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Syrien
Alawiten wenden sich gegen Assad

In einem Schreiben haben sich Vertreter syrischer alawitischer Großfamilien von Präsident Baschar al-Assad distanziert und seine Absetzung gefordert. Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor sieht darin einen möglichen Schlüssel, um im Syrien-Konflikt voranzukommen. Denn der Einfluss der Familien, vor allem auf das Militär, sei groß, sagte sie im DLF.

Lamya Kaddor im Gespräch mit Doris Simon | 04.04.2016
    Porträt von Lamya Kaddor im Studio der ARD-Sendung "Anne Will"
    Die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor. (dpa / Karlheinz Schindler)
    Doris Simon: Es könnte eng werden für den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Die Vertreter alawitischer Großfamilien distanzieren sich von der Regierung und bieten der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit eine umfassende Versöhnung an. Das ist zu erkennen in einem Schreiben, das die "Welt am Sonntag" veröffentlicht hat. Wörtlich heißt es darin: "Das jetzige Regime ist totalitär, vertritt nicht die Alawiten; damit es Frieden geben kann, müssen seine Vertreter aus der Regierung verschwinden." Das Pikante: Baschar al-Assad ist selber Alawit und die kleine Minderheit hat ihn und seinen Vater jahrzehntelang bedingungslos unterstützt und davon auch enorm profitiert. Am Telefon ist jetzt die syrischstämmige Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor, guten Morgen!
    Lamya Kaddor: Guten Morgen!
    Simon: Frau Kaddor, welche Rolle spielen die, die jetzt offen den Präsidenten angehen für das Regime und in Syrien?
    Kaddor: Na ja, wir wissen ja nicht so genau, um wen es sich da handelt, weil die Namen ja geheim gehalten werden. Aber sollte es zutreffen, dass es bekannte syrische alawitische Großfamilien sind, so spielen sie definitiv eine Rolle, alleine schon weil sie dem Clan oder zumindest der gleichen Religion wie der jetzige Präsident angehören. Wahrscheinlich spielen sie eine nicht ganz unwichtige Rolle und stammen auch aus der Küstenregion Syriens. Umso interessanter und wichtiger und bemerkenswerter ist eben dieser Vorgang.
    "Das könnte ein Schlüssel sein, um voranzukommen"
    Simon: Alawitische Großfamilien, das ist ja nichts, womit wir hier täglich zu tun haben. Wie würden Sie den Einfluss beschreiben?
    Kaddor: Wahrscheinlich groß, zumindest was so das Militär betrifft. Also, lange Zeit, seit Ewigkeiten, seit ich jedenfalls denken kann, gehören die Alawiten vor allen Dingen - oder werden von mir und anderen Syrern zum Militär assoziiert, weil dort große Teile der alawitischen Großfamilien eben Generalsposten innehaben und andere Dinge. Das heißt, sie haben schon einen gewissen Einfluss, gerade wenn man bedenkt, dass Syrien ja eine Militärdiktatur darstellt.
    Simon: Sie sprechen die Militärs an, alawitische Militärs und Milizen werden ja in Syrien im Krieg seit fünf Jahren für Kriegsverbrechen und für Terror gegen Andersgläubige verantwortlich gemacht. Sie deuteten es an, Alawiten haben jahrzehntelang Vater und Sohn Assad durch dick und dünn und in vielem Übel unterstützt. Wie ernst wird da - wenn das alles so kommt, wie es beschrieben ist - die sunnitische Mehrheitsbevölkerung ein solches Versöhnungsangebot nehmen können?
    Kaddor: Ja, das bleibt fast noch offen. Also, im Grunde genommen kann man nur hoffen, dass sie es ernst nehmen, denn im Moment und schon seit Langem tut sich ja keine wirkliche Alternative auf. Also, das gemeinsame Ziel, dass Assad eben weg muss, ich glaube, das sehen scheinbar auch die Verfasser dieses Angebots, dass es eben mit Assad nicht mehr weitergeht. Und ich glaube, das könnte ein Schlüssel sein, um voranzukommen. Wird schwierig, zumal die sunnitische Mehrheit ja große Bedenken hat, auch lange Zeit seitens dieses Regimes im Grunde genommen - ich will nicht sagen unterdrückt wurde - aber doch eher ruhig gehalten worden ist und Alawiten beispielsweise, oder auch andere Minderheiten im Land, lange Zeit Vorteile bekommen haben, wie auch immer. Und ob sie sich jetzt darauf einlassen unter der Prämisse, dass wenigstens Assad weg muss, das ist tatsächlich spannend zu beobachten. Ich würde es mir wünschen, für das Land, auch für die Menschen, die diesen Krieg ja schon echt überdrüssig geworden sind.
