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Deutschland
"Rechts gibt es eine völkische Mobilisierung"

Laut dem Extremismusforscher und Politikwissenschaftler Dierk Borstel erlebt Deutschland eine "starke Krise der demokratischen Kultur". Unter anderem habe dies mit der Flüchtlingspolitik zu tun, die Ängste, Ressentiments und Rassismus im ganzen Land freigesetzt habe.

Dierk Borstel im Gespräch mit Christiane Kaess | 21.09.2016
    Eine Demonstration von rechtspopulistischen und rechtsextremen Gruppen am 30.07.2016 in Berlin.
    In Berlin demonstrierten Menschen im Juli 2016 gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. (dpa / picture alliance / Paul Zinken)
    Viele Menschen, die eigentlich gesellschaftlich verankert sind, seien so ermutigt worden, Flüchtlingsunterkünfte anzuzünden. "Wir haben eine neue Tätergruppe. Das heißt, wir haben nicht nur den klassischen rechtsextremen Schläger, den wir seit Ewigkeiten kennen", sagte Borstel.
    Schwäche der demokratischen Mitte
    All dies falle zusammen mit einer "eklatanten Schwäche der Demokraten in der Mitte. Rechts gebe es eine "völkische Mobilisierung" - und die Mitte wisse nicht, wie sie darauf reagieren soll.
    Die Situation sei ernst, die Politik habe keine Zeit, sich im "Klein-Klein zu verlieren". Es müsse eine Idee geben, wie die Gesellschaft zukünftig demokratisch gestaltet werden könne. Die Rechtsextremen haben klare Antworten und propagieren das Konzept des "völkischen Nationalstaats". Das sei für viele Menschen anziehend, die sich von den demokratischen Parteien nicht mehr verstanden fühlen. Besonders ausgeprägt sei dies in Ostdeutschland, wie der vorgestellte Regierungsbericht zur deutschen Einheit deutlich zeigt.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Wie sehr ist der soziale Frieden in Ostdeutschland gefährdet, 26 Jahre nach der Wiedervereinigung? Die Häufung der rechtsextremen Übergriffe im letzten Jahr veranlasst zu Sorge. Festgehalten ist das im Jahresbericht zur deutschen Einheit, den das Kabinett in Berlin heute vorgestellt hat. Am Telefon ist jetzt Dirk Borstel. Er ist Politikwissenschaftler und Rechtsextremismus-Forscher an der Fachhochschule Dortmund. Guten Tag, Herr Borstel.
    Dirk Borstel: Schönen guten Tag.
    Kaess: Überrascht Sie der Inhalt des Jahresberichts zur deutschen Einheit?
    Borstel: Die Deutlichkeit der Worte ist erst mal erfreulich, dass es tatsächlich um den inneren Frieden, dass es um die demokratische Kultur geht, und der Bericht enthält auch viele Problemanalysen, die für diejenigen, die sich länger damit beschäftigen, jetzt zwar nicht neu sind und die man eigentlich seit 25 Jahren schon kennt, aber es ist ja immer gut, wenn so was mal wieder aufgeschrieben wird und wenn das dann auch öffentlich verkündet wird. Von daher: Die Bundesregierung zeigt ein Problembewusstsein und ich hoffe, dass daraus jetzt auch Handlungen entstehen.
    Kaess: Das ist ja eine ziemlich starke Interpretation, diese Gefährdung des gesellschaftlichen Friedens. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, würden Sie das durchaus auch so sehen?
    Borstel: Ja. Wir haben eine aktuelle starke Krise der demokratischen Kultur. Ich kann jetzt mit dem Friedensbegriff nicht so ganz viel anfangen, weil das klingt so nach irgendwie Stille und Harmonie, und um die geht es uns ja in der Demokratie nicht, sondern wir haben im Endeffekt einen dreiteiligen Prozess. Wir haben eine Radikalisierung in einem Teil der Mitte der Gesellschaft, übrigens nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch im Westen. Das hat zu tun mit der Flüchtlingspolitik, mit Ängsten, und da ist etwas freigesetzt worden auch an Aggression, an Rassismus, was davor schon da war, aber jetzt in der Öffentlichkeit ist. Und durch diese Freisetzung in der Mitte, die sich ja auch widerspiegelt in der Gründung einer neuen Partei, die sich widerspiegelt in den Demonstrationen der Pegida-Anhänger und Ähnliches, fühlten sich vor allem auch gewaltbereite Rechtsextremisten, also diejenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen, ermutigt, Gewalt wieder anzuwenden. Da haben wir tatsächlich - und darauf weist der Bericht hin - auch was Neues: Wir haben eine neue Tätergruppe. Das heißt, wir haben nicht nur den klassischen rechtsextremen Schläger, den wir seit Ewigkeiten kennen, sondern da haben sich viele, die gesellschaftlich sehr verankert sind, vor Ort jetzt ermutigt gefühlt, zum Beispiel Brandanschläge auf Flüchtlingsheime zu unternehmen, und das ist neu.
