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DGB-Chef fordert weitere Konjunkturhilfen

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, spricht sich angesichts der Wirtschaftskrise in Deutschland für ein zweites Konjunkturpaket aus. Geringverdienern und Arbeitslosen müssten Konsumgutscheine ausgehändigt werden, der Steuerfreibetrag könnte zudem angehoben werden, um den Mittelstand zu stärken, sagte Sommer.

Michael Sommer im Gespräch mit Martin Steinhage | 07.12.2008
    Martin Steinhage: Herr Sommer, das Konjunkturpaket der großen Koalition ist noch nicht einmal offiziell in Kraft, da wird bereits darüber diskutiert, ob dieses Paket nun wirklich ausreicht, um die Folgen der Rezession wirkungsvoll zu bekämpfen. Was meinen Sie, brauchen wir jetzt schon umgehend ein zweites Maßnahmenpaket?

    Michael Sommer: Ich glaube ja. Sehen Sie, als ich am 5. November mit den führenden Wirtschaftsvertretern bei der Bundeskanzlerin und den Ministern war und die uns dieses Konjunkturprogramm vorgestellt haben, da war niemanden von uns klar, welches Ausmaß diese Krise haben wird. Wir haben alle noch gehofft, dass es weniger werden wird. Einen Tag später, wenn ich mich recht erinnere, kam die Schreckensmeldung von Opel.

    Die war also danach. Wir haben damals schon darauf hingewiesen, dass uns das Volumen zu gering ist. Ich habe damals auch der Bundeskanzlerin gesagt, wirklich investiv wirksam werden 5 Milliarden im Jahre 2009, wir hätten damals mindestens das dreifache angesetzt, also 15 Milliarden verlangt.

    Andererseits habe ich auch gesagt, ich sehe durchaus einen Paradigmenwechsel in der offiziellen Politik, denn bislang waren ja Konjunkturprogramme des Teufels. - Und niemand weiß wirklich seriös, sind wir am Anfang, in der Mitte oder am Ende der Krise. Ich befürchte, dass wir gerade am Anfang sind - auch nach dem, was ich aus der Wirtschaft höre.

    Steinhage: Was müsste denn Ihrer Ansicht nach rein in ein solches zweites Konjunkturpaket, und welches Volumen sollte es haben?

    Sommer: Also wir sind der Überzeugung, dass ein gut wirksames Konjunkturprogramm vor allen Dingen ansetzen muss bei gesteigerten öffentlichen Investitionen, weil die wirksam werden in Nachfrage und in Arbeit. Und wenn Sie über Deutschlands Straßen gehen, über Deutschlands Marktplätze gehen, in Deutschlands Schulen gehen, in Deutschlands Krankenhäuser gehen, dann wissen Sie, wo der Nachholbedarf ist.

    Wir haben massenhaft Nachholbedarf bei der Krankenhausfinanzierung, bei der Verkehrsinfrastruktur, bei der Breitbandverkabelung auf dem Lande, also sprich bei der Versorgung mit moderner IT-Technik außerhalb der Großstädte. Wir haben massenhaft Bedarf nicht zuletzt bei Schulen, Kindergärten, Hochschulen. Also wer dort etwas machen will, findet genügend Betätigung - einschließlich der Fragen des Klimaschutzes.

    Der zweite Punkt, über den wir ernsthaft nachdenken, ist die Frage, ob man tatsächlich mit Konsumgutscheinen arbeitet. Wir halten das für ein Mittel, wenn es nicht so ein Mittel ist nach dem Motto "Streuwirkung" oder "Willkommensgruß zur Rezession", sondern wenn es wirklich ansetzt bei denjenigen, die diese Mittel einsetzen würden, weil sie sie brauchen und dann tatsächlich auch konsumieren würden. Das sind Menschen, die keine Steuern zahlen, die würden durch Steuerentlastung überhaupt nicht erfasst, das sind viele, viele Millionen Menschen.

    Steinhage: Arbeitslose, auch Hartz IV-Empfänger?

