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Diagnosetechniken
Prognosen für das Aufwachen aus dem Wachkoma

Je nach Schwere der Hirnverletzung kann der Zustand des Wachkomas bei Patienten mehrere Jahre dauern, bis die Betroffenen ihr Bewusstsein erlangen. Neue Diagnosetechniken sollen zumindest vorsichtige Prognosen ermöglichen.

Von Michael Engel | 08.04.2014
    Vor zwölf Jahren erlitt der junge Mann einen Herzinfarkt mit folgenschwerer Schädigung des Gehirns. Seitdem liegt er im Wachkoma. Hier im Hilde-Schneider-Haus, einer Fachpflegeeinrichtung der Henriettenstiftung in Hannover, kommt die Sprache langsam zurück, sagt Sabine Kulus.
    "Dieser Bewohner, den Sie gerade gehört haben, hat sich gerade unheimlich gefreut. Der ist richtig gut drauf und liegt hier mit einem strahlenden Lächeln im Moment. Und dementsprechend gibt er seiner Freