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Deutung und Erfüllung

Das Leben ist magisch, wenn man so will. Jeder Moment ist erstaunlich, manche Augenblicke enthalten gebündelt, alles was die Zukunft bringen wird. Jedes Ding kann über sich hinauswachsen, wenn man es nur als Symbol erkennt. Malin Schwerdtfeger hat mit ihrem Debutroman Café Saratoga und mit ihren Kurzgeschichten Leichte Mädchen bewiesen, dass ihr diese zauberhafte Perspektive aufs Leben eigen ist. Mit ihrem zweiten Roman Delphi erlaubt sie ihren Lesern abermals einen solch belebenden Blick auf die Welt. Delphi ist voller seltsamer Ereignisse: Da hängt ein Baby in schmerzhafter Gesichtslage am Ausgang des Geburtskanal und verlässt nicht eher den Körper der Mutter, bis es seine große Schwester vor sich hat. Da wird aus der Norddeutschen Susanna in Jerusalem Schoschana, das gehorsame Mitglied einer orthodoxen jüdischen Sekte. Wie die antike Priesterin Pythia kaut da ein Mädchen Lorbeerblätter in den Ruinen von Delphi und weissagt ihrer Freundin die Zukunft. Ihre Deutungen gehen in Erfüllung.

Von Brigitte Neumann | 14.09.2004
    Die Götter tun weiter ihr Werk bis in die Gegenwart hinein. Und weiter erfüllt sich auch das Schicksal des einen Menschen im anderen, scheint Malin Schwerdtfeger mit ihrem neuen Roman Delphie zu sagen.

    Für mich ist die Welt eigentlich so, bloß ich kann sie auch nicht so sehen. Das klingt ein bisschen esoterisch. Ich wünschte, ich würde sie immer so intensiv erleben, wie meine Figuren das tun. Eigentlich ist das Buch die Formulierung meines Wunsches, dass man den Kontakt zur Umwelt und zur Geschichte und zu allem, was uns umgibt auf so lebendige Art hat.

    In Delphi geht es um eine 6-köpfige Familie, deren Mitglieder nicht recht sicher sind, was sie miteinander anfangen sollen. Zwar können alle komfortabel vom Gehalt des Vaters – einem Archäologen – leben, erst in Athen und Delphi, dann in Jerusalem, aber zwischen den Eltern ist eine große Fremdheit. Nähe empfinden nur die Kinder zueinander. Da die phlegmatische Mutter mit ihren vier Kindern überfordert ist und der Vater sich mehr für versunkene Städte als für Familienleben begeistert, sind Linda, Robbie, Pepita und die Jüngste auf sich selbst gestellt. Der Vater bemerkt nicht, dass seine Frau ihr Heil in einer chassidischen Sekte sucht und gleichzeitig immer weiter in eine Zwangsneurose abgleitet. Erst als sie in der Psychiatrie landet, wird er aktiv und veranlasst, dass die Kinder zu den Schwiegereltern nach Friesland kommen. Dort geht Großvater Jopie seit Jahren einer seltsamen Leidenschaft nach: Er zieht schwarzblau angelaufene Leichen aus dem Meereswasser, um sie auf seinem Privatfriedhof nach einem selbst erdachten Zeremoniell zu begraben.

    Die Jüngste, die namenlose Ich-Erzählerin dieser Geschichte, kann die Bindungslosigkeiten einer solchen Kindheit am wenigsten ertragen und bleibt auf der Strecke. Sie ertrinkt mit acht Jahren. Aber noch im Tod bleibt sie ihrer Aufgabe als Medium der Erinnerung treu. Dabei kennt sie mehr als nur die Geschichte ihrer Familie. Malin Schwerdtfeger stattet sie aus mit der Erinnerung an die ganze Menschheitsgeschichte:

    Diese Erzählerin erzählt aus einer ungewissen Perspektive. Sie ist gar keine anständige Ich-Erzählerin. Sie erzählt als Ich von Anderen. Und ich habe die erfunden, weil ich mich fragte, wie geht es eigentlich, die Zeit außer Kraft zu setzen. Und alles zu erzählen – sei es nun 2000 Jahre her oder gestern – als ob alles im selben Moment passiert und als ob alles zusammen hängt. Und da war mir der Tod die wahrscheinlichste Lösung.

