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Deutscher Alltag nach 1933

Augenzeugenberichte aus der Zeit des Nationalsozialismus gibt es viele. Kann ein Band mit 13 Reportagen, noch dazu verfasst von einem polnischen Bohemien, da noch Erhellendes beisteuern? Er kann, wenn der Autor Antoni Graf Sobanski heißt. Sabine Weber hat das Buch " Nachrichten aus Berlin" gelesen.

09.07.2007
    Kaum ist Antoni Graf Sobanski in Berlin aus dem Zug gestiegen, wird ihm klar: Schon unter rein modischen Aspekten ist der Nationalsozialismus eine glatte Katastrophe.

    "Also, zuerst einmal die SA - braunes Hemd. Dieser spezielle Braunton ist wohl der hässlichste aller denkbaren Brauntöne. Er mag ja auf Leinen noch angehen, auf der Tuchuniform höherer Ränge ist er einfach nur grässlich."

    Der 35-jährige polnische Adlige ist als Korrespondent nach Deutschland gekommen. Für die Warschauer Wochenzeitschrift "Literarische Nachrichten" soll er in Erfahrung bringen, wie sich das Nachbarland unter den neuen Machthabern entwickelt und ob für Polen tatsächlich Anlass zur Sorge besteht. Kaum einer wäre für diese Aufgabe besser geeignet als Sobanski. Er kennt Deutschland von früheren Besuchen, beherrscht die Sprache und hat viele Freunde und Bekannte in Berlin. Ende April 1933 beginnt er mit seinen Recherchen vor Ort - mit zwiespältigen Gefühlen.

    "Ich wünsche mir so sehr, dass mir meine Sympathie für diese seltsame Nation nicht verloren gehen wird. Ich bin gewillt, jeden positiven Aspekt in diesem mir so befremdlichen Umbruch zu entdecken. Ich wäre glücklich, wenn sie mich wenigstens ein wenig überzeugen könnten."

    Auf seinen drei Reisen ins nationalsozialistische Deutschland entstehen zwischen 1933 und 1936 insgesamt 13 Reportagen. Sobanskis Detailliebe, sein Bemühen um Objektivität und sein Humor lassen ihn ein facettenreiches Bild vom Leben unter dem Hakenkreuz zeichnen. Der "Hitlerismus", so hofft Sobanski anfangs, ist eine Art Krankheit, schon wieder im Abklingen begriffen.

    "'Wie wird über uns im Ausland gedacht und gesprochen?' Diese Frage stellten mir alle, die ich in Berlin getroffen habe, selbst die vom Auswärtigen Amt, die es eigentlich am besten wissen müssten. Alle waren gleichermaßen besorgt, als fragten sie sich 'Gehen wir vielleicht zu weit?' - Meine Antwort, im Ausland werde der Umbruch in Deutschland als ein Prozess gedeutet, der noch nicht beendet sei, wurde mit einem Lächeln der Erleichterung und einer Art Dankbarkeit für eine solch gerechte Beurteilung der Lage aufgenommen."

    Im Zuge seiner Recherchen vermag Sobanski diese milde Beurteilung nicht aufrechtzuerhalten. Er notiert akribisch die kleinen wie die einschneidenden Veränderungen: die Wagner-Manie und den Antisemitismus, die Schwemme von Hitler-Fotos und die überfüllten Gefängnisse mit ihren erstaunlich hohen Selbstmordraten, das zum Erliegen gekommene Berliner Nachtleben und die Gleichschaltung der Tagespresse. Seine Informationsquellen sind Propagandamaterialien und Gesetzestexte, Pressekonferenzen und politische Massenveranstaltungen. Vor allem aber spricht er mit Freunden und Bekannten jeder politischen Couleur und jeder Konfession. Nach und nach muss er erkennen, dass nationale Eigenschaften, die er früher mit liebevoller Nachsicht betrachten konnte, nun ein anderes, ein hässliches Gesicht zeigen.

    "Man muss wissen, dass die Deutschen ihrer Natur nach schlicht unfähig sind, aus der Reihe zu tanzen. Der Gänsemarsch erträgt nun mal keine Arrhythmie; ein guter Soldat denkt nicht, er tut seine Pflicht. Dass aber die Pflicht des einen einen anderen das Leben kosten kann, nun ja."

    Das erste politische Großereignis, dem Sobanski beiwohnt, findet am 10. Mai 1933 statt - die Bücherverbrennung.

    "Sie reichten sich die Bücher von Hand zu Hand, bis der letzte, der am Feuer stand, sie hoch in die Luft warf, wobei sie ihre weißen Blätter öffneten und wie Vögel herunterflatterten. Große Traurigkeit ergriff mein Herz. Ich trauere um das Volk, das diese Schande auf sich lud. Ich fühlte mich noch nie im Ausland so sehr wie ein Einheimischer, noch nie so sehr als Deutscher. - Doch plötzlich wurde es still. Goebbels sprach."

