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Deutsche Wirtschaft
"Koalitionsvertrag fällt aus der Zeit"

Es müsse Schluss sein mit der sklavenhaften Umsetzung des Koalitionsvertrages, sagte Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, im DLF. Er forderte mehr Investitionen sowie mehr Integration und kritisierte das Rentenpaket und den Mindestlohn.

Martin Wansleben im Gespräch mit Dirk Müller | 29.12.2014
    Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK)
    Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) Martin Wansleben fordert mehr Investitionen. (dpa picture alliance / Tim Brakemeier)
    Die Konjunkturaussichten und Krisenverläufe seien andere als es 2013 vorhersehbar gewesen sei. Deswegen müsse sich die schwarz-rote Bundesregierung von der strengen Umsetzung des Koalitionsvertrages trennen. Er kritisierte insbesondere den Mindestlohn und das Rentenpaket.
    Eine schwarze Null könne sich Deutschland leisten, so Wansleben. Doch das Vermeiden von neuen Schulden bringe nichts, wenn das Geld ansonsten verpulvert würde, wie im Rahmen der Mütterrente.
    Die Maut sei ein "europaplitisches Unding". Man hätte mit seinen Nachbarn über eine gemeinsame Maut sprechen können. Zudem zeigte sich der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages davon überzeugt, dass die nächste Regierung eine Erhöhung der Abgabe nicht auslassen werde.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: 2014. Die Große Koalition feiert sich zum Abschluss des Jahres selbst, noch vor gut zwei Wochen so gemacht und getan im Bundestag. Ein Bravo auf die schwarze Null, auf die Frauenquote, auf die Maut. Das geht ja vielleicht noch, aber dann: die Rente mit 63, die Mütterrente, der Mindestlohn, die Energiewende, die Mietpreisbremse. Milliarden über Milliarden an zusätzlichen Ausgaben und Belastungen sowie langfristigen Versprechungen. Wo sind aber die Investitionen? Das Ganze im Umfeld einer lahmenden Konjunktur in Deutschland, einer einbrechenden Konjunktur in vielen Teilen Europas. Am Telefon ist nun Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag DIHK. Guten Morgen!
    Martin Wansleben: Morgen, Herr Müller!
    Müller: Herr Wansleben, brauchen Sie die FDP?
    Wansleben: Zumindest haben wir im Moment in dem Bundestag keine Partei, die sich wirklich ohne Wenn und Aber zu Wirtschaft, zu Wettbewerb bekennt.
    "Schluss jetzt mit der sklavenhaften Umsetzung des Koalitionsvertrags"
    Müller: Wie konnten Sie sich so in der Union vertun?
    Wansleben: Ich weiß es nicht, ob wir uns vertan haben, vielleicht war das auch vorhersehbar. Fest steht, dass der Koalitionsvertrag immer mehr aus der Zeit fällt. Er ist einfach verjährt, sie haben es verjährt, Sie haben es eben angedeutet, die Konjunkturaussichten sind andere, die Krisenverläufe sind andere, als das 2013 so vorhersehbar war. Und deswegen fordern wir ganz klar: Schluss jetzt mit der sklavenhaften Umsetzung des Koalitionsvertrags, sondern hin zu mehr Investitionen, zu mehr Zukunft. Und ein Riesenthema: Zuwanderung. Also hin zu einer bewussteren Gestaltung auch von Integration. Denn wir brauchen hier in Deutschland dringend die Menschen, denn wir werden immer weniger.
    Müller: Wer ist schuld daran? Die Kanzlerin?
    Wansleben: Ich weiß es nicht, ob es richtig ist, so eine - Entschuldigung! - platte Schuldfrage zu stellen. Ich glaube, wir tragen alle Verantwortung. Es gibt so etwas wie einen Preis für Freiheit, und Freiheit ermöglicht eben auch, alles zu zerschwätzen. Und deswegen könnte ich mir vorstellen, dass es gut wäre, wenn wir 2015 ein Jahr der Verantwortung ausrufen, und zwar ein Jahr der Verantwortung von Politik und Wählern.
    Müller: Aber die Kanzlerin trägt ja mehr Verantwortung als Sie!
    Wansleben: Die Kanzlerin trägt für ihre Politik mehr Verantwortung. Und man muss ihr sicherlich vorwerfen, dass sie manches geschehen lässt. Sie haben in der Anmoderation die Themen genannt, der Mindestlohn ist ja nicht nur sehr umstritten in wirtschaftspolitischer Hinsicht, sondern das ist jetzt ein Moloch an Bürokratie, an Aufsicht, bis hin zur Frage: Haben jetzt auch in Bulgarien die Lkw-Fahrer, wenn sie für deutsche Firmen fahren, Anrecht auf den Mindestlohn? Also, das sind alles Dinge, die wir überhaupt nicht gebraucht haben, Rente mit 63 und so weiter und so fort.