    Der Tod ist schon das Thema dieses Buches, obwohl es auf den ersten Blick nicht so wirkt und die Figuren ziemlich lebensvoll geraten sind. Im Grunde ist es auch meine Frage: Was ist der Tod überhaupt? Wie könnte man das beschreiben? Wie ist das, das er auch im Leben immer präsent ist? Deswegen ist meine Erzählerin eine Tote. Ohne dass sie erklärt, wo sie genau ist. Und das andere ist die Frage: Sind wir überhaupt sterblich? Die stellt sich ja bei Kindern: Gibt’s den Tod für mich oder gibt’s den nur für die anderen? Pepita sagt, sie glaubt nicht an den Tod. In dem Moment, in dem der Mensch lebt, ist er unsterblich.


    Als lebendige Priester des Todes schildert Malin Schwerdtfeger die Großeltern der Kinder. "Großmutter Generosa sprach jeden Tag von Verantwortung und Bedeutung. Jopie sprach von Ehre und Geschichte. Alle waren besessen von Geschichte, von Zahlen und Daten und schlimmen Ereignissen", bilanziert Schwerdtfegers Erzählerin.

    Die Kinder arrangieren sich mit der düsteren Stimmung im Haus am Friedhof. Schwerdtfegers kindliche Helden haben das große Talent, sich fremden Welten widerstandslos zu überlassen. Ihr Spaß besteht darin, aus den Reibungen mit der neuen Umgebung möglichst viele Funken zu schlagen. Sie hadern mit keinem der seltsamen Erwachsenen, in deren Obhut sie gegeben sind.

    Weil ich grundsätzlich nicht so gern werte. Das ist vielleicht etwas unchristlich- jüdisch. Aber das bereitet mir Unbehagen, weil wir alle am Ende einer ganz langen Kette von gegenseitigen Verformungen und Beeinflussungen stehen und deswegen würde ich nie sagen, ich rechne mit der Generation meiner Eltern ab. Weil ich diese ewige Spirale so selbst in der Kunst nicht weiter mache, sondern ich möchte alle so beschreiben, wie sie sind. Und ich möchte sie eigentlich dadurch beschreiben wie sie handeln. Und nicht hochrechnen, was sie denken und warum sie handeln, sondern ich möchte zeigen, wie sie handeln und wie das wiederum andere beeinflusst.

    Meistens hält sie diese respektvolle Distanz durch. Wenn Schwerdtfegers tote Erzählerin aber manchmal von der Warte des großen jenseitigen Richters von der unverrückbaren Natur einer der Protagonisten spricht, dann stimmt die Entfernung nicht mehr. "Er hatte immer versucht, mit der Erde zu verschmelzen", sagt sie über Robbie, "So lange er zurückdenken konnte, hatte die Schwere seines Körpers alles unendlich anstrengend gemacht, außer das Einwühlen in die Erde." Solche Postulate passen eigentlich nicht zur Leichtigkeit des Schwerdtfegerschen Stils, über den die Autorin sagt:

    Leichtigkeit hat ja immer auch was mit Nähe und Distanz zu tun, dass ich also eigentlich meinen Figuren nicht zu nahe kommen will. Und diese Leichtigkeit macht es mir möglich, eine Distanz zu kriegen, die nicht zu kalt ist. Das ist so meine Art, meinen Figuren auch ihre Autarkie zu lassen.

    Diese Leichtigkeit gepaart mit Frische und Spontaneität ist die große Kunst der 32-jährigen Bremerin. Ihre Figuren scheinen zu schweben. Ganz unkompliziert, eigensinnig und doch hingegeben an die Welt. Schließlich sind sie magische Wesen. Friedlich entfalten sich bei ihr die Katastrophen, ziehen vorüber wie Unwetter. Das Leben geht weiter – unbarmherzig und zauberhaft.

    Das letzte Kapitel des Romans Delphi, erklärt Malin Schwerdtfegers, sei ihr liebstes. Nicht nur weil sie’s am Schönsten findet. Auch weil sich erst am Ende der Anfang erklärt. Dann erst löst sich so manches Rätsel auf, mit dem der Leser im Laufe der Geschichte zu kämpfen hat. Und es ist auch deshalb ihr Lieblingskapitel, weil am Ende klar ist: Dieses Buch muss man zwei Mal lesen.

    Malin Schwerdtfeger
    Delphi
    Kiepenheuer & Witsch, EUR 18,90