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Deutsches Theater Berlin
Panteleevs "Iphigenie" schwarz-weiß

Von Eberhard Spreng | 15.10.2016
    Deutsches Theater Berlin
    Deutsches Theater Berlin (picture alliance / dpa / Soeren Stache)
    Ein schwarzer Kasten mit einem gewaltigen zwei Meter hohen Tisch, ein paar kleine Stühle, alles schwarz. Keine Abgänge, keine Öffnungen irgendwohin. Also kein Meeresufer, von dem aus Iphigenie "das Land der Griechen mit der Seele suchen" könnte. Johannes Schütz hat einen Raum gebaut, in dem es das "Andere" nicht geben kann und ebenso wenig ein Exil oder die Sehnsucht nach dem anderswo, nenne man es Heimat oder sonst wie. Die Zugänge, durch die unsere gegenwärtigen Probleme und Fragen ins Theater eindringen könnten, sind in diesem Kunstraum sorgfältig verrammelt. Das einzige, was hier noch miteinander in Konflikt gerät ist die weiße Farbe und die schwarze Farbe. Iphigenie, die "reine Seele", tritt hier mit einem weißen Kleidchen auf, alle andere tragen schwarz. Aber alle greifen zu Quast und Rolle, tunken sie in Eimer mit weißer Wandfarbe und pinseln das schwarze Dekor Weiß an. Tauris soll renoviert werden, aber die Farbe deckt schlecht und höher als gut zwei Meter reichen die Arme nicht. Die alte Barbarei wird vom hehren Weiß der Iphigenischen Zivilisation nur eben schlecht überpinselt, das Projekt der Aufklärung bleibt irgendwo auf halber Strecke stehen. Soweit das Bild.
    Etwas Ähnliches erzählen auch die Schauspieler. Kathleen Morgeneyer spielt die Titelrolle wie aus einer rätselhaften Distanz, wie versunken in eine innere Welt, aus der äußerst wenig nach außen dringt.
    "Geschwister, die ihr an dem weiten Himmel
    Das schöne Licht bei Tag und Nacht herauf
    Den Menschen bringet, und den Abgeschiedenen
    Nicht leuchten dürfet; rettet uns Geschwister!
    Diana, lass den einzigen, spät Gefundenen
    Mir nicht in der Finsternis des Wahnsinns rasen."
    Diese Iphigenie erspielt sich die Verzweiflung über den Wahnsinn des Bruders nicht. Ebenso wenig wie Moritz Grove als der Muttermörder Orest Anstalten macht, seine paranoide Wahrnehmungsstörung spielerisch zu erschließen. Ivan Panteleev stellt seine Akteure oft einfach nur statisch ins Schwarz-Weißbild. Da zelebrieren sie minutenlange Rezitationen eines Textes, dessen emotionaler Gehalt schon vor ewigen Zeiten verschwunden zu sein scheint und der nur noch als Klanghülle weiterlebt, als Theaterzombie. Auch der Pylades des Camill Jammal beglaubigt Engagement allenfalls sporadisch durch eine mutwillig laute Stimme. Lediglich Barbara Schnitzler, die den Königsdiener Arkas verkörpert, moduliert ihre Diktion mit Resten psychologischer Verhandlungsführung. Auch die Streitgespräche der Iphigenie mit König Thoas lassen in diesem Oratorium einen offenen Konflikt erkennen.
    "Du glaubst, es höre
    Der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme
    Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus,
    der Grieche nicht vernahm?
    Es hört sie jeder,
    Geboren unter jedem Himmel, dem
    Des Lebens Quelle durch den Busen rein
    Und ungehindert fließt."
    Iphigeniens universalistisches Projekt, die Ausrufung einer jedem Menschen in jeder Kultur angeborenen Güte, soll den Fluch überwinden, mit dem die Götter ihre Familie belegt haben. Und es soll die Menschen befreien von den Ketten ihrer Religion. Aber das Happy End konterkariert die Aufführung mit einem hinterhältigen Endbild. Während Thoas noch mit der Frage ringt, ob er ihr und ihrem Bruder den freien Abzug gewähren soll, sitzen Iphigenie und Orest lässig grinsend auf den Stühlen wie verzogene Gören, denen die Entscheidung des einstigen Barbaren schon egal sein kann. Die aufgeklärte Menschheit triumphiert arrogant über den Rest der Welt.
    Es gibt heute, wo die schönen Ziele von Humanismus und Aufklärung verbraucht zu sein scheinen, für die Nachfahren Goethes und der Weimarer Klassik zwei Möglichkeiten: Entweder sie erklären das Scheitern der Aufklärung mit kleinen Korruptionen, dem Verrat an Idealen, dem Zwang der Verhältnisse. Oder sie behaupten, dass diese idealistische Aufklärung schon zu Goethes Zeiten eine hinterhältige Ideologie war, also keine Lösung, sondern Teil des Problems. Dies ist auch Ivan Panteleevs Haltung. Er, ein treuer Nachfahre Heiner Müllers, hat keine Iphigenie inszeniert sondern einen Iphigeniekommentar. Er hat sich damit von Goethe befreit, wird so aber ein Knecht der Aktualisierungsmoden und einer zeitgenössischen Denkweise, die ihrerseits zu einem Gefängnis werden kann. Eine werktreue Iphigenie wäre in ihrer Unzeitgemäßheit viel riskanter, renitenter, spannender gewesen. Denn das hieße, nicht mit Panteleevs Augen auf die Goethe-Zeit sondern mit Goethes Augen auf die Gegenwart zu schauen.