    Müller: Mindestlohn, ohne das jetzt detailliert noch mal zu besprechen, Herr Wansleben ...
    Wansleben: Gerne!
    "Es gibt viele, denen wird der Mindestlohn helfen"
    Müller: Aber viele freuen sich ja jetzt mit Blick auf nächstes Jahr, dass sie von ihrer Arbeit künftig leben können.
    Wansleben: Na ja, also, 8,50 Euro ist für einen Familienvater unter dem, was man vom Staat ansonsten bekommt als Bedürftigkeit ... Das muss man klar sagen, es gibt viele, denen wird der Mindestlohn helfen, das ist ohne Frage, aber wenn wir gleichzeitig am Ende dieses Jahres über das Thema der Langzeitarbeitslosen reden, also, denen haben wir keinen Gefallen getan mit dem Mindestlohn. Denn es gibt einfach auch viele, die aufgrund ihrer mangelnden Bildung zum Beispiel nicht in der Lage sind, am Markt 8,50 Euro zu verdienen.
    Müller: Aber kommen wir vielleicht noch mal auf die Koalition zurück: Sie sagen, keine Plattitüden, keine Schuldigen finden, Verantwortung ... Wir haben auch über Verantwortung geredet. Ist Sigmar Gabriel verantwortlich für diesen Linksruck der Kanzlerin?
    Wansleben: Nein. Also, wenn wir jetzt mal Sigmar Gabriel nehmen, natürlich steht der als SPD-Parteivorsitzender in der klaren Verantwortung. Auf der anderen Seite kämpft er als Wirtschaftsminister, nehmen Sie mal das EEG, durchaus auch für die Wirtschaft. Aber eins ist klar: Er hat Mindestlohn, Rente mit 63, Mütterrente, dieses unsägliche Mautthema, Frauenquote, diese ganzen Dinge nicht nur mit durchgewunken, sondern mit befördert.
    Müller: Also wäre Gerhard Schröder doch ein bisschen besser?
    Wansleben: Also, es ist im Nachhinein schon bemerkenswert, wie in seiner zweiten Amtszeit - seine zweite Amtszeit war das ja erst, in der ersten hat er ja auch Rentenreformen zurückgenommen -, in seiner zweiten Amtszeit schon Kopf und Kragen riskiert hat, um Deutschland voranzubringen. Das ist schon im Nachhinein sehr bemerkenswert.
    "Die schwarze Null darf nicht herhalten für finanzpolitische Fantasielosigkeit"
    Müller: Dann reden wir, Herr Wansleben, noch mal über Wolfgang Schäuble beziehungsweise über die Finanzpolitik: Wie gut ist eine schwarze Null, wenn so gut wie keine Milliarde mehr in Infrastruktur investiert wird?
    Wansleben: Ja, da kann man jetzt zwei Antworten drauf geben: Stellen Sie sich mal vor, die hätten das Prinzip der schwarzen Null nicht, dann hätte die Große Koalition für soziale Wohltaten wie Mütterrente und so was noch mehr Geld ausgegeben, das wäre also noch schlimmer geworden. Und die zweite Aussage, die man machen kann, ist: Die schwarze Null darf jetzt nicht herhalten für finanzpolitische Fantasielosigkeit. Denn das Geld war ja da und ist verplempert worden. Also, wir finden, die Wirtschaft findet, die schwarze Null ist richtig. Aber jetzt muss auch dann innerhalb des Staatsbudgets umgeschichtet werden, wir brauchen mehr Investitionen und, im Übrigen, wir brauchen auch wieder mehr Zukunftsperspektive. In der Steuer- und Finanzpolitik ist es doch geradezu eine Katastrophe, dass sich in Deutschland keiner mehr traut, von einer einfacheren Steuer zu träumen, davon zu träumen, dass wir endlich mal wieder dazu übergehen, keine Kosten zu besteuern. Wir haben ja jetzt schon Angst, dass wir vielleicht in Trippelschritten gerade noch eben das Thema Erbschaftssteuer so eben wuppen können.
    Müller: In kalter Progression hat sich ja immerhin etwas bewegt!
    Wansleben: Kalte Progression hat sich etwas bewegt, wobei das im Moment ja nicht der Hauptkriegsschauplatz ist, sondern ... Also, jetzt aktuell ist natürlich die Erbschaftssteuer das Thema Nummer eins, aber es ist wichtig bei der kalten Progression, dass da eine Einsicht eingekehrt ist, dass es einfach nicht geht, dass klammheimlich über die Hintertür dem Steuerzahler immer mehr in die Tasche gegriffen wird.
    Müller: Aber wenn wir fair sein wollen gegenüber der Politik, das können wir ja auch mal versuchen, sind Sie auch meistens ...
    Wansleben: Ja.
    Müller: Wenn wir jetzt vor einem Jahr darüber geredet haben, ich kann mich nicht genau daran erinnern, aber wir haben auch über die schwarze Null definitiv geredet, da haben ja viele gesagt, auf jeden Fall, das muss sein, es ist gerade im Rahmen der Finanzkrise unabänderlich. So, und jetzt hat sich das Ganze doch in den vergangenen Monaten etwas verändert, weil eben das Drumherum jetzt nicht mehr stimmt?
    Wansleben: Ja, ich glaube schon, dass Deutschland sich die schwarze Null leisten kann und leisten muss. Also, es gehört jetzt einfach mal dahin, dass man nach knapp 50 Jahren in das deutsche Gedächtnis wieder eintrichtert, ein Staat kann auch ohne Schulden auskommen. Ich glaube, dass das ganz, ganz wichtig ist. Nur, wenn man eine schwarze Null hat und ansonsten das Geld verpulvert, passt es natürlich nicht zusammen. Das liegt aber auch an der schwarzen Null, sondern das liegt daran, dass wir jetzt sechs Milliarden für die Mütterrente ausgeben in jedem Jahr.
    "Wenn Unternehmen investieren, hat das mit Subventionen nichts zu tun"
    Müller: Also schwarze Null ja, auch wenn man demnächst mit dem Fahrrad dann über die Leverkusener Autobahnbrücke fahren muss?
    Wansleben: Nein, schwarze Null ja, und dann ganz klar umschichten. Denn das mit der Leverkusener Autobahnbrücke geht natürlich überhaupt nicht.
    Müller: Das heißt Investitionen, Milliardeninvestitionen. Sind das nicht Subventionen, die Sie sonst kritisieren?
    Wansleben: Na ja, gut, also, ich meine, wenn Unternehmen investieren, hat das mit Subventionen nichts zu tun.
    Müller: Es geht ja um die Staatsinvestitionen. Es geht ja darum, ob der Staat ankurbelt und fördert.
    Wansleben: Also, wir haben nun zwei Investitionsstaus, wenn Sie so wollen. Einmal die privaten Investitionen, da kann man eine ganze Menge machen, von Bürokratieabbau über Steuersenkung beziehungsweise degressive AfA und so weiter und so fort. Und auf der anderen Seite, also, wenn der Staat endlich mal anfängt, zum Beispiel die Straßeninfrastruktur wieder nach vorne zu bringen, hat das mit Subvention nichts zu tun, sondern das ist originär Staatsaufgabe.
    Müller: Und dafür auch Gebühren zu erheben, die Maut beispielsweise?
    Wansleben: Ja, das ist ein guter Punkt, die Maut kommt jetzt so harmlos um die Ecke und man tut so, als ob das nichts wäre. Am Ende ist natürlich die Maut, wenn sie zu zusätzlichen Belastungen führt - und das sieht ja absehbar so aus, das scheint ja die Ratio von Politik zu sein -, dann ist das eine Erhöhung der Steuer- und Abgabenquote. Geht so gar nicht! So, und dann muss man schon ein ganz offenes Wort mit den Wählerinnen und Wählern sprechen und sagen, wir brauchen mehr Geld, seid ihr bereit dazu, zu bezahlen? Und dann kommt die klare Antwort von der Wirtschaft: Weist erst mal nach, dass ihr im Haushalt die Umschichtungen wirklich vorgenommen habt, die vorgenommen werden können und müssen.
    "Das ist einfach unglaublich, was sich Deutschland hier leistet"
    Müller: Für Sie, Herr Wansleben, ist das also schon so gut wie ausgemachte Sache. Also Steuererhöhungen durch die Hintertür?
    Wansleben: Also, die Mautgeschichte ... Also, abgesehen davon, dass ich persönlich das europapolitisch für absolut ein Unding halte, was wir da machen, das wird ein Bumerang, das ist einfach unglaublich, was sich Deutschland hier leistet, ist das ganz klar der Anfang einer Maut ... Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine nächste Regierung darauf verzichten wird, die Maut zu erhöhen. Das ist doch der Anfang einer Schraube, die zu mehr Belastungen führt. Alles andere würde mich wundern.
