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Deutsche Oper am Rhein
Martin Schläpfers neuer Ballettabend b.22

Von Nicole Strecker | 25.01.2015
    Der Mond am Himmel vom Bühnenbildner Keso Dekker sieht gar nicht gut aus: Er weist einen schwarzen Fleck in der Mitte auf, als hätten ihn Fäulnis und Verderben befallen. Und auch in den Tänzern keimt Unheil. Sie krampfen, krümmen, winden die Leiber, schauen so schreckgeweitet als spürten sie die eigene Verwesung. Auf Tanzbühnen wird ja gern schon mal die Vergänglichkeit angemahnt - so nun auch in Schläpfers neuem Stück "verwundert seyn - zu sehn". Der Titel zitiert einen späten Arthur Schopenhauer, der in Aphorismen nicht mehr nur metaphysisch rumgrantelt, sondern gar lebensratgeberisch aufmuntert die Gegenwart trotz aller Widrigkeiten gut zu heißen.
    Es gibt nun erstmals für den Düsseldorf/Duisburger Ballettdirektor eine männliche Hauptfigur, die so etwas wie eine Entwicklung durchmacht: Solist Marcos Menha. Mit dem Kollegen Chidozie Nzerem liefert Menha sich zunächst einen erotischen Kampftanz, dass man sich schon in einem Brokeback-Mountain-Ballett über eine schwierige sexuelle Identitätsfindung wähnen könnte. Dann durchtanzt er diverse Gefühlszustände, bis er am Ende mit Camille Andriot einer Frau begegnet, die den eigenen Leib so heilpraktisch-konzentriert betastet als wäre es ein Fremder - und als gäbe es nur letztlich nur eine Wahrheit: die des Körpers.
    Menha ist ein technisch fantastischer Tänzer, raumgreifend und trotz langer Gliedmaßen schnell und vogelleicht. Aber er ist zu wenig Schauspieler für ein männliches Befindlichkeitsballett. Differenzierte Charakternuancen entwickelt er nicht - was auch ein Problem des Stückes selbst sein kann. Denn fast wirkt es, als habe sich Schläpfer nicht entscheiden können, wie ernstzunehmen oder albern er das Psychodrama findet, und vor allem die mehr oder weniger esoterischen Lösungen, die ihm seine musikalisch-philosophischen Vorlagen bieten.
    Choreografische Endorphin-Ausstöße
    Neben dem buddhismus-begeisterten Schopenhauer ist das auch der theosophische Mystizismus von Komponist Alexander Skrjabin, zu dessen Klaviersonaten Nummer sechs und zehn Martin Schläpfer choreografiert hat. Pianist Denys Proshayev spielt live als ginge es um ein behutsames Vortasten in einen fremden Kosmos. Und skeptisch-distanziert bleibt man auch als Zuschauer bei Schläpfers düsterer Dämonenbefragung - trotz Mut zu Sex und Sinnlichkeit und choreografischer Endorphin-Ausstöße in den Soloauftritten.
    Immerhin kann man sich sicher sein: Das Ballett wird wie alle Schläpfer-Stücke noch reifen, von so etwas wie "Werktreue" hält der Tanzchef nichts, weder bei den eigenen noch bei fremden Stücken. Dabei beweist das Ballett am Rhein immer wieder Geschmackssicherheit bei der Auswahl historischer Preziosen. Wie in Teil zwei des Abends: "Moves" von Jerome Robbins aus dem Jahr 1959 - ein großartiges Ballett ohne Musikbegleitung. Scheinbar ein formales Experiment und doch angereichert mit psychologischen Anekdoten.
    Robbins Stück wirkt wie ein ironisches Interludium zwischen den zwei Schläpfer-Stücken, der Uraufführung und schließlich dem absolut sehenswerten Abschluss-Stück "Ein Wald, ein See". Auch hier taucht schon der Titel metaphorisch ins Unbewusste, er funktioniert aber auch wie ein Meditationsbild, ein Ideal von Gelassenheit, nach dem die Tänzer streben - und an dem sie scheitern. Schläpfer choreografiert mitreißende Wutausbrüche und konzentrierten Stillstand, und umrundet zur aufregend vielseitigen Komposition von Paul Pavey den Globus. Er rottet die Kompanie wie für indischen Kathak zusammen, lässt die zum Lotussitz verschränkten Beine heftig zittern, stellt verführerische Tempeltänzerinnen auf Spitzenschuhe und schickt die Tänzer schließlich als greisenhaft gebeugte Jogger über die Bühne als wär's ein artifizieller Zen-Garten. Hier glückt anders als beim Auftaktstück "verwundert seyn - zu sehn" die west-östliche Denk-Fusion - als kraftvolle Collage von Chaos und Kontemplation.