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Archiv

Deutsches Literaturarchiv Marbach
Vom Wert des Originals

Von Christian Gampert | 04.11.2014
    Die meisten von uns produzieren keine Originale mehr: Wir tippen in den Computer, und wenn wir die erste Version eines Textes überschreiben, dann ist sie weg. Der Menschheit wird da nichts fehlen. Wenn aber Hölderlin auf dem Papier um (von Friedrich Beißner sogenannte) Keimwörter herumassoziiert, wenn Gottfried Benn einen englischen Schlager als Folie für ein Gedicht nimmt oder Paul Celan Textfragmente auf einem Briefumschlag notiert, dann zeigt das einen kreativen Prozess - der bei Benn auch mal auf einem Rezeptblock beginnt.
    Nun kann man auch diese Originale fürs Archiv digitalisieren. Schöner ist es, sie unter einer Vitrine zu betrachten und dabei zu erfahren: Benn konnte kein Englisch, Fontane wusste schon ganz am Anfang der Arbeit an "Effi Briest" die Schlussworte "ach Luise, das ist ein weites Feld", Peter Esterhazy stellte im Jahr 2000 die Anfangssätze zu "Harmonia Celestis" wie im Baukasten vielfach um, und Arthur Schnitzler tippt 1899 die Idee der ersten Szene zu "Professor Bernhardi" in die Maschine, nimmt sich das Stück aber erst zehn Jahre später wieder vor – manchmal gärt es halt etwas länger.
    Der erste Teil dieser ungeheuer reichen Ausstellung ist der beste, weil er einen Blick in die Werkstatt bietet - von Kurt Schwitters eher rumpfhaften musikalischen Versuchen zur "Ursonate" bis zu Broch Ur-Ur-Vergil. Nach den großen Essay-Ausstellungen zu "Ordnung" und "Schicksal" nimmt das Deutsche Literaturarchiv also wieder ein Thema systematisch in den Blick, und das Bild für das "Original" ist das Ei - also eine biologische Möglichkeitsform, aus der sich alles entwickeln kann.
    Das wird auch ausstellungsarchitektonisch aufgenommen: Es gibt eine Seitenwand mit beschrifteten Themen-Eiern, die das Haus sich ins Nest legt, und weiß gerundete große Vitrinen scheinen durch die Räume zu schweben. Nur im letzten Raum wird es dunkel und schwarz: Dort werden wir auf Originale hingewiesen, die es nicht mehr gibt oder die nicht zu beschaffen sind: Walter Benjamins Aktentasche, verschwunden bei Port Bou, Einsteins Gehirn, von einem amerikanischen Pathologen entwendet, Hitlers Schädel.
    Die Ausstellung spannt den Problemhorizont weit auf
    Aber, dumm gefragt: Wollen wir das wirklich sehen? Was wäre der Erkenntnisgewinn, sähen wir Lady Dis Unfallwagen? Oder sähen wir Duchamps Original-Pissoir - da doch hier eher die Idee wichtig ist, die auf die Trivialisierung, die Zerstörung der Einzigartigkeit des Kunstwerks zielt? Ab etwa der Hälfte der Ausstellung macht sich auch eine gewisse nekrophile Tendenz bemerkbar: Der wässrig zerlaufene Adress-Kalender des Germanisten Peter Szondi, der sich 1971 in Berlin ertränkte, mag ja noch Erkenntniswert haben. Dann aber reihenweise Gipsabgüsse von Händen, Totenmasken, Oskar Pastiors Vorrat an Zigarettenschachteln, Ingeborg Bachmanns Aschenbecher, Kant-Reliquien wie Haare und Schnupftabakdose.
    Irgendwie sind das auch Originale, aber solche mit Fetisch-Charakter. Immerhin erfährt man, dass Ingeborg Bachmann nicht an ihren Verbrennungen starb, sondern an Entzug - sie war medikamentensüchtig. Aber die Ausstellung spannt den Problemhorizont - was ist ein Original - ganz weit auf, und gleichzeitig geht sie der Suggestion der Realien doch ein bisschen auf den Leim. Denn, ehrlich gesagt, der Brief, in dem der ideologisch korrupte Martin Heidegger seinem Bruder seinen Eintritt in die NSDAP erklärt, hat für den Wissenschaftler eine andere Wichtigkeit als Holzlatten von Schillers Geburtshaus. Rilkes programmatische Namensänderung von René Rilke zu Rainer Maria Rilke, auf Anraten der erfahrenen Lou Andreas-Salomé, die eigentlich ganz simpel Louise hieß, ist verräterischer als eine Röntgenaufnahme von Erich Kästners Schädel. Und Stefan Zweig kommt in dieser Schau neben Albert Speer zu liegen, auch nicht schön.
    Dann redete Kulturstaatsministerin Monika Grütters über "Die Versöhnung des Ästhetischen mit dem Politischen", bekannte sich zur Kunstfreiheit und beschwerte sich gleichzeitig über die Wahlmüdigkeit mancher Intellektueller. Die "politischen Ansprüche" der angeblich romantischen "Kultur und des Geistes" wollte sie erstaunlicherweise "begrenzen" zugunsten der "Rationalität demokratischer Politik". Wenn die nur immer so rational und demokratisch wäre...
    In der Ausstellung ist auch das Original-Kopfkissen von Freuds Analyse-Couch zu sehen. Das Objekt erzeugt die atavistische Vorstellung, die Träume der Analysanden seien in es eingesunken. Das stimmt natürlich nicht. Aber wenn die Kulturstaatsministerin ihr Haupt auf dieses Kopfkissen bettete, käme womöglich anderes heraus als die ausgewogene Formulierung von Ästhetik und Politik als den "zwei Herzkammern einer vitalen Demokratie".