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"Deutschland ist grässlich"

Samuel Beckett, der "Dichter des Verstummens", war nicht nur einer der wichtigsten Dramatiker des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein großer Briefschreiber, wie die Edition "Weitermachen ist mehr, als ich tun kann" jetzt zeigt. In seinen Briefen berichtet er auch aus Hitler-Deutschland.

Von Richard Schroetter | 11.11.2013
    "Verzeih mir mein allzu langes Schweigen. Es fällt mir immer schwerer zu schreiben, selbst Briefe an meine Freunde."

    Diese nach schwerem Kummer klingenden Zeilen, die der 30-jährige Samuel Beckett an den Dichter und Kunsthistoriker Thomas McGreevy schrieb, sind jedoch weniger Ausdruck einer schleichenden Depression als Zeichen hoch kultivierter Unlustgefühle, mit denen sich ihr Verfasser dem guten Freund gegenüber in Szene setzt.

    Der Adressat kannte ihn wahrscheinlich gut genug, um solche Töne nicht weiter ernst zu nehmen. Besagt nicht ein sieben Seiten langer durchformulierter Brief eher das Gegenteil, dass wir es mit einer gut geschmierten "machine à mots", wie sich Beckett über Goethe einmal mokierte, zu tun haben. Anders als der Weimarer Klassiker, der mit 30 ein anerkannter und viel gespielter Dramatiker war, war Samuel Beckett in diesem Alter ein Nobody und nur wenigen Insidern bekannt: als frustrierter Dozent, der sich der "grotesken Komödie des Unterrichtens" widerwillig unterwirft; als ambitionierter Übersetzer und Dichter, der an Verlage und Zeitschriften seine avancierten an Joyce angelehnten Arbeiten schickt und immer wieder Absagen einkassiert.

    Als ein Suchender, der sich zwei Jahre einer Psychoanalyse unterzieht und pedantisch die Zahl der Sitzungen notiert, und last, not least als ein ewig Entflammter, der immer wieder in die Gegenwelt der Kunst abtaucht. So erfahren wir aus diesen Briefen von dem unermüdlichen Leser Beckett, der von Dante bis Ringelnatz, von Thomas von Aquin bis William Butler Yeats, von James Joyce bis Hans Carossa "wild alles durcheinander liest," von einem passionierten Musikliebhaber, der Furtwängler-Konzerte und Horowitz-Abende aufsucht; und darüber hinaus von einem noch leidenschaftlicheren Museumsbesucher, der stundenlang sich in die alten Meister versenkt, aber ebenso offen für die Moderne ist : für Arp und Barlach, für Dali, Kandinsky und Picasso.

    Über diese Kunsterlebnisse berichtet Beckett viel lieber - wie es scheint - als über seine persönlichen Gefühle. Das Briefschreiben, so Dan Gunn in der Einführung zu diesem Band, biete Beckett reichlich Gelegenheit, die Muskeln spielen zu lassen. Beckett selbst sagt's so:

    "Oje! Warum kann ich Dir nicht sagen, was ich empfinde, ohne auf ein Podest zu steigen."

    Tatsächlich trainiert Beckett in diesen Briefen aus seiner Sturm und Drang-Zeit mit sichtlicher Lust seine sprachlichen Potenzen. Der radelnde Literaturdozent und Amateurboxer spielt mit Zitaten und Idiomen, teilt auf Italienisch, Deutsch, Französisch und Latein verballhornend gelehrte Boxhiebe aus. Überall wittert er Korrespondenzen, entdeckt er heimliche Beziehungen und versteckte Ähnlichkeiten. Dan Gunn:

    "Die hier versammelten Briefe stellen ihre Vielfalt an Sprachen und Ausdrucksweise nicht nur aus, um Eindruck zu machen, sondern um den angesprochenen Leser aufzureizen, herauszufordern, und sie nutzen dafür das sprachliche Spielfeld des Lesers. Vom scherzhaften Schwulst des französischen Briefs an seinen Cousin bis zum überförmlichen Englisch seiner Bewerbungsschreiben oder dem Jargon der Kumpanei und darüber hinaus. Beckett schriebt, weil er hofft - und zunehmend vertraut -, gehört zu werden."

