zudem in beide Richtungen übersetzt und ein Paradebeispiel für die Präsenz deutscher Literatur in einem anderen Sprachraum ist.
    Nun gut, Richter hatte schließlich betont, nur eine Auswahl vorlegen zu wollen. Was man der Verfasserin allerdings weniger verzeiht, sind weitere Fehler und Unstimmigkeiten. Dass sie Humboldt zum Hauslehrer degradiert und aus Hermann Hesse einen Indienreisenden macht, obwohl er nur in Indonesien und Ceylon war, nimmt man noch hin. Aber in dem an sich interessanten Kapitel über Celan und seine Ehefrau Gisèle Lestrange fällt Etliches ins Auge.
    "Celan wuchs als Paul Ancel in dem per se mehrsprachigen Gebiet der Bukowina auf, hatte während des Krieges in Tour Medizin studiert, war 1938 nach Berlin gereist, wo er die Reichskristallnacht mit ansehen musste, und war durch ein Lektorat an die École normale supérieure nach Paris gekommen."
    Hier verkennt Richter die biographischen Fakten, die für Celans literarische Entwicklung aber entscheidend waren. Paul Celan stieg 1938 lediglich am Anhalter Bahnhof in Berlin um und sah die Novemberpogrome keineswegs mit an. 1948 kam er als vollkommen mittelloser Dichter nach Paris und schlug sich jahrelang mit Gelegenheitsarbeiten durch. Lektor an der École normale wurde er erst im Herbst 1959.
    Wenige Zeilen weiter skizziert Sandra Richter Celans Arbeit als Übersetzer. Er habe schon früh Mandelstam ins Rumänische übersetzt, was er aber nie tat, und sich dabei, wie Richter behauptet, "eng am Original" orientiert. Celans Mandelstam-Übertragungen ins Deutsche sind aber gerade berühmt dafür, dass sie wie Celan-Gedichte wirken. Richter geht in ihrem Kapitel der Bedeutung des Französischen für Celan nach, zieht private Selbstübersetzungen für seine Ehefrau heran und schildert den kreativen Prozess, in den das Paar eintrat. Diesen Überlegungen kann man einiges abgewinnen, aber sie werden durch eilfertige Behauptungen verdorben.
    "Grund für Celans Sensibilität angesichts von Publikumsreaktionen waren Enttäuschungen. Sie gehen zum einen auf seine Lesung der Todesfuge bei der 1952er-Tagung der Gruppe 47 zurück. Hans Werner Richter hatte Celans Lesung als pathetisch und unzeitgemäß wahrgenommen – mit dem Ergebnis, dass Celan die Todesfuge nicht mehr laut vortragen wollte."
    Wieder verkürzt die Autorin die Gemengelage. Nicht Hans Werner Richters Kritik war für den Verzicht entscheidend gewesen, sondern die Tatsache, dass man in Deutschland die Todesfuge, die vom Leiden der Juden in den Konzentrationslagern handelt, positiv vereinnahmte und sich dadurch von der Schuld zu befreien versuchte. Auch die Einordnung der kulturellen Prägungen Celans ist nicht nachvollziehbar.
    "Celan zählt zu den wenigen mehrsprachigen Lyrikern, die ihre eigenen Texte vor allem auf Deutsch verfassten. In seinem Fall war die Entscheidung für die deutsche Sprache rigoroser als bei anderen, bei Rilke etwa, der auch in anderen Sprachen dichtete. In Anbetracht von Celans bikultureller Herkunft und seinem Leben in einer dritten, nämlich der französischen Kultur, erstaunt diese Entscheidung besonders."
    Aber diese Entscheidung erstaunt gerade nicht, sondern ist der Kern seiner Poetik: Er schrieb bewusst auf Deutsch, in der Sprache seiner ermordeten Mutter. Ob man bei Celan von einer "bikulturellen Herkunft" sprechen kann, ist fragwürdig. Seine Sprache war Deutsch, und er war Jude, in Czernowitz eine selbstverständliche Einheit. Rumänisch war lediglich die ungeliebte Amtssprache. Die vielen Ungenauigkeiten irritieren. Das gilt auch für andere Passagen.