    "Teile der alawitischen Gemeinschaft stehen nicht hinter Assad"
    Simon: Für die alawitischen Großfamilien wäre das ja ein großer Schritt. Denn ich meine, Assad war ja ihr ganz großer Schützer, Ernährer, alles hing und hängt an Assad. Können Sie sich erklären, warum gerade jetzt das Angebot kommt?
    Kaddor: Nun, ich glaube, es ist ein Trugschluss zu glauben, dass alle Alawiten in Syrien diese Nibelungenliebe im Grunde genommen bis zum Tode Assad gegenüber halten würden. Das ist ja logischerweise auch absurd, alle Alawiten zusammenzufassen und zu sagen, also, alle stehen hinter ihm. Also, das war schon ganz früh zu Beginn dieses syrischen Bürgerkrieges absehbar, dass große Teile der Alawiten nicht zu Assad halten. Also beispielsweise die Schriftstellerin Samar Yazbek hat sehr früh ein Buch publiziert und sich sehr stark gegen Assad gemacht, obwohl sie eben auch alawitischer Herkunft ist. Also, das ist nicht völlig ungewöhnlich, dass es große Teile der alawitischen Gemeinschaft gibt, die Assad und auch die Personen hinter Assad vor allen Dingen sehr, sehr kritisch sehen und eher ein Syrien wollen, das Konfessionen eben, wenn benennt, zumindest in Frieden benennt und nicht 30 Jahre lang völlig tabuisiert, so wie es ja eben unter Assad und seinem Vater lange Zeit war.
    Offener Aufruf "sehr" gefährlich
    Simon: Noch ist der syrische Präsident ja im Amt und er hat andere Meinungen oder Widerstand ja noch nie geduldet. Wie gefährlich ist dieser offene Aufruf, auch wenn die Unterzeichner anonym bleiben, bisher für diejenigen, die sich da angeschlossen haben?
    Kaddor: Ich glaube, sehr. Und das zeigt eben auch, dass sie sich tatsächlich nur anonym solche Briefe oder solche Annäherung leisten können. Das ist gar nicht so ungefährlich und ich hoffe auch, wie gesagt, dass Sunniten genau das erkennen und vielleicht sich da endlich auch mal annähern. Denn ich glaube, es gibt - zumindest nach meiner persönlichen Einschätzung - kein Ziel zu einem friedlichen Syrien mit Assad. Und ich glaube, das haben eben doch große Teile dieses Landes verstanden, dass man nicht mit einem "Massenmörder" ernsthaft darüber verhandeln kann, wie die Zukunft Syriens aussieht. Und das Applaudieren zur Einnahme oder zur Rückeinnahme, wenn man so will, Palmyras ist zu großen Teilen der Bevölkerung doch auf großen Widerstand gestoßen. Jahrzehntelang - das sage ich auch aus eigener familiärer Betroffenheit -, jahrelang, jahrzehntelang wurden Menschen gefoltert im Staatsgefängnis von Palmyra und dann ist man plötzlich völlig bestürzt, dass ISIS im Grunde genommen genau das Gleiche macht, was Assad jahrzehntelang hinter verschlossenen Mauern gemacht hat. Das ist schon bitter.
    "Ein erster Hoffnungsschimmer"
    Simon: Wenn wir davon ausgehen, dass dieses Papier glaubwürdig ist: Ist das der Anfang vom Ende von Baschar al-Assad? Den hat man ja schon öfter ausgerufen.
    Kaddor: Ich würde da sehr vorsichtig sein, aber es wäre ein erster Hoffnungsschimmer, ein ernst zu nehmender erster Hoffnungsschimmer. Denn ich glaube, nur darin könnte der Schlüssel liegen, dass aus der syrischen Gesellschaft heraus diese Bewegungen kommen müssen. Von außen wird es sehr, sehr schwierig, man sieht ja, wie wenig weit man kommt.
    Simon: Vertreter alawitischer Großfamilien haben - anonym allerdings - den Rücktritt von Präsident Assad, selber Alawit, gefordert. Das waren Einschätzungen der syrischstämmigen Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor. Frau Kaddor, vielen Dank dafür!
    Kaddor: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.