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Deutschlands Muslime, europäischer Islam

Thilo Sarrazin ist Persona non grata im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Als sein Verlag kürzlich anfragte, ob dort "Deutschland schafft sich ab” diskutiert werden könnte, gab es eine brüske Absage. Nun war gestern Abend ein Mann zu Gast, dessen Ansichten ein absolutes Kontrastprogramm zu Sarrazins Thesen darstellen: der Islamwissenschaftler Tariq Ramadan.

Von Frank Hessenland | 22.01.2011
    Kopftuchtragende junge türkischstämmige Frauen, arabische Männer mit kurz geschnittenen Vollbärten. Dazwischen alternde deutsche 68er in verwaschenen T-Shirts oder zerwetzten Jeans. Bis auf den letzten seiner 1025 Plätze war das Haus der Kulturen der Welt gestern gefüllt. Hunderte Zuschauer drängten sich zusätzlich draußen vor der Tür, als Tariq Ramadan, der unumstrittene Starredner des Abends prophezeite:

    "Wenn ich diesen Saal sehe, dann weiß ich, das ist Deutschlands Zukunft. Ihr werdet die Zukunft gestalten."

    Ramadan schwor seine Zuhörer im Stile der Bürgerrechtsrhetorik eines islamischen Martin Luther Kings auf einen langen und schwierigen Weg ein, der zum Ziel habe, den Islam als gleichberechtigten Teil einer europäischen Identität zu etablieren. Um in Europa anzukommen, schlug er den Migranten vor, die alten Herkunftsnationalitäten zu vergessen und Teil der neuen Nationen zu werden, um diese von innen heraus muslimisch zu gestalten. Dabei haben sich die Muslime an der Oberfläche zu europäisieren, zum Beispiel indem sie Moscheen nach moderner europäischer Art bauten und diese nicht orientalisierten. Im Umgang mit der Mehrheitsgesellschaft müsse jede Opferrhetorik vermieden werden:

    "Wir sind alle in Gefahr, alle! Wir wissen, was populistische Politik in Europa schon einmal verursachte. Wir müssen dagegen Wert auf die gemeinsamen Rechte als Bürger und auf gemeinsame Ziele legen."

    Wie genau die eingeforderten Rechte auf islamische Prinzipien in die europäische Gesellschaft eingefügt werden sollten, darauf ging Tariq Ramadan gestern nicht ein. Die meisten der neun Teilnehmer der beiden gestrigen Podiumsdiskussionen im Haus der Kulturen von Cem Özdemir bis Sawsan Chebli vermieden diese Punkte. Özdemir geht beispielsweise davon aus, dass mit genug Investitionen in das Bildungssystem, die Migranten auf ein Niveau gehoben werden, dass sie Fragen der Religion zugunsten von Aufstiegs- und Konsumfreuden zurückstellen werden.
    "Bildung ist der Schlüssel überhaupt für gesellschaftliche Partizipation und für Wohlstand. Das muss das Ziel sein, ein Bildungssystem, das einer Demokratie würdig ist."

    Anhand früherer Aussagen kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass Ramadan und seine zahlreichen Anhänger nicht den Aufstieg im Kapitalismus, sondern das religiöse Heilsversprechen in den Vordergrund stellen. Dabei verstehen sie den Koran, seine Lebensvorschriften und Rechtsauffassungen nicht im Sinne der Euro-Islam-Idee als menschengemachte, zu relativierende Texte, sondern als Gottes wahres Gesetz. Mit zunehmender Muslimisierung der Migranten ist damit aber die Auseinandersetzung mit den Vorschriften des Islam, den dort vorgesehenen Strafen beim Religionsaustritt, der Stellung der Frau, dem Verhältnis zu anderen Religionen, dem Erb- und Scheidungsrecht mitten in Europa angekommen. Und wie der jüdische Historiker Dan Diner gestern analysierte, wird diese Auseinandersetzung über Generationen anhalten und könnte Formen annehmen ähnlich der Jahrhunderte langen konfessionellen Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten.

    "Wir haben es mit dem Islam, ich glaube ich darf das hier sagen, dass der Islam eben nicht nur Konfession ist, sondern ein Gefüge von Institutionen, Lebensformen, Ethik, Rechtsprinzipien. Was heißt das, wenn Menschen aus einer derartigen durchdrungenen, sakral durchdrungenen Kultur in unsere säkularisierte, aber christlich säkularisierte Welt gelangen?"
    "Wir gehen davon aus, dass die Begriffe, die Institutionen, die Werte, die wir seit zwei, drei, vier, fünfhundert Jahren pflegen, seit den großen Umbrüchen des 16. Jahrhunderts, dass dies selbstverständliche, universelle Realitäten sind. Vielleicht. Vielleicht nicht. ... Insofern ist die Präsenz des Islam eine fundamentale Herausforderung inwieweit unsere Werte, Institutionen usw. wirklich universell sind."