    Sommer: Das sind Arbeitslose, Hartz IV-Empfänger und natürlich auch Rentnerinnen und Rentner. Und deswegen habe ich vorgeschlagen, eine Einkommensgrenze zu setzen für die Ausgabe von solchen Gutscheinen bei 35.000 Euro Familieneinkommen. Das ist ungefähr das Jahresdurchschnittseinkommen, das ein Arbeitnehmer in Deutschland erzielt und eine Arbeitnehmerin, und das ist auch das Familieneinkommen, das bislang ungefähr steuerfrei ist.

    Also für diesen Personenkreis würde man richtig was machen. Dann haben wir einen zweiten Personenkreis, über den man sehr sorgfältig nachdenken muss. Das ist das, was einige Leute auch "Mittelstandsbauch" nennen, das sind ganz normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - Facharbeiter, Ingenieure, Lehrer oder was auch immer, die stark in die Progression rein kommen. Für die müsste man strukturell etwas in der Steuer tun. Das kann man tun durch die Anhebung des Grundfreibetrages, zum Beispiel auf 8.500 Euro, wie wir das vorschlagen, und durch einen anderen Progressionsverlauf. Da würde man denen richtig helfen.

    Aber auch das würde in der Größenordnung, je nach dem, wie die rechnen, zwischen acht und zwanzig Milliarden Euro kosten. Und folgerichtig komme ich zu dem, was die meisten nicht machen momentan, nämlich zur Gegenfinanzierung. Und da würden wir eindeutig sagen: Das geht nicht, indem weiter die kleinen Leute geschröpft werden, indem weiter die Unternehmenssteuern gesenkt werden, sondern indem man wirklich nach der wirtschaftlichen Leistungskraft besteuert. Das heißt, man müsste dann ernsthaft darüber nachdenken, den Spitzensteuersatz anzuheben, man müsste ernsthaft darüber nachdenken, ob man zusätzliche Instrumente einsetzt.

    Steinhage: Vermögenssteuer?

    Sommer: Vermögenssteuer, aber auch selbst zurückgeht mal auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Wenn Sie sich dran erinnern: Anfang der 50er Jahre ist die große Aufbauleistung in Deutschland durch den sogenannten Lastenausgleich passiert, und das im Zusammenhang mit Instrumenten, die auch gesetzlich vorgesehen sind und grundgesetzlich abgesichert sind.

    Man kann sowohl eine Vermögensabgabe erheben, die würde relativ viel Geld bringen, man kann aber auch eine Vermögensanleihe zwangsweise machen. Nach Artikel 150 Grundgesetz ist es durchaus möglich, eine Zwangsanleihe auf hohe Vermögen zu machen. Daraus könnte man so etwas finanzieren. Eine Zwangsanleihe würde nicht versteuert, müsste zurückgezahlt werden. Eine Abgabe würde tatsächlich wirken wie eine Steuer und könnte relativ schnell erhoben werden. Also man hätte durchaus Möglichkeiten, etwas zu tun.

    Darüber hinaus habe ich schon bei der ganzen Debatte um die Erbschaftssteuer mich immer gefragt, was denn das eigentlich soll, dass die CSU so tut, als ob der Staat auf Geld verzichten kann, und gleichzeitig beklagen sie, dass sie kein Geld für Schulen oder für Kindergärten haben. Jetzt sind sie wohl mit Plus minus Null rausgekommen, weil sie mit vier Milliarden.

    Steinhage: Es bleibt bei vier Milliarden.

    Sommer: Es bleibt bei vier Milliarden, was der Bundesrat vor zwei Tagen beschlossen hat dann als Bestätigung. Aber da kann man natürlich drüber nachdenken, gerade in der Krisensituation, dass diejenigen, die wesentlich die Krise mit verursacht haben - das waren ja nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern diejenigen, die zu viel Kapital hatten und meinten, sie müssten ein bisschen spekulieren - sie waren etwas stärker daran beteiligt. Und da kann man dann auch über andere Erbschaftssteuersätze nachdenken.

    Zum Thema "den Leuten Geld in die Taschen geben". Lassen Sie mich nur noch eines sagen: Wenn endlich unsere Forderung erfüllt würde, dass die unterste Lohngrenze in Deutschland pro Arbeitsstunde 7,50 Euro wäre, dann würde das einen Kaufkraftschub von 13 Milliarden Euro bedeuten, den allein Arbeitgeber zahlen müssten und nicht der Staat. Und da meine ich schon, dass die Politik darüber nachdenken sollte, endlich auch sich beim Thema Mindestlohn zu bewegen.

