Freitag, 29. März 2024

Archiv


Deutschland ist kein "streikfreudiges Land"

Ruhender ÖPNV, volle Straßen, leere Kitas - nach Ansicht von Reinhard Bispinck besteht trotzdem eine Grundsympathie für die Forderungen der Gewerkschaft in der Bevölkerung. Der Sozialwissenschaftler geht nicht davon aus, "dass die Geduld der Öffentlichkeit jetzt über Gebühr strapaziert wird".

Silvia Engels sprach mit Reinhard Bispinck | 07.03.2012
    Silvia Engels: Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat eine Warnstreikwelle in Gang gesetzt, die in diesen Tagen nach und nach Bundesland für Bundesland erreicht. In Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland ging es los, gestern war der Norden betroffen und heute liegen die Schwerpunkte in den Ballungszentren Baden-Württembergs, Nordrhein-Westfalens und in Ostdeutschland. Zahlreiche Pendler mussten ohne Bus und Bahn zur Arbeit kommen. Zugeschaltet ist uns Reinhard Bispinck, er ist Tarifexperte im wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Wir erreichen ihn in Düsseldorf. Guten Tag, Herr Bispinck.

    Reinhard Bispinck: Guten Tag, Frau Engels.

    Engels: Sind Sie denn heute gut zur Arbeit gekommen?

    Bispinck: Mit dem Fahrrad, ja. In Düsseldorf wird auch gestreikt, von daher war das Fahrrad angesagt.

    Engels: Und haben Sie Stimmen gehört von eher Zustimmung, oder eher von Ablehnung?

    Bispinck: Mein Eindruck ist, es gibt eine allgemeine Zustimmung, es gibt eine gewisse Grundsympathie für die Forderung von ver.di, dass auch die Beschäftigten im öffentlichen Dienst jetzt mal wieder an der Reihe sind. Das hängt vielleicht auch mit dem Slogan zusammen, den ver.di gewählt hat, "Wir sind es wert". Das scheint, ganz gut anzukommen.

    Engels: Sie beobachten ja Tarifauseinandersetzungen schon aus beruflichen Gründen über die Jahre hinweg. Haben Sie Erfahrungen, wie lange kann man eine solche Grundsympathie, die Sie ausgemacht haben, bei einem solchen ja doch massiven Streik aufrecht erhalten?

    Bispinck: Das hängt vom Thema und von der Forderung ab. Wir haben schon Beispiele dafür, dass das einen relativ langen Zeitraum halten kann, dass es die Unterstützung gibt. Ich erinnere mich an den Streik im Erziehungs- und Sozialdienst vor wenigen Jahren, wo in einigen Kindertagesstätten beispielsweise über einen langen Zeitraum hinweg gestreikt worden ist, deutlich mehr als eine Woche, wo die Sympathie nicht nachgelassen hat, weil es ein Grundverständnis gab, dass die Beschäftigten in diesem Bereich deutlich besser bezahlt werden müssen, weil sie auch eine hoch wichtige Arbeit leisten. Davon hängt das ab und ich denke mal, wir erleben jetzt gerade eine erste Warnstreikwelle, die ja tageweise gewissermaßen durch die Republik schwappt. Ich denke, das beansprucht die Leute noch nicht allzu sehr.

    Engels: Nun ist es ja so, wir haben es gerade im Beitrag gehört, dass noch kein Arbeitgeberangebot im Bereich des Öffentlichen Dienstes vorliegt. Auf der anderen Seite wird den Gewerkschaftlern vorgehalten, dass diese Warnstreiks von vornherein geplant gewesen wären. Ist insgesamt die Stimmungslage, bevor eigentlich alle richtig am Tisch sitzen, aggressiver geworden?

    Bispinck: Ich glaube, ver.di hat Sorge, dass sich im öffentlichen Dienst das wiederholt, was wir in den Jahren zuvor auch erleben mussten, dass die Tarifabschlüsse hinter der allgemeinen Entwicklung hinterher bleiben, und ich interpretiere diese frühen Warnstreiks so, dass nun ein ganz eindeutiges und deutliches Signal gesetzt werden soll, dass in diesem Jahr der Tarifabschluss im Öffentlichen Dienst keinesfalls schlechter als in der Privatwirtschaft ausfallen soll, damit nicht die Kluft, die wir ja beobachten können, zwischen der Tarifentwicklung im öffentlichen Dienst und in der privaten Wirtschaft, etwa bei Metall oder Chemie, nicht noch größer wird.

    Engels: Aber verschießt da möglicherweise die Gewerkschaft ver.di nicht vorab ihr Pulver, denn unbegrenzt wieder Warnstreiks anzustreben, damit kippt doch irgendwann auch die allgemeingesellschaftliche Zustimmung, oder?

