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Deutsche TV-Avantgarde

In den 60er- und 70er-Jahren gab es eine Ferneh-Ära, in der Hochkultur-Programm und experimentelle Formate keine Seltenheit waren. Regisseure, Dramatiker und Komponisten hofften dem neuen Massenmedium mit Kunst beizukommen. Im Deutschen Kinemathek in Berlin kann man jetzt einen Querschnitt der experimentierfreudigsten Zeit des deutschen Fernsehens sehen.

Von Martin Hamdorf | 19.05.2011
    Eine steinalte Dame, weiß, fast mumienhaft geschminkt, sitzt am Klavier, dann sieht man noch die Hände, den Schädel und die Füße, die die Pedale treten, als Röntgenaufnahme. Der Komponist Mauricio Kagel produzierte das experimentierfreudige Musikstück LUDWIG VAN in Schwarz-Weiß-Bildern 1970 für den WDR. Für die eigenwillige Hommage Kagels an den Komponisten wurden die Räume im Beethoven-Haus unter anderem von Joseph Beuys ausgestaltet. Der experimentellen Aufarbeitung der "Klassischen und neuen Musik" im Fernsehen ist eine der sieben Stationen der Ausstellung gewidmet.

    Das neue Massenmedium wurde von Kunst und Kritik zunächst skeptisch betrachtet, galt es doch vielen als manipulierende Meinungsmaschine. Erst Ende der 1960er Jahre entdeckten Künstler ganz unterschiedlicher Ausrichtungen das Fernsehen für ihre Zwecke, erzählt Gerlinde Waz, die Kuratorin der Ausstellung. Die Bandbreite der Exponate reicht von der klassischen Musik, dem Theater, bis hin zu Pop-Art und Werbung:

    "Ich habe mir angeguckt, welche Regisseure haben versucht, was Neues zu machen, eine andere Erzählform zu finden, oder auch eine andere Ästhetik im Fernsehen zu finden, die sich weg bewegt von den bis dahin herkömmlichen Fernsehformaten und auch vor allem von der Fernsehästhetik."

    In Zeiten großer politischer Diskussionen und Konfrontationen in der Bundesrepublik Ende der 1960er Jahre suchte auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen nach risikoreicheren Stoffen, etwa in der Zusammenarbeit mit Theaterregisseur Peter Zadek:

    "Regimentsbefehl CX 143 BY 341 betrifft Gaaasmasken, Gaaasmasken. Sind so zu tragen, dass sie zweieinhalb Grad von der Gelenkpfanne des linken Schulterblattes und zweidreiviertel Grad von der Pfanne des linken Schulterblattes abstehen und dem gemäß am unteren Ende des zwischen sich und dem zweiten Knopf des Uniformrockes einen freien Raum von."Arschloch! Lausiger Sandkastenstratege!" "Rührt Euch!"

    "Der Pott" von 1971, ein groteskes Stück um Fußball und Krieg. Der Theaterautor Tankred Dorst hatte die irische Tragikomödie "Der Preispokal" des irischen Dramatikers Sean O'Casey aus dem Jahre 1929 völlig umgeschrieben und für das Fernsehen inszenierte Peter Zadek das Stück in einen Reigen skurriler und schriller Szenen mittels spezifischer Fernsehtechniken, wie dem Blue-Screen Verfahren. Bereits 1969 hatte Zadek Tankred Dorsts Theaterstück "Rotmord" über die bayrische Räterepublik von 1919 für das Fernsehen als Dokumentarstück inszeniert und dabei neben Studioszenen auch Interviews mit überlebenden Zeitzeugen und Archivmaterial verwendet, erzählt Tankred Dorst zur Eröffnung der Ausstellung:

    "Das war bei Rotmord so ganz stark und der Film ist mal aggressiv und polemisch und zwar in den Bildern, nicht so sehr im Text, das ist der Text von dem Stück, aber die Bilder wecken auch, und das war auch die Absicht die Bilder selber waren aggressiv."

    Dabei war die Zusammenarbeit der experimentellen Filmemacher mit den öffentlich rechtlichen Programmplanern nicht immer ein kreatives Idyll, manches Experiment wurde nach der ersten oder zweiten Sendung abgesetzt. Das Experiment im Leitmedium Fernsehen war die Ausnahme, so der Leiter der Stiftung deutsche Kinemathek Rainer Rother, sie hatte aber ihren festen Platz im konkurrenzlosen öffentlich rechtlichen Rundfunk:
    "Was für dieses experimentelle Fernsehen der 60er- und 70er-Jahre auffallend ist, ist nicht allein der politische Anspruch der in einigen dieser Sendungen auch ist, sondern ist vor allem der Wunsch den Zuschauer auch aufzurütteln, zu verstören, zu irritieren, ihm etwas anderes als die übliche Kost zu geben. Es ist ein Versuch, den Zuschauer wach zu halten."

    In zahlreichen Filmausschnitten und Dokumenten präsentiert bringt die Ausstellung ein relativ unbekanntes Stück Fernsehgeschichte zurück. Sie führt in, Freiräume des öffentlich rechtlichen Rundfunks, aus einer Zeit mit Sendeschluss und ohne private Konkurrenz in der die Einschaltquoten noch nicht das Maß aller Dinge war.