    Steinhage: Zum Thema Mindestlohn kommen wir mit Sicherheit noch mal zurück. Lassen Sie mich an der Stelle noch einmal kurz zusammenfassen: DGB-Chef Sommer ist also für ein zweites Konjunkturpaket, er ist dafür, unter bestimmten Bedingungen bestimmten Personenkreisen Konsumgutscheine auszuhändigen, und er würde auch rangehen an eine Steuerreform - die Steuersätze senken oder anders gestalten. Was sagen Sie zu dem Vorwurf - gerade mit Blick auf Konsumgutscheine -, "dies ist ein teures Strohfeuer, einmal ist es schön und dann wird's teuer für kommende Generationen"?

    Sommer: Die Hoffnung, die sich damit verbindet, ist, das es tatsächlich dazu führt, die Konjunktur anzuregen, den Kreislauf wieder in Gang zu bringen, der ganz offensichtlich unterbrochen worden ist. Und deswegen glauben wir schon, dass es kein Strohfeuer ist, wenn man es gezielt einsetzt. Und wir schlagen es ja auch nicht als einzige Maßnahme vor. Wir sagen, es ist eine Maßnahme, eine sinnvolle, sicherlich eine teure, die sich aber refinanziert. Also mindestens 19 Prozent refinanzieren sich aus sich selbst, nämlich dann gibt's wieder Mehrwertsteuereinnahmen.

    Die kann man ja von vornherein schon mal abziehen, es sei denn, es wird jetzt ausgegeben nur noch für Grundnahrungsmittel, was wohl niemand glaubt, denn es geht ja dann wirklich um Konsumgutscheine für Konsumgüter. Und insgesamt glauben wir schon, dass das einen Impuls geben könnte. Der müsste dann allerdings verstetigt werden. Und die Verstetigung wäre zum Beispiel durch die Erhöhung der Mindestlöhne, wäre durch eine Steuerreform, die tatsächlich dann auch den unteren und mittleren Einkommen nützt, und die wäre dadurch, dass dann die öffentliche Nachfrage gesteigert wird. Das muss ineinander greifen. Ein Paket ist ein Paket, und nie eine Einzelmaßnahme.

    Steinhage: Herr Sommer, jetzt haben Sie ausführlich darüber gesprochen, was geschehen müsste, um der Krise zu begegnen. Nun muss man natürlich auch vielleicht noch mal ein bisschen zurückgucken: Was ist da eigentlich geschehen? Die Politik betätigt sich jetzt als Brandlöscher, zunächst musste ein Flächenbrand am Finanzmarkt gelöscht werden, nun brennt es in Sachen Konjunktur an allen Ecken und Enden. Aber die Frage nach den Brandursachen - ist die eigentlich

    schon ausführlich nach Ihrem Dafürhalten diskutiert worden? Haben wir schon ernsthaft darüber nachgedacht, wie wir an den Schlamassel geraten sind und wie wir eine Wiederholung vermeiden können?

    Sommer: Nein, in keiner Weise, zumal ja etliche nicht nur als Brandstifter gewirkt haben - um mal dieses Wort von Peer Steinbrück aufzugreifen -, sondern die Politik ja vielfach auch als Brandbeschleuniger mit ihren Gesetzen, zum Beispiel der Kapitalmarktliberalisierung. Ich glaube, die Ursachen der Krise liegen sehr, sehr viel tiefer und sehr weit zurück, mindestens 30 Jahre.

    Ich erinnere mich, als ich noch ein junger Student war, an den Putsch in Chile. Damals wurde nicht nur ein demokratisch-sozialistisches Experiment durch Militärs kaputt gemacht - das ist die eine Seite. Die andere Seite ist: Damals begann die so genannte Chikago Boys um Milton Friedman im Labor auszuprobieren, was es heißt, eine Wirtschaft völlig zu deregulieren und zu liberalisieren und zu privatisieren.

    Die Milton-Friedman-Schule hat dann übergegriffen auf Großbritannien - denken Sie an Thatcher, auf die USA noch stärker denn je, auf Europa dann in der Folge. Und es gab ja keine Radiosendung, keine Fernsehsendung, kein Zeitungsartikel, wo nicht als stehende Meinung stand: Wir müssen deregulieren, privatisieren, wenn es den Shareholdern, also den Aktieneigentümern gut geht, dann geht es allen gut, und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind dann Produkt zweiter Klasse.

    Das endete dann, um es dann auch sehr zugespitzt zu sagen - und ich weiß, dass mir das jetzt Ärger einbringt, was ich sage: Das endete mit der Agenda 2010, die auch ein Ausfluss dieser Art von Politik war und insbesondere dann, wenn man so will, den letzten Satz setzte noch auf dem Arbeitsmarkt, bekanntlicherweise in der Änderung der gesamten Arbeitsförderungsgesetze. Nun will ich ein Missverständnis ausräumen: Die Agenda 2010 ist ein kleiner Teil dieser Politik, aber nicht die Politik an sich - nur damit wir uns da auch recht verstehen. Aber sie reiht sich ein dabei, und sie reiht sich auch ein dann in parallele Maßnahmen der Kapitalmarktliberalisierung. Das ist alles erst mal möglich gemacht worden in den Jahren 2000, 2001, auch übrigens in der großen Koalition, wo noch mal weitere Gesetze gemacht wurden, um diesen Kapitalmarkt zu öffnen.

    Steinhage: Aber es begann bei rot-grün ironischerweise.

    Sommer: Richtig losgegangen ist es bei rot-grün, wobei die damals gesagt haben: Wir hatten großen Nachholbedarf. Aber ich habe bewusst die größere Strecke genannt, weil - wenn zum Schluss nur noch es darum ging, die Manager zu bedienen - über die reden viele, das ist auch in Ordnung, darüber rede ich auch - aber über die Aktionäre, die mit 15 Prozent Rendite nie zufrieden waren und die dann immer noch mehr wollten, dann kommt man in eine Situation, wo man dann im Bereich von Spekulationen und teilweise dann auch an den Rand von Kriminalität kommt.

    Und dieses aufzuarbeiten, zu sagen: Haben wir uns mit dieser Politik der Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung nicht wirklich geirrt, brauchen wir nicht eine Marktwirtschaft, die neben den tatsächlichen Marktregularien, für die ich stehe, auch staatliche Interventionen, staatliche Regeln, auch - wenn man so will - staatliche Regulationen braucht und die sich an anderen Werten orientiert?

    Steinhage: Also Conclusio: Der Kapitalismus ist in der Krise?

    Sommer: Ja, ich glaube ja. Nicht die Marktwirtschaft. Ich sage das ausdrücklich, weil - man muss da ja die Begrifflichkeit immer auseinander halten. Ich habe schon in meinem ersten Interview nach Beginn der Krise deutlich gesagt für die Gewerkschaften: Wir stehen dazu, das marktwirtschaftliche System ist das System, das wir wollen, das auch die beste Allokation für die Menschen und die Wirtschaft darstellt.

    Aber diese Marktwirtschaft braucht Regeln. Und dann ist es ja auch seltsam, wie die Begrifflichkeit der sozialen Marktwirtschaft im Zuge der Geschichte der letzten zwanzig, dreißig Jahre ihre Veränderung erfuhr. Wir müssen, glaube ich, wieder zurück auf die Wurzeln. Und wenn ich das an der Stelle sagen darf: Ich habe unsere Untergliederungen in Stadt und Land aufgefordert, überall kleine und große Diskussionszirkel zu machen, um genau über diese Fragen mit den Menschen, mit den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu reden, auch Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

    Steinhage: Das, was Sie jetzt gerade gesagt haben, Herr Sommer, führt mich zu der Frage, ob diese große Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, die wir ja nun allenthalben beklagen, vielleicht auch aus Perspektive gerade der Gewerkschaften, eine Chance bietet, eine Chance nämlich, wieder mehr Menschen anzuziehen. Das hätten sie ja nun wirklich auch bitter nötig.

    Sommer: Verdient, ja, vor allen Dingen verdient.

    Steinhage: Verdient, oder möglicherweise eben auch nötig, größere Akzeptanz in der Bevölkerung nach langen Jahren des Mitgliederschwunds und ja auch des Bedeutungsverlustes.

    Sommer: Nun ja gut, was den Bedeutungsverlust anbetrifft, weiß ich, dass wir Mitglieder verloren haben, und zwar nicht zu knapp. Aber unsere gesellschaftspolitische Bedeutung ist ja immer noch da, sonst würden Sie mich heute ja auch nicht interviewen. Das ist ja auch in Ordnung. Nichtsdestotrotz, ich gehöre ja nicht zu den Leuten, die ihre eigenen Schwierigkeiten bemänteln. Jetzt gibt es auf Ihre Frage, die Sie eingangs gestellt haben, "werden sie denn zu Gewinnern der Krise" - ich spitze das jetzt mal ein bisschen zu -, zwei Antworten. Die eine Antwort ist, Gewerkschaften waren nie Gewinner von Krisen, deswegen haben wir auch nie Krisen herbeiführen wollen. Das ist nicht so, dass, je elender es den Menschen geht, desto mehr strömen sie zu den Linken oder zu den Gewerkschaften.

    Steinhage: Ich habe aber auch nach der Chance gefragt.

    Sommer: Ja, ja, ist schon klar. Deswegen wollte ich ja auch bewusst zweigeteilt antworten, Herr Steinhage. Der zweite Teil ist der: Ich glaube tatsächlich, dass in dieser Krise und der Aufarbeitung der Krise und möglicherweise auch der Lösung der Krise eine große Chance besteht, die Werte, für die die Gewerkschaften stehen - Partizipation, Würde der Arbeit, Teilhaber am Sagen und am Haben, anständige Arbeitsentgelte, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, Bekämpfung von Schwarzarbeit, Bekämpfung auch von unangemessenen bis hin zu teilkriminellem Wirtschaftsverhalten - dass darin eine große Chance besteht, hier zu einer Renaissance des Sozialen in der Marktwirtschaft zu kommen. Und darin besteht auch eine Chance für die Gewerkschaften. Und ich werde mich sehr darum bemühen, dass die Gewerkschaften auch ein Teil der Bewegung sind, dieses aufzuarbeiten.

    Ich habe am Anfang schon gesagt, wir müssen auch die politisch-moralische Aufarbeitung der Krise machen. Und darin liegt meines Erachtens wirklich eine Chance für die Gewerkschaft. Nicht in dem Sinn, dass ich jetzt einen Kongress mache und morgen habe ich 20 Mitglieder mehr. So einfach wird es nicht gehen. Aber insgesamt die Frage des Sozialen wieder in den Vordergrund zu rücken und die Notwendigkeit von einer an dem Menschen orientierten Reformpolitik wieder in den Vordergrund zu rücken, und nicht eine Politik zu machen, die sich Reformpolitik nennt, vor der die Menschen Angst haben. Das ist, glaube ich, eine große Chance. Und wenn Sie mir erlauben, ich habe nicht umsonst angeknüpft an 1973, an Chile. Die Zeit davor war die Zeit, wo wir eine andere Reformpolitik gemacht haben. Ab 73 können Sie praktisch sagen, Stück für Stück wurde Reformpolitik immer mehr in ihr Gegenteil verkehrt, und wir müssen jetzt im Jahr 2008 beginnen, wieder Reformpolitik vom Kopf auf die Füße zu stellen.

    Steinhage: Möglicherweise muss man ja auch noch mal ran beim Stichwort Reform beim Thema Leiharbeit. Wir haben in Deutschland über 700.000 Leiharbeiter. Wir erleben jetzt, diese Menschen werden schlechter bezahlt als die Kollegen mit den festen Arbeitsverhältnissen, und sie sind jetzt boshafterweise auch noch die ersten, die gehen müssen in der Krise, weil sie ihre Arbeit verlieren. Viele werden dann auch noch von den Zeitarbeitsfirmen oftmals vertragswidrig vor die Tür gesetzt und sind dann endgültig arbeitslos. Die Gewerkschaften haben mit guten Gründen, möglicherweise auch in Ermangelung von Alternativern, die Zeitarbeit akzeptiert und über viele, viele Tarifverträge hoffähig gemacht. Was können, was werden Sie jetzt tun für diese Menschen, die sehr bedroht sind von Arbeitslosigkeit, mehr als andere?