    Bispinck: Ja, das ist nicht auszuschließen. Auf der anderen Seite sind ja noch zwei weitere Verhandlungstermine mit einem gewissen zeitlichen Abstand bereits terminiert. Das heißt, wir werden jetzt mit Sicherheit keine Phase erleben, wo nun wochenlang gewissermaßen die ganze Republik mit Warnstreiks überzogen wird. Das wird wo möglich dann hin und wieder jetzt noch mal mit Warnstreiks dann weitergehen, sodass ich aber nicht davon ausgehe, dass die Geduld der Öffentlichkeit jetzt über Gebühr strapaziert wird, zumal ich davon ausgehe, dass die Grundsympathie für die gewerkschaftliche Forderung durchaus vorhanden ist.

    Engels: Das Stichwort der notwendigen gesellschaftlichen Zustimmungen zu Tarifauseinandersetzungen und möglichen Streiks bringt uns zu einem grundsätzlicheren Thema und einem anderen Streik, denn da gab es ja auch gesellschaftlich zum Teil wenig Verständnis für den Streik der Spartengewerkschaft der Flugaufsicht, die mit knapp 200 Vorfeldmitarbeitern über Tage den Frankfurter Flughafen doch sehr beeinträchtigt hat. War da noch die Verhältnismäßigkeit gegeben?

    Bispinck: Ich denke, die Verhältnismäßigkeit war gegeben. Man darf ja sozusagen einer Gewerkschaft hierzulande Gott sei Dank nicht vorschreiben, wen und wie sie organisiert und wie sie auch ihre Ziele verfolgt. Man mag das gut oder schlecht finden, aber die Gewerkschaft der Flugsicherung hat natürlich das Recht, für ihre Mitglieder aktive Interessenvertretung zu betreiben, und das schließt das Recht auf Streik auch mit ein. Mein Eindruck war, dass die Auswirkungen auf den Betrieb des Flughafens durchaus begrenzt waren. Fraport als Arbeitgeber war ja stolz darauf mitzuteilen, dass 80, zum Teil sogar 90 Prozent der Flüge durchgeführt werden konnten. Das schien mir jetzt vom Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit her nicht so zu sein, als wenn die GDF da gewissermaßen über die Strenge geschlagen hätte.

    Engels: Eigentlich ist ja Deutschland gewerkschaftlich betrachtet sehr stark nach Branchen organisiert. Sehen Sie die Gefahr, dass dieser Trend sich ändert, dahingehend, dass mehr Splittergruppen dazukommen, die dann zulasten der großen Masse, weil sie ein stärkeres Erpressungspotenzial haben, für sich höhere Löhne durchsetzen können?

    Bispinck: Das Risiko der Splittergewerkschaften, die zahlreich entstehen könnten, sehe ich so nicht. Aber natürlich gibt es das Problem, dass die Gewerkschaften den solidarischen Interessenausgleich der Belegschaften organisieren müssen. Es kann aus meiner Sicht kein Erfolg versprechendes Konzept sein, zunehmend mehr nur noch Interessen einzelner Belegschafts- oder Berufsgruppen zu vertreten, weil es dann nicht mehr gelingt, etwa in Krankenhäusern, oder auch am Flughafen für alle Beschäftigten auskömmliche Arbeits- und Einkommensbedingungen zu regeln. Es müsste gelingen, im Zweifel auch durch Kooperation der Gewerkschaften, wenn es denn schon mehrere gibt, das gemeinsame Interesse der Belegschaften an Gehaltsentwicklungen in den Vordergrund zu stellen, weil ansonsten sehr wohl das Risiko besteht, dass einzelne Belegschaftsteile gegeneinander ausgespielt werden, und damit ist letztlich dann keiner der Belegschaftsgruppen wirklich auf Dauer gedient.

    Engels: Eine Gesetzesreform des Tarifrechts, so wie sie der Arbeitsministerin vorschwebt, mehr wieder in die Richtung ein Betrieb, eine Gewerkschaft, lehnen Sie also ab?

    Bispinck: Ich rate bei gesetzlichen Maßnahmen zu äußerster Zurückhaltung. Wir sind ja in den bisherigen Jahrzehnten der Tarifpolitik sehr, sehr gut mit unserem System der Tarifautonomie gefahren. Wir haben seit einigen Jahren schon einige wenige Berufsgewerkschaften, die haben die Republik nicht zum Einsturz gebracht, die haben sich aktiv für die Beschäftigten ihrer Gewerkschaft eingesetzt. Das ist nicht immer bequem, aber ich denke, damit konnten wir gut leben. Deutschland ist ja nun auch nicht gerade ein streikfreudiges Land. Von daher denke ich, dass wir auch ohne gesetzliche Regelung mit dem bisherigen System der Tarifautonomie auch in Zukunft ganz gut zurechtkommen können.

    Engels: Reinhard Bispinck vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Vielen Dank für das Gespräch.

    Bispinck: Ich danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.