    Müller: Warum sagen Sie Unding? Wenn wir von Köln aus zum Beispiel nach Südfrankreich fahren, kostet das 100 Euro. Da ist die Maut doch dagegen ein Geschenk!
    Wansleben: Na ja, man muss nicht alles mitmachen, was andere machen. Dort sind andere Strukturen herangewachsen.
    Müller: Da funktionieren die Straßen, die Autobahnen.
    Wansleben: Ja, da funktionieren die Straßen. Wir haben ein anderes Finanzierungssystem und Frankreich hat längst nicht so viel Nachbarn wie Deutschland. Also, in Nordrhein-Westfalen, jetzt bleiben wir bei Ihrem wunderbaren Beispiel, da wird demnächst in Holland, in Belgien, in Dänemark - nicht in Nordrhein-Westfalen, dann sind das Schleswig-Holsteiner -, werden wir dann auch Geld bezahlen müssen. Also, Deutschland fängt hier an, an einer Schraube zu drehen. Was gut gewesen wäre - Klammer auf: genauso wie bei der Energiewende, Klammer zu -, auf europäischer Ebene mit den europäischen Nachbarn darüber zu reden, wie man ein funktionierendes paneuropäisches Mautsystem einführt. Wäre alles wunderbar gewesen. Aber jetzt kommt das doch, sagen wir mal: europapolitisch völlig quer gebügelt. Und wie gesagt, in dieser Form aus meiner Sicht ein ganz klarer Anfang einer Belastungsschraube.
    Müller: Herr Wansleben, könnten wir das so formulieren zum Schluss: Also nicht die Rente mit 63, sondern dann lieber freie Fahrt für 130?
    Wansleben: Also, die Rente mit 63 passt überhaupt nicht in die Welt. Dann ist es schon besser, wir haben funktionierende Schulen und funktionierende Straßen und ein funktionierendes Energiesystem. Denn die Rente mit 63 kostet ja nicht nur Beitragszahlergeld, sondern es führt zu Ausfall am Ende vom Bruttoinlandsprodukt. Denn es fehlen die 200.000 Menschen, die Fach- und Führungskräfte gewesen sind.
    Müller: Jetzt muss ich noch eine Frage stellen.
    Wansleben: Gerne!
    "Russland ist jetzt im Moment in einem ganz schwierigen Abwärtsstrudel"
    Müller: Ich weiß, das liegt Ihnen am Herzen: Was machen wir mit Russland?
    Wansleben: Ja, also, Russland ist wirklich ein Riesenthema. Hier muss man sicherlich zunächst einmal der Bundesregierung schon sagen, wie überhaupt in der Krisenpolitik, dass sie hier gut gearbeitet hat, eine reflektierte Politik gemacht hat. Russland ist jetzt im Moment in einem ganz schwierigen Abwärtsstrudel. Ich befürchte, dass die Sanktionen gar nicht so negativ wirken auf Russland. Ich befürchte das deswegen, weil wir keinen Hebel in der Hand haben, eine Besserung in Russland herbeizuführen. Der Ölpreisverfall, die schlechte wirtschaftliche Infrastruktur und das mangelnde Vertrauen der russischen Elite in das eigene Land sind meines Erachtens viel wichtigere Punkte, die auch viel stärker durchschlagen. Wir sind auf ein gutes Verhältnis mit Russland angewiesen. Und wir sind alle gut beraten, jenseits der Sanktionen, also das, was erlaubt ist an Geschäften, wieder mit Russland viel stärker anzukurbeln. Es gibt kein Embargo, sondern es gibt auch immer die ausgestreckte Hand. Wenn ich das richtig verstehe, gilt das für die Politik, und das gilt auch für die Wirtschaft.
    Müller: Jetzt schnell lockern, die Sanktionen?
    Wansleben: Nein, das hängt von der politischen Entwicklung ab. Ich glaube, jetzt ganz bewusst jede Chance nutzen, die es gibt, für Geschäfte zu machen, aber auch für gute Kontakte. Der DIHK ist da sehr aktiv und wir beteiligen uns da gerne dran.
    Müller: Vielen Dank für dieses Gespräch!
    Wansleben: Bitte sehr, Herr Müller!
    Müller: Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag. Einen schönen Tag noch und Ihnen einen guten Rutsch!
    Wansleben: Danke, gleichfalls, Herr Müller!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.