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Deutschland und die Flüchtlinge
"Wie ein Hippie-Staat von Gefühlen geleitet"

Der britische Politologe Anthony Glees hat Deutschlands Vorgehen in der Flüchtlingskrise als "undemokratisch" kritisiert. Im DLF sagte er, Berlin habe sich mit der Entscheidung, die in Ungarn gestrandeten Migranten aufzunehmen, nicht an EU-Regeln gehalten. In Großbritannien herrsche der Eindruck, die Deutschen hätten den Verstand verloren.

Anthony Glees im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 08.09.2015
    Anthony Glees
    Der Politologe Anthony Glees (June Costard)
    "Man mag über Ungarn denken, was man will. Aber wenn Deutschland sich nicht an die Regeln hält, fällt die ganze EU auseinander", sagte Glees. Deutschland gebe sich im Moment als "Hippie-Staat, der nur von Gefühlen geleitet wird". Statt nur mit dem Herz, müsse man auch mit dem Hirn handeln, forderte der Politologe - so wie es auch der britische Premierminister David Cameron gefordert hatte.
    Nach Glees' Worten gibt Deutschland Kennern des Landes im Moment Rätsel auf. Während Großbritannien sich in Syrien militärisch engagiere, um die Terrormiliz "Islamischer Staat" zu bekämpfen, halte sich Berlin heraus. Gleichzeitig sage die Bundesregierung dann aber den verzweifelten Menschen in Syrien und im Irak, sie sollten in die Bundesrepublik kommen. "Das scheint vielen Briten unsinnig. Viele meinen, die Deutschen hätten ihr Gehirn verloren."
    Er bedaure sehr, dass die Ereignisse der vergangenen Tage die Deutschen in Großbritannien "sehr unsympathisch" gemacht hätten.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: "Willkommenskultur" könnte das nächste deutsche Wort sein, das es in den englischen Sprachgebrauch schafft. Das schreibt zumindest in diesen Tagen die britische Tageszeitung "The Guardian". Tatsächlich wird in vielen Ländern zurzeit mit einigem Erstaunen beobachtet, wie die Deutschen zurzeit Flüchtlinge nicht nur willkommen heißen, sondern sie begrüßen, versorgen und sie sogar einladen, im Land zu bleiben. Das passt häufig nicht ganz zusammen mit einem Deutschland-Bild, das noch immer im Ausland geprägt ist von Arroganz und einer gehörigen Portion Ausländerfeindlichkeit. - Am Telefon ist jetzt Anthony Glees, Politikwissenschaftler an der Universität im britischen Buckingham. Er verfolgt seit Jahren sehr genau die britisch-deutschen Beziehungen. Schönen guten Morgen, Professor Glees.
    Anthony Glees: Guten Morgen.
    Armbrüster: Herr Glees, als Sie von den Willkommensrufen gehört haben, zum Beispiel am Münchener Hauptbahnhof in diesen Tagen, wie sehr hat Sie das überrascht?
    Glees: Das hat mich sehr überrascht, nicht weil ich meine, die Deutschen und die deutsche Regierung hat keine humanitären Gefühle, sondern, weil Deutschland besonders während der Griechenland-Krise immer auf die Regeln, auf die Gesetze sich begründet hat. Und das, was Frau Merkel und die Bundesrepublik im Hinblick auf Ungarn gemacht hat, schien widerrechtlich zu sein, und das war ein großes Rätsel für viele Deutschland-Kenner und Deutschland-Freunde in Großbritannien.
    Armbrüster: Wie lösen Sie denn dieses Rätsel auf? Was ist Ihre Erklärung dafür?
    Glees: Ich weiß es nicht. Ich glaube, es kann sein, dass Deutschland historische Gefühle hat, die den Briten ganz fehlen. Es kann sein, dass in 2015 es immer noch ein Gedächtnis gibt von dem, was vor dem Zweiten Weltkrieg 1938/1939 passiert ist mit Flüchtlingen. Aber für Großbritannien, wo wir zurzeit nicht nur den Terrorismus bekämpfen, nicht nur mit dem wirtschaftlichen Emigranten-Problem fertig werden müssen, sondern auch mit dem humanitären Problem fertig werden müssen, schien die deutsche Haltung einfach salopp und nicht richtig durchgedacht und besonders in Sachen Europa, wenn die Deutschen sich nicht an die Regeln halten. Man mag denken über die ungarische Regierung was man will, aber die Regeln sind da, und wenn Deutschland sich nicht an die Regeln hält, dann fällt, so wird behauptet, die ganze Union auseinander.
    In den Augen vieler Briten ein unsinnes Verhalten
    Armbrüster: Und dieses Bild von einem Deutschland, das sich nur fest an die Regeln hält, das fällt jetzt sozusagen in sich zusammen?
    Glees: Genau, und das ist ein großer Unterschied und die tektonischen Platten bewegen sich, wenn Deutschland sich als Hippie-Staat verhält, wo nur von Gefühlen Deutschland geleitet wird. David Cameron hat meiner Meinung nach ganz richtig gestern im Unterhaus in Großbritannien gesagt, Großbritannien muss natürlich mit dem Herzen handeln, aber muss auch mit dem Gehirn handeln. Und die Frage in Großbritannien ist: Wenn Frau Merkel diese Politik jetzt betreibt, eine ganz andere Politik, die man mit Griechenland betrieben hat, wo soll es ein Ende geben? Großbritannien mischt sich schon militärisch in den Kampf, den Lebenskampf gegen den sogenannten Islamistischen Staat ein. Deutschland dagegen hält sich immer auch aus diesen Sachen heraus. Aber dann zur gleichen Zeit zu sagen zu den verzweifelten, armen Völkern in Syrien und in Irak, bitte kommt in die Bundesrepublik, scheint vielen Briten unsinnig zu sein. Das wird dann nie aufhören!
    Drei junge Frauen stehen mit einem Begrüßungsplakat mit der Aufschrift "Refugees Welcome" für Flüchtlinge an den Gleisen.
    Willkommenskultur am Hauptbahnhof Frankfurt am Main (dpa / Frank Rumpenhorst)
    Armbrüster: Das heißt, viele Briten nehmen das mit Erstaunen zur Kenntnis, aber sie fühlen sich nicht unbedingt dazu aufgerufen, es den Deutschen nachzumachen und zu sagen, ihr könnt auch zu uns reinkommen?
    Glees: Nein, nicht nachzumachen. David Cameron hat gesagt, wir werden 40.000 Leute aus den syrischen Lagern, also die Flüchtlinge, die nicht in Syrien sind, aber im Libanon und Jordanien in Großbritannien aufnehmen, aber dass wir keine nehmen werden, die illegal versuchen, in die Europäische Union hineinzukommen. Das war für ihn ein Grundsatz. Denn wenn man das mit einigen machen sollte, dann müsste man das mit allen machen. Das wäre unmöglich und man würde das Problem nicht beenden können, wenn man immer eine offene Tür hat. Dabei gibt es auch das Problem für viele Briten: Diese Flüchtlinge kommen nach Deutschland, aber nach fünf Jahren bekommen sie Ausweise, mit denen sie durch die ganze Europäische Union reisen können. Großbritannien ist bekanntlich nicht Mitglied von Schengen. Zurzeit können diese Leute nicht legal nach Großbritannien kommen. Aber in fünf Jahren ist es möglich, dass Millionen, die nach Deutschland gekommen sind, nach Frankreich und in andere Länder, dann nach Großbritannien kommen. Das ist das Gefühl und es ist sehr gefährlich. Ich würde sogar sagen, es ist undemokratisch. Die Leute, die eine vernünftige humanitäre Politik haben, müssen unterscheiden können zwischen den Leuten, die aus Verzweiflung nach Europa kommen wollen, und den Leuten, die aus wirtschaftlichem Verbesserungsgefühl kommen, die man sehr gut verstehen kann. Bitte, das muss mal betont werden.