    Sommer: Also, einmal zur Geschichte der Leiharbeit. Wir haben ja Leiharbeit lange Zeit bekämpft, völlig zu Recht. Wir haben dann im Zuge der ganzen Debatte um die Hartz-Reformen gesagt okay, wenn wir dann zu einem gesetzlichen Zustand kommen, dass bei Leiharbeit der Grundsatz 'Gleicher Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit' gilt, akzeptieren wir das und wir weichen im Zweifelsfall durch Tarifverträge ab nach unten. Das war der Kompromiss, den wir damals mit Wolfgang Clement geschlossen haben.

    Ich erinnere mich noch sehr genau daran. Das war immer damit verbunden, dass wir gesagt haben, wenn die Menschen im Betrieb eingesetzt werden, gehen wir davon aus, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit erfolgt, dass, wenn es ausleihefreie Zeiten gibt, wir möglicherweise Tarifverträge brauchen, weil dann ja die Firmen für die Menschen, die sie beschäftigen, keinen Erlös erzielen. Dann brauchen wir besondere Tarife, allerdings auch die Notwendigkeit, dass dann die Menschen, zum Beispiel die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, beruflich qualifiziert werden und was auch immer. Das war die Idee.

    Diese Idee ist pervertiert worden dadurch, dass es dann Scheingewerkschaften gab, die Quasi-Tarifverträge abgeschlossen haben, und wir mittlerweile Arbeitgeber haben, die sich, obwohl sie keinen einzigen Arbeitnehmer haben, der unter einen solchen Tarifvertrag fällt, diese Tarifverträge anwenden und so tun, als ob sie damit das Gesetz umgehen könnten. Und genau diese Lücke muss zugemacht werden. Deswegen brauchen wir eine Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes. Punkt Eins. Punkt Zwei: Wir müssen die Menschen organisieren. Die IG-Metall hat jetzt mit der großen Leiharbeitskampagne, die sie im Frühjahr gestartet hat, vieles erreicht.

    Steinhage: Und man muss wissen, gerade unter den Leiharbeitern ist der Organisationsgrad ganz, ganz gering.

    Sommer: Extrem gering. Wenn ich das jetzt mal schönzeichne, liegen wir vielleicht über alles bei einem Prozent. Bei der IG-Metall liegen wir mit Sicherheit heute höher, weil die diese Kampagne gemacht hat, weil die die Menschen organisiert hat, weil die denen auch Rechte gegeben haben, weil die denen auch gesagt haben, wir geben euch bestimmten Schutz, und weil die parallel mit den Entleihfirmen vereinbart haben: "Kommt ein Leiharbeiter, dann hast du die und die Rechte". Und das funktioniert tatsächlich.

    Der zweite Punkt ist der, wir haben die Situation, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter tatsächlich missbraucht werden als Lohndrücker in den Betrieben und jetzt - immer das, was ich vorausgesagt habe in mehr als einem Interview -, wenn die Krise kommt, sind sie die ersten, die fliegen, sind sie die ersten, die darunter leiden werden. Und wir brauchen auch für diese Menschen Schutz. Auch für diese Menschen brauchen wir Kurzarbeiterregelungen. Auch für diese Menschen brauchen wir Qualifizierungsregelungen. Und vor allen Dingen brauchen wir für diese Menschen auch eindeutig einen gesetzlichen Mindestlohn.

    Steinhage: Den es offensichtlich nicht geben wird, denn am Donnerstag haben sich SPD und Union nicht einigen können, gerade bei der Zeitarbeit, daran ist es gescheitert.

    Sommer: Ja, und ich halte das Vorgehen der SPD in der Frage, nämlich zu sagen "Entweder mit Leiharbeit oder gar nicht" für völlig richtig.

    Steinhage: Aber dann sage ich jetzt mal ganz drastisch, Herr Sommer: An der Stelle springen jetzt natürlich das Wachgewerbe und die Pflegedienste über die Klinge, denn die hätten jetzt die Aufnahme finden können, so wie sie es wollten.