    Darstellung Bölls: Arg verkürzt und boulevardesk
    "Im Ausgang aus den kritischen Debatten über Nachkriegsdeutschland entpuppte sich ein deutschsprachiger Autor als internationale Kultfigur: Heinrich Böll, der linke Autor mit Baskenmütze, erhielt im Jahr 1972 den Nobelpreis. Das Werk des 1917 Geborenen zählte zur Trümmer- und Heimkehrerliteratur. Wie Wolfgang Borchert, so hatte auch Böll im Krieg als Soldat gedient, war physisch und psychisch verletzt zurückgekehrt. Schon mit der Zeitschrift Der Ruf (1946-1949) schrieben Böll und Borchert bundesrepublikanische Literaturgeschichte, politisch links, moralisch humanitär."
    Die Charakterisierung Bölls als "linker Autor mit Baskenmütze" wirkt arg verkürzt und boulevardesk, aber das mag eine Geschmacksfrage sein. Zu beanstanden sind wiederum Nachlässigkeiten: Die Zeitschrift "Der Ruf" war in der Zeit von August 1946 bis April 1947 durch die Herausgeberschaft von Hans Werner Richter und Alfred Andersch berühmt geworden, und Böll hat in dieser Phase dort nicht veröffentlicht. Das Nachfolgeprodukt mit demselben Namen, wo drei Texte von ihm erschienen, war unbedeutend.
    Bölls erste Publikation überhaupt war am 3. Mai 1947 im Rheinischen Merkur. Bis zu seinem Auftritt bei der Gruppe 47 1951 blieb er aber komplett unbekannt. Eine Seite später heißt es, Böll habe sich 1968 "zugunsten der SPD positioniert" – auch das ist ein krasses Fehlurteil, denn nichts war Heinrich Böll verhasster als die SPD, nicht zuletzt wegen der Notstandsgesetze. An anderer Stelle überspitzt Sandra Richter auf ärgerliche Weise und gefällt sich in einem provozierenden Gestus. Ihr Kapitel über Günter Grass beginnt mit folgenden Worten:
    "Günter Grass hingegen war ein problematischer Fall. Geboren in Danzig, kannte er sich mit dem Völker-, Kulturen- und Sprachengemisch Ostmitteleuropas aus, gehörte aber dennoch der Waffen-SS an. Er ließ sich umerziehen, schockierte und begeisterte die Welt, indem er auf ihre blinden Flecken hinwies. Nicht nur ästhetisch reizvolle Darstellungen, sondern auch ideologische Provokationen brachten Grass immer wieder in die Schlagzeilen – weltweit."
    Geht es der Autorin hier um Polemik? Grass war fünfzehn Jahre alt, als er sich freiwillig zur Wehrmacht meldete und siebzehn, als er zur Waffen-SS eingezogen wurde. Er wusste kaum, worauf er sich einließ. Den biographischen Bruch teilte er mit seiner Generation. "Umerziehen" ließ er sich ebenfalls nicht. Es waren Begegnungen mit alten Sozialdemokraten bei der Arbeit in einem Bergwerk direkt nach dem Krieg, die ihn nachhaltig prägten.
    Man kann durchaus kritisieren, dass Günter Grass in der Bundesrepublik als strenger Moralist auftrat, seine eigenen Verstrickungen verschwieg und sich erst gegen Ende seines Lebens für Offenheit entschied. Hier wäre eine ausführlichere Darstellung von Nöten gewesen. Überzeugender, wenn auch streitbar, sind dann wieder 25 griffige Thesen am Schluss des Buches. Sandra Richter setzt mit ihrer Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur durchaus Akzente. Ihrem hochfliegenden Titel wird sie aber nicht gerecht.
    Sandra Richter: "Eine Weltgeschichte der deutschen Literatur"
    C. Bertelsmann, München 2017, 728 Seiten, 36 Euro