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Deutschland
Streikfreude nimmt zu

Sei es der Streik eines Unternehmens oder im öffentlichen Dienst: So mancher Streik hat durch seine Dauer in den vergangenen Jahren genervt. Dennoch gab es immer wiederkehrende Aussagen, dass hierzulande relativ wenig gestreikt wird. Eine neue Studie belegt jetzt jedoch, dass dieses Klischee in Deutschland so nicht mehr zutrifft.

Von Michael Braun | 06.06.2016
    Ein Fluggast wartet auf dem Flughafen Berlin Tegel vor einer Anzeigetafel, auf der die Lufthansa-Flüge mit dem Vermerk "cancel" versehen sind.
    Ein Fluggast wartet auf dem Flughafen Berlin Tegel vor einer Anzeigetafel, auf der die Lufthansa-Flüge mit dem Vermerk "cancel" versehen sind. (dpa / picture alliance / Kay Nietfeld)
    Zuletzt gingen die Warnstreiks in der Metallindustrie durch die Medien, davor, im April, litten Kitas, Pflegeheime und Kliniken unter den Arbeitskämpfen der Gewerkschaft Verdi. Wer den Eindruck hat, die Streikfreude in Deutschland setze früher ein und nehme insgesamt zu, täuscht sich nicht.
    Hagen Lesch, Tarifexperte beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft, hat seine langen Reihen über die durch Streik ausgefallenen Arbeitstage verlängert und im neuesten "Gewerkschaftsspiegel" veröffentlicht:
    "Unsere Bilanz hat sich durch das Streikjahr 2015 deutlich verschlechtert."
    Um die statistische Wirkung großer Streiks zu glätten, schaut Lesch in seiner Studie auf Zehn-Jahres-Zeiträume und bildet dann den jährlichen Durchschnitt. So kommt er auf jeweils sieben ausgefallene Arbeitstage für Deutschland in den Jahren 2006 bis 2015, bezogen auf je tausend Beschäftigte. Das waren drei ausgefallene Tage mehr als im Zehn-Jahres-Zeitraum von 2005 bis 2014. Das Streikjahr 2015 hat also deutliche Wirkung gezeigt:
    "Wir haben im letzten Jahr Großkonflikte gehabt, wie beispielsweise bei der Deutschen Post oder auch bei den Kindertagesstätten. Die haben sehr, sehr viele Ausfalltage produziert. Und dann haben wir natürlich noch ein weiteres Phänomen. Wir haben starken Gewerkschaftswettbewerb bekommen. Die kleinen Berufsgewerkschaften, wie beispielsweise die Lokführergewerkschaft, die treiben so ein bisschen die großen Gewerkschaften, vor allem Verdi, vor sich her."
    Deutschland liegt im Mittelfeld
    Das Wachstum von durchschnittlich drei auf sieben ausgefallene Arbeitstage ist deutlich. Aber insgesamt ist die Streikfreude immer noch wenig ausgeprägt. Gut, in Japan mit null und in der Schweiz mit einem ausgefallen Arbeitstag pro tausend Beschäftigte geht es deutlich friedlicher zu. Mit den sieben Ausfalltagen in Amerika und den acht in den Niederlanden bildet Deutschland die Mittelgruppe – die aber weit entfernt von den streikfreudigsten Ländern liegt: In Dänemark sind je tausend Beschäftigte 120 und in Frankreich 117 Arbeitstage durch Streik weggefallen. Die Ursache für diese Differenz kann man derzeit in Frankreich sehen:
    Selbst junge Franzosen fordern den Generalstreik. Der Kampf gegen Präsident Hollandes Arbeitsmarktreformen verliert in Frankreich zwar öffentliche Unterstützung, wird dennoch auch kurz vor der Fußball-Europameisterschaft weitergeführt. Anders als in Frankreich sind in Deutschland politische Streiks verboten. Das vor allem erklärt die Differenz.
    Streikende haben die Zufahrt zu einer Straße mit brennenden Autoreifen blockiert, um gegen die Arbeitsmarkt-Reform der französischen Regierung zu protestieren.
    Streikende haben die Zufahrt zu einer Straße mit brennenden Autoreifen blockiert, um gegen die Arbeitsmarkt-Reform der französischen Regierung zu protestieren. (picture alliance / dpa / Franck Dubray)
    Was Arbeitsmarktforscher in Deutschland beobachten, ist, dass die Streiks nicht in der Industrie, sondern im öffentlichen Dienst zunehmen. Hagen Lesch erklärt sich das so:
    "In der Industrie haben Gewerkschaften und Arbeitgeber gelernt, dass Streiks beiden Seiten schaden. Ich glaube, dass im öffentlichen Dienst diese Botschaft noch nicht angekommen ist. Auch weil man weiß: Ein Streik trifft uns nicht so sehr im internationalen Wettbewerb."
    Dass sich das Streikgeschehen in den Dienstleistungssektor verschiebt, lässt sich auch in anderen Ländern beobachten, sei aber, so das IW, noch kein generelles Phänomen.