    Sommer: Ich kann Ihnen nur sagen, das ist ein Gesamtpaket. Und die beste Lösung ist die, dass man das nicht über das Entsendegesetz macht und auch nicht über Mindestarbeitsbedingungsgesetze, die sind immer nur die zweit- und drittbeste Lösung, die beste Lösung ist ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn und darauf aufsetzend die Tarifautonomie. Und ich will niemand über die Klinge springen lassen.

    Nur, wenn es dann schon um Schuldzuweisungen geht, die Union braucht sich bei der Leiharbeit nur zu bewegen, dann ist allen geholfen, den Leiharbeitern, dem Wachgewerbe, den Reinigungskräften, wem auch immer, bis zum Bergbauausbaugewerbe. Das ist ein Punkt, wo man dann auch einfach sagen muss, wir lassen uns nicht jeden faulen Kompromiss abhandeln, sondern da geht es darum, dass wir tatsächlich den Menschen helfen. Und um noch mal darauf zurückzukommen, wenn jetzt jüngst - vor drei oder vier Tagen - wir wieder Zahlen kriegen, dass Hunderttausende, die Vollzeit arbeiten, nicht von ihrem Geld leben können, dann ist denen mit Kombilöhnen nicht gedient. Und das hat auch nichts mit sozialer Marktwirtschaft zu tun, wenn der Staat für einen Teil der Branchen dieser Welt zum Beispiel die Löhne oder Teile der Löhne bezahlt.

    Ich habe da eine völlig andere Sichtweise als die Union. Ich verstehe auch manche CDA-Leute nicht, die ich gut kenne, mit denen ich in vielen Punkten sehr gut zusammen arbeite, die dieser Politik noch das Wort reden. Das hat auch etwas mit Würde zu tun, dass Menschen von ihrer Hände Arbeit leben können und nicht anschließend zum Staat rennen müssen und dazu noch Kombilöhne brauchen. Das ist für den Staat nicht gut, das ist für die Menschen nicht gut, das ist für die Wirtschaft nicht gut. Gut sind Mindestlöhne.

    Steinhage: Es gibt ja auch das Argument, das können Sie nicht von der Hand weisen, die meisten Aufstocker haben einen Lohn - also wir reden ja jetzt über die Menschen, die von ihrem Einkommen nicht leben können und zum Staat gehen müssen und Transferleistungen brauchen -, die meisten Aufstocker haben einen Lohn von über 7,20 Euro. Da würde also 7,50 Euro Mindestlohn wenig wirken. Und außerdem blieben Alleinverdiener mit Kindern auch mit Mindestlohn Aufstocker.

    Sommer: Ja. Sie können auch nicht alles über die Mindestlohnfrage regeln. Das habe ich auch nie behauptet. Andererseits müssen Sie sehen, dass von den Aufstockern mehr als die Hälfte Vollzeitbeschäftigte sind, mehr als 70 Prozent sind sozialversicherungsbeschäftigt, das heißt Sozialversicherungspflichtige. Das heißt, sie haben einfach auch einen großen Teil von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die eigentlich einem normalen Arbeitsgewerbe nachgehen und denen man mit 7,50 Euro helfen würde. Nun weiß ich auch, 7,50 Euro hilft bestenfalls, wenn Sie so wollen, existenzsichernd für einen alleinstehenden Menschen, der keine weiteren Verpflichtungen hat. Deswegen brauchen auch diese Menschen weitere Transferleistungen.

    Steinhage: Wie fällt denn nach drei Jahren große Koalition, die wir jetzt ziemlich genau haben, Ihre Bilanz aus? Nach all dem, was ich jetzt gehört habe, ziemlich verheerend?

    Sommer: Ja, ziemlich verheerend, weil große Reformprojekte für die Menschen sind kaum angestoßen worden. Es hat Fortschritte gegeben, ohne Zweifel im Bereich der Mindestlöhne. Dass wir überhaupt erste Mindestlöhne haben ist ein Fortschritt. Das muss man einfach so sehen

    Steinhage: Nach den Bauarbeitern die Gebäudereiniger, jetzt die Postdienstleister, 1,6 Millionen insgesamt.