    "Angst, dass sich der Charakter Europas grundsätzlich ändern wird"
    Armbrüster: Herr Professor Glees, diese Debatte läuft ja auch bei uns, diese Frage darüber, wer nun bei uns bleiben kann und wer zurückgeschickt werden soll. Ich würde aber trotzdem gerne noch einmal zurückkommen auf das Bild der Deutschen. Was schwingt denn da jetzt mit in Großbritannien in diesen Tagen, wenn man diese Bilder aus Deutschland sieht? Ist das Bewunderung, oder ist das eher, wie Sie jetzt gerade gesagt haben, so eine gewisse Angst, dass die Deutschen jetzt die Türe aufmachen und dann Menschen möglicherweise zu uns, auch nach ganz Europa kommen, von denen wir nicht wissen, was sie eigentlich vorhaben?
    Glees: Das ist diese Angst, dass der Charakter von Europa sich jetzt grundsätzlich verändern wird durch die deutsche Haltung, aber auch, dass die Deutschen sich nicht an die Regeln, ihre eigenen Regeln von Schengen halten. Wenn es Deutschland einfällt, dass man Sondermaßnahmen, Ausnahmen machen soll, dann tut das auch Deutschland, und ich glaube, das ist sehr schwierig. Man könnte philosophisch argumentieren: Die Leute in Großbritannien, die meiner Meinung nach falsch sind, dass Großbritannien aus der EU austreten soll, sagen immer, die Europäische Union ist ein Superstaat, die will ja alles kontrollieren. Mit der Flüchtlingskrise haben wir doch genau das Gegenteil gesehen. Das kann keiner kontrollieren. In Calais stehen Tausende, die versuchen, durch den Kanaltunnel zu kommen. Diese Gesetzlosigkeit preiszugeben, kann das Ende der Union bedeuten. Das wäre fürchterlich.
    "Viele meinen, die Deutschen haben hier ihr Gehirn verloren"
    Armbrüster: Nun hat Angela Merkel in diesen Tagen auch gesagt, was gebraucht wird in dieser Situation ist deutsche Flexibilität. Kommt sie damit nicht eigentlich den Briten sehr entgegen, denn die sind ja immerhin Weltmeister in Sachen politischer Flexibilität?
    Glees: Sie müssen mir verzeihen, wenn ich darüber lache, diese zwei Worte in eine Bindung zu bringen, Deutsche und Flexibilität. Die Deutschen stehen da als Rechtsstaatsleute, die Gesetzen folgen, die das vielleicht mit dem Herzen machen, aber immer mit dem Gehirn. Das ist genau jetzt umgekehrt und wie gesagt, viele meinen, die Deutschen haben hier ihr Gehirn verloren.
    Begleitet von einem Polizeiauto sind zahlreiche Menschen zu Fuß auf der Autobahn unterwegs.
    Flüchtlinge auf der Autobahn nach Budapest: "Das kann keiner kontrollieren". (AFP/Csaba Segesvari)
    Armbrüster: Das heißt, diese eher flexible Herangehensweise an die Dinge, die macht die Deutschen im Ausland, zumindest in Großbritannien, bei Ihnen nicht unbedingt sympathischer?
    Glees: Sehr unsympathisch, und das bedauere ich sehr. Die Europäische Union kann sich nicht immer von Frankreich und Deutschland behandeln lassen. Das ist auch für die neuen Demokraten und die am südlichen Rand der Europäischen Union sehr wichtig zu sehen. Entweder wird dieses fürchterliche Problem - viele Leute in Großbritannien haben Familiengeschichten, wo Immigranten stehen. Die Königin sogar kommt ja bekanntlich aus einer deutschen Familie. Auch in meiner Familie sind Immigranten da. Das ist ein fürchterliches Problem. Aber es ist nur durch Gesetze und Verständigung von allen Beteiligten zu lösen. Das kann nicht nur von Deutschland und Frankreich und vielleicht Italien gelöst werden.
    Armbrüster: Die Einschätzungen waren das von Professor Anthony Glees, Politikwissenschaftler an der Universität im britischen Buckingham. Vielen Dank, Herr Glees, für Ihre Zeit heute Morgen.
    Glees: Gerne geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.