    Das Ganze - und das ist der dritte Punkt - fällt zusammen mit einer eklatanten Schwäche von uns Demokraten in der Mitte. Das heißt, wir haben rechts eine Mobilisierung, eine völkische Mobilisierung, und uns fehlen ein bisschen die Ideen, auch die Visionen, auch die Vorstellung davon, was wir denen eigentlich als demokratische Antwort entgegensetzen. So kommen halt drei Sachen zusammen, die das Problem stark verschärfen.
    Kaess: Sie haben gesagt, da wird was freigesetzt. Aber das ist etwas, was schon immer da war, auch in der bürgerlichen Mitte.
    Borstel: Richtig. Das kennen wir aus ganz vielen Untersuchungen. Die Bielefelder Kollegen weisen seit 15 Jahren auf dieses Phänomen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zum Beispiel hin. Das sind abwertende Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft, also von Menschen, die gesellschaftlich verankert sind, die sich auch politisch mittig sehen, die aber trotzdem Vorstellungen von einem Alltagsrassismus, von Antisemitismus, teilweise auch von völkischen Ideen haben. Nur hat sich das bisher weniger in der Öffentlichkeit gezeigt, sondern das war dann etwas, was man so am Familientisch mal mitbekommen hat, was man unter vorgehaltener Hand gesagt hat. Mit der Alternative für Deutschland, aber auch mit diesen Demonstrationen und mit vielen Internetforen gelangt es jetzt an eine ja tatsächlich größere Öffentlichkeit und wird damit vor allem sichtbar. Es ist nicht neu, sondern sichtbar geworden.
    "Wir brauchen eine Idee davon, wie wir demokratisch zukünftig diese Gesellschaft gestalten wollen"
    Kaess: Sie haben von der Schwäche der politischen Mitte gesprochen. Was würden Sie denn der Politik raten, um diese Mitte wieder zu stärken?
    Borstel: Ich glaube nicht, dass wir jetzt die Zeit haben für so ein Klein-Klein und hier noch ein kleines Sonderprogramm und da noch ein bisschen symbolisches Handeln, sondern was wir brauchen ist tatsächlich eine Idee davon, wie wir demokratisch zukünftig diese Gesellschaft gestalten wollen. Die Rechtsextremen haben klare Antworten. Das heißt, das zielt zurück auf so eine Vorstellung eines völkischen Nationalstaates. Das sind so die Antworten aus der Bismarck-Zeit. Was wir aber brauchen sind Antworten des 21. Jahrhunderts. Das heißt, auf die Herausforderungen, die wir heute haben. Und da verzetteln wir uns. Wir erleben demokratische große Parteien, die sich in massiver Schwindsucht befinden, und wir brauchen einen neuen demokratischen Aufbruch, tatsächlich für eine Gesellschaft, die für Toleranz, die für Weltoffenheit steht, die also auch erkennt, wenn gesellschaftliche Milieus auseinanderfallen, dass man wieder miteinander kommunizieren muss, um überhaupt demokratisch handlungsfähig zu sein, die respektvoll ist gegenüber den großen Religionen, die aber auch international sich so aufstellt, weil wir wissen, dass wir ja viele Probleme, die wir haben, national gar nicht mehr lösen können. Das heißt, wir brauchen jetzt nicht das kleine Sonderprogramm hier und das kleine symbolhafte Handeln da, sondern wirklich eine neue Vorstellung davon, mit der wir dann auch Menschen begeistern können, mit der wir auch tatsächlich in eine positive Zukunft sehen können.
    Kaess: Aber was Sie jetzt gesagt haben, Herr Borstel, das ist ja eigentlich auch nicht neu. Aber warum lässt sich das nicht mehr vermitteln?
    Borstel: Die Kommunikation ist weitgehend abgebrochen. Das heißt, viele Bürger fühlen sich von den demokratischen Parteien, um die jetzt mal zu nennen, überhaupt nicht mehr verstanden. Und sie verstehen auch die Sprache nicht und sie verstehen auch nicht die strategischen Spielchen, die gespielt werden. Das heißt, wir leben in einer Situation, wo verschiedene Bevölkerungs-Milieus - das ist von Arm und Reich zum Beispiel, aber auch von Stadtteil zu Stadtteil, auch von bildungsstark zu bildungsschwach - sich voneinander verabschiedet haben. Wir kommunizieren zu wenig, wir reden in einer Sprache, die die anderen nicht verstehen, wir reden oft mit einem erhobenen Zeigefinger über andere hinweg, anstatt mit ihnen gemeinsam zu streiten, aufsuchend auch zu streiten. Und immer dann, wenn so eine Kommunikation nicht mehr stattfindet, über Milieu-Grenzen und auch Bildungsgrenzen hinweg, dann bröckelt halt eine demokratische Kultur. Somit haben wir zwar viele Ideen im Einzelnen, der eine kocht hier und der andere kocht da sein Süppchen, aber uns gelingt es nicht, daraus tatsächlich einen neuen Schwung, eine neue auch emotionale Bindung zu erzielen für die Werte der Demokratie, sondern die Demokratie wird verwaltet - nun kann man sich streiten, ob gut oder schlecht -, aber sie schafft es nicht mehr zu begeistern. Das ist sozusagen das Einfallstor, was die Rechtsextremen und die Rechtspopulisten nutzen.
    Kaess: Schauen wir noch mal konkreter auf Ostdeutschland und das, was der Jahresbericht zur deutschen Einheit nahelegt. Es geht ja, wie Sie schon gesagt haben, um Werte der westlichen Demokratie. Was ist der Grund, warum ein Teil der Menschen in Ostdeutschland diese Werte ablehnt oder offensichtlich diese Werte nie angenommen hat?
    Borstel: Man muss ein bisschen gucken, wie die Demokratie übers Land kam. Ein Teil der Bevölkerung hat sie erkämpft mit großen Hoffnungen und viele dieser Hoffnungen sind zumindest im Einzelnen, im Klein-Klein enttäuscht worden. Das sieht man am besten, wenn man ein bisschen mal vergleicht, wie in den 50er-Jahren im Westen die Demokratie kam. Da kam sie zusammen mit dem Wirtschaftswunder. Das heißt, man wusste, dieses System ist in der Lage, Arbeit zu schaffen, Wohlstand zu schaffen, eine positive Zukunft, diese Idee, dass es zumindest den eigenen Kindern später einmal besser gehen würde.
    Das hat im Westen (*) nicht stattgefunden, sondern im Westen (*) wurde es für viele verbunden mit sozialem Abstieg, mit Ängsten, mit Unsicherheit, aber auch mit dem Wissen, dass die Perspektive in den einzelnen Regionen auch sehr unterschiedlich, in einigen ja bis heute auch sehr, sehr schlecht bis schwach ist. Das bedeutet, wir haben zwar einen Teil der Gesellschaft, und zwar einen großen Teil, der sich bis heute hin für die Demokratie als Idee begeistert, der aber nicht mit dem Zustand der realen Demokratie tatsächlich einverstanden ist. Und wir haben auch einen Teil der Bevölkerung, der sich mit der Demokratie tatsächlich nie wirklich arrangiert hat, der eigentlich was anderes wollte, früh schon auch völkische Vorstellungen hatte, andere Vorstellungen eines Zusammenlebens, und uns ist es in den 25 Jahren nicht gelungen, dieses Milieu, was heute zum Teil eben AfD wählt, tatsächlich auf die Seite einer liberalen, weltoffenen Vorstellung von Demokratie zu ziehen.
    "Ich befürchte ein bisschen, dieser Bericht wird über die Tagesberichterstattung keine große Wirkung erzielen"
    Kaess: Geben Sie uns zum Schluss noch eine kurze Einschätzung. Was glauben Sie, wie es in den nächsten Jahren weitergeht mit dieser Entfremdung von demokratischen Werten? Wird das noch stärker werden, oder wird das zurückgehen?
    Borstel: Ich habe nun keine Glaskugel und blicke immer ungern in die Zukunft. Aber die Erfahrung zeigt im Moment, dass ich nicht besonders optimistisch bin, weil trotz eines solchen Berichtes, der ja eine gewisse Problemanalyse beinhaltet, fehlt mir bis heute ein inneres Problemverständnis. Ich befürchte ein bisschen, dieser Bericht wird über die Tagesberichterstattung keine große Wirkung erzielen. Es fehlt vor allem auch bei den demokratischen Parteien, aber auch darüber hinausgehend ein weitergehendes Verständnis für die tiefer liegenden Gründe dieser Krise, und meine Erfahrung aus den letzten Jahrzehnten sagt einfach, die meisten machen dann doch eher ein weiter so in ihrem kleinen System. Das wird aber nicht reichen, um die Probleme tatsächlich zu beheben. Von daher blicke ich eher pessimistisch in die Zukunft.
    Kaess: Die Einschätzung von Dirk Borstel. Er ist Politikwissenschaftler und Rechtsextremismus-Forscher an der Fachhochschule Dortmund. Danke für Ihre Zeit heute Mittag.
    Borstel: Danke schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    (* Anmerkung der Online-Redaktion: Interview-Partner Borstel sagt im Audio "Westen". Gemeint ist in diesem Zusammenhang aber "Osten".)