    Sommer: Das ist für diese Menschen sicherlich ein Vorteil. Wir haben auch im Bereich dessen, wo man sagen kann, wir haben Schlimmeres verhütet, da ist natürlich einiges in der Hinsicht passiert, dass weder die betrieblichen Bündnisse für Arbeit à la CDU noch die Schleifung der Mitbestimmung gekommen ist. Auf der anderen Seite stehen kaum wirklich durchgreifende gesellschaftliche Reformprojekte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ich kenne eigentlich keins, von dem ich sagen würde, das war jetzt eins, von dem man sagen würde, das bringt was. Weder für die Auszubildenden hat die Politik der großen Koalition etwas gebracht, noch für die Rentnerinnen und Rentner - denken Sie an die Rente mit 67 und an die ausgebliebenen Renteerhöhungen. Und so könnte ich jetzt fortfahren.

    Steinhage: Das Armutsrisiko.

    Sommer: Das Armutsrisiko ist gestiegen in dieser Zeit. Und auf der anderen Seite haben Sie Unternehmensteuerreform, Erbschaftssteuerreform. Sie haben die Förderung von Wagniskapital. Das darf man ja heute nicht mehr sagen. Das fällt ja alles in die Zeit dieser großen Koalition. Von daher ist die Bilanz keine gute.


    Steinhage: Wenn es Ihnen dann mit der Grippe wieder besser geht, dann treffen Sie sich ja morgen zu einem Meinungsaustausch mit Spitzenvertretern der Linkspartei, so wie Sie sich ja auch mit allen anderen Parteien gelegentlich treffen. Werden Sie diese Herrschaften treffen und sich so ein bisschen denken, "na ja Freunde, ihr seid unsere letzte Hoffnung, um Forderungen durchzusetzen"?

    Sommer: Nein. Ich war vor anderthalb Wochen, als ich noch keine Grippe hatte, bei der FDP. Ich habe den Damen und Herren der FDP gesagt, es gibt Berührungspunkte, zum Beispiel beim Arbeitnehmerdatenschutz, wo ich sehr auf sie setze. Und das tue ich auch. Ich setze in solchen Fragen zum Beispiel sehr auf die Liberalen. Und wir haben da auch gemeinsame Projekte gestartet und gucken, wie weit wir miteinander können und wie weit nicht. Und genau so werden wir es mit der Linkspartei halten.

    Wir werden gucken, wo sind tatsächliche Schnittmengen von Politik, wo man auch etwas gestalten will, zum Beispiel nicht Politik für die Galerie machen oder noch mehr fordern als andere, sondern wo man etwas gestalten will. Und das werden wir dann morgen eruieren. Und wissen Sie, ich habe bei der FDP gesagt, wenn das wieder normal wird, dass der DGB-Vorsitzende nicht nur alle zwölf Jahre zur FDP-Fraktion kommt, sondern eigentlich jährlich und wir miteinander reden und es nicht mehr den Charakter von Staatsbesuch hat, und wenn wir mit der Linkspartei genau so selbstverständlich reden wie wir mit anderen demokratischen Parteien, dann ist das gut. Denn mein Auftrag ist nicht der, die eine Partei zu pflegen, die andere Partei zu pflegen, diese Präferenz zu haben oder jene Präferenz zu haben, sondern meine Aufgabe ist es, so weit wir möglich Arbeitnehmerinteressen zu artikulieren und durchzusetzen. Und das mache ich im politischen Raum. Das ist die Aufgabe des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Und da sucht man sich Bündnispartner, die möglicherweise gleiche oder vergleichbare Anschauungen haben.

    Das ist das eine, die aber dann auch bereit sind, miteinander zu wirken, dass dieses auch durchgesetzt wird. Ich will Ihnen an dieser Stelle vielleicht etwas sehr Prinzipielles sagen. Die Gewerkschaften sind Organisationen, die nicht auf politische Macht zielen. Wir sind Interessenvertretungen, das unterscheidet uns von Parteien. Und wir sind diejenigen, die immer für den kleinen Fortschritt standen, aber eben für den

    Fortschritt. Und mein Ziel ist es, so weit wie möglich viele kleine Fortschritte für die Menschen zu erreichen, dass es ihnen wirklich besser geht. Und daran beurteilen wir Politik, unsere eigene und auch die von Parteien, und ansonsten nichts.

    Steinhage: Herzlichen Dank für das Gespräch.