    "Deutsche Studenten! Wir haben unser Handeln gegen den undeutschen Geist gerichtet. Übergebt alles Undeutsche dem Feuer …"

    "Man hörte ihn schlecht, nur kurz war dieses spezifische Gebrüll nationalsozialistischer Führer zu hören, das sie anschlagen, wenn sie die Herrschaft über die Masse erobern wollen. Als kleiner Lichtblick in dieser traurigen Geschichte sei noch erwähnt, dass die Studenten auf den Lastwagen während des Umzuges eifrig nach pikanten Werken suchten und für sich zur Seite legten. Das beweist immerhin, dass auch unter Hitler die Jugend menschlich geblieben ist."

    Dieser ständige Wechsel zwischen sachlicher Beschreibung, persönlicher Betroffenheit und ironischer Distanzierung ist typisch für Sobanskis Schreibstil. Es ist eine Erzählhaltung, die ausdrückt, wie groß sein Erstaunen und sein Unverständnis sind über das, was in seinem bislang geliebten Deutschland vor sich geht. In der letzten seiner acht Reportagen aus dem Jahr 1933 zieht Sobanski ein resigniertes Fazit. Zwar, so die gute Nachricht nach Polen, glaube er nicht, dass ein bewaffneter Konflikt angestrebt werde. Die nationalsozialistische Revolution aber sitze fest im Sattel, und echte Gegner seien nicht in Sicht.

    Schon ein Jahr später fährt Sobanski erneut nach Deutschland, um den Veränderungen nachzuspüren. Überraschenderweise bemerkt er zunächst überall einen Wandel zum Positiven: Die Anzahl der Uniformen habe abgenommen, es gebe Waren in den Läden, deutlich mehr Ausländer seien unterwegs, sogar Juden seien zu sehen. Das Straßenbild habe sich normalisiert. Doch lange kann er sich nicht blenden lassen.

    "Jeder fürchtet sich vor der eigenen Stimme und den eigenen Gedanken. In dieser Hinsicht ist es wohl nur in Russland noch trauriger bestellt. Das Netz des Terrors ist mittlerweile so lückenlos und engmaschig, so dicht, dass es ohne Anwendung von Gewalt oder anderen drastischen Mitteln funktioniert."

    Im September 1936 reist Sobanski ein letztes Mal nach Deutschland, diesmal zum Reichsparteitag nach Nürnberg. In der Nürnberger Luitpoldhalle finden die Eröffnungsfeierlichkeiten statt. Sobanski beschreibt die Örtlichkeit, den feierlichen Einmarsch, die ersten Redner. Dann verliest der Münchner Gauleiter Adolf Wagner eine lange Proklamation Hitlers.

    "Diese Gegner haben damals es nicht für möglich gehalten, dass die deutschen Theater eine Wiederauferstehung feiern werden, dass dabei aber das deutsche Volk einen lebendigen Anteil nehmen wird und dies alles, ohne dass auch nur ein Jude in dieser geistigen Führung des deutschen Volkes."

    "Wie so mancher Teil der Proklamation löst diese Bemerkung langen Beifall und viel Gelächter aus. Göring zum Beispiel, sehe ich, schüttelt sich vor Lachen regelrecht aus. Er hopst in seinem Sessel wie ein Ball auf und ab und klatscht dabei spärlich in seine fetten Hände. So muss Nero ausgesehen haben, als er den Brand Roms besungen und auf der Lyra begleitet hat."

    Den drohenden Brand Roms oder, weniger pathetisch, Anzeichen eines kommenden Krieges vermag Sobanski nicht zu erkennen. Er ist überzeugt: Die Nationalsozialisten streben keinen Krieg an.

    "Ich fuhr nach Deutschland in der Hoffnung, dass Hitler, an dessen seltsamen Idealismus ich zu glauben begann, mit irgendeiner genialen Idee zur Sicherung des Weltfriedens überraschen könnte. Ich fuhr zum Parteitag zwar ohne Glauben, aber doch wie ein Lottospieler in der vagen Hoffnung auf ein Wunder. Nur gab es kein Wunder in Nürnberg. Ein Rezept für den Weltfrieden bekam ich auch nicht."

    Nach Kriegsbeginn geht Sobanski ins Exil nach England und arbeitet dort bei der BBC. Im April 1941 stirbt er an einer Lungenkrankheit.

    Antoni Graf Sobanski bleibt eine Ausnahmeerscheinung. Stets bemüht um Gerechtigkeit dringt er tief in den deutschen Alltag der 1930er Jahre und in das Wesen des Nationalsozialismus ein. Er zeigt, welche Informationen zur Verfügung standen, wenn man sich darum bemühte und die nötigen Kontakte hatte. Und zugleich sind Sobanskis Reportagen ein Beispiel dafür, wie schwierig es ist, als Zeitgenosse und Beobachter die richtigen Schlüsse aus dem erworbenen Wissen zu ziehen.


    Antoni Graf Sobaski: Nachrichten aus Berlin 1933-1936
    Aus dem Polnischen von Barbara Kulinska-Krautmann
    Parthas Velag, Berlin,
    250 Seiten, 19,80 Euro