    Eine besonders spannende Episode dieser Korrespondenz bilden die Reisebriefe aus Hitler-Deutschland von Anfang Oktober 1936 bis Anfang April 1937. Beckett :

    "Durch die Wand höre ich dänische Frauenstimmen, zwei jütländische Flittchen im Gespräch. Das reinste Zwitschern. Sie gehören auf eine Begräbnisurne, aus der Genesis-Periode. Jetzt weiß ich, wie Ophelia die Blumenpassage sprechen muss. Und dass Hamlet wirklich verrückt war. Er liegt an nicht weniger als 54 jütländischen Orten begraben. Alle Klomänner sagen Heil Hitler",

    schreibt er 1936 aus Hamburg, Wer allerdings glaubt, hier zeitgeschichtlich ausführlich von Beckett etwas über das Dritte Reich zu erfahren, wird enttäuscht. Zwar lässt er nebenbei einfließen:

    "Deutschland ist grässlich. Das Geld ist knapp. Ich bin ständig müde. Alle modernen Bilder sind in den Kellern."

    Aber hauptsächlich ist in diesem "grässlichen Deutschland" sein Blick auf die Kunstschätze gerichtet: auf den Giorgione in Braunschweig, auf den Pergamonaltar oder die "exquisite Masaccio-Predella" im Kaiser-Friedrich-Museum, und insbesondere auf die Expressionisten. Das zeigen diese Briefe von den ersten Seiten an, aber auch: den langsamen Selbstfindungsprozess eines sensiblen jungen Mannes aus gutbürgerlichem Elternhaus, der sich brüstet, für den Überlebenskampf nicht präpariert zu sein. Einer Freundin schreibt er:

    "Wenn ich einen kleinen Jungen zwei Schritte vor mir kichern höre, erröte ich bis zu den fauligen Wurzeln meiner weißen Haare. Schon die kleinste Boshaftigkeit ist ein Dolchstoß in mein Herz. ... Dass jemand "Frechheit!" zu mir sagte, war furchtbar für mich, ein wahres Dum-Dum-Geschoss."

    Er war kein naives Genie, keine unmittelbare wie aus dem Nichts auftauchende Dichterstimme à la Keats, Shelley oder Rimbaud, sondern ein vielseitig interessierter (wacher) an sich arbeitender strebsamer Intellektueller, lernbegierig, wissensdurstig und für alles offen - und stets bereit dem etablierten, selbstgefälligen Kunstbetrieb eins aufzuwischen. Das macht ihn sofort sympathisch, aber nicht gleich zu einem Repräsentanten der Weltliteratur...

    Es ist verlockend diese unglaublich reichhaltige Korrespondenz quasi als die eigentliche Beckett-Biografie zu lesen. Die Herausgeber bieten uns das förmlich an. Ein verführerisches Angebot, vor dem man nur warnen kann. Abgesehen davon gilt ja immer noch Becketts Maxime:

    "Das Privatleben wird meist überschätzt."

    Hier ist noch eine Anmerkung über die Anmerkungen zu machen, die diesen opulenten Briefband überaus reichlich schmücken. Es gibt ja welche, die sind zum besseren Verständnis einfach unverzichtbar, und dann gibt es andere, die uns in ihrer zwanghaften und pedantischen Ausführlichkeit schier zum Verzweifeln bringen, weil sie penetrant vom eigentlichen Textkorpus ablenken und den Lesefluss selbstgefällig dazwischen fahrend brechen.

    Man hat sich bemüht, aber auch alles zu dokumentieren. Wie in einer Prozessakte werden Personen, Namen, Orte, Adressen, Bücher u. Zitate breitest belegt - als sei große Literatur ohne dieses triste Datenprotokoll schlechterdings unverständlich. Müssen wir wirklich die genauen Anschriften noch von den entferntesten Zufallsbekannten wissen, ist die chemische Zusammensetzung von Sanatogan wirklich wichtig, oder was Boswell über Johnson schrieb, nur weil sein Name fällt?

    Das ist das Gegenteil, was Beckett wollte, das führt von der wahren Lektüre nur ab und in die unendliche Datenwüste grenzenloser Informationen ... Wie heißt es in Becketts Endspiel so schön:
    "Hamm: Wir sind doch nicht im Begriff, etwas zu ... zu ... bedeuten.
    Clov: Bedeuten? Wir, etwas bedeuten?
    Kurzes Lachen. Das ist aber gut!"

    Samuel Beckett: "Weitermachen ist mehr, als ich tun kann - Briefe 1929 – 1940"
    Herausgegeben von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld, Dan Gunn und Lois More Overbeck. Aus dem Englischen und Französischen von Chris Hirte. Mit zahlreichen Abbildungen, gebundene Ausgabe, Suhrkamp Verlag 2013, 856 Seiten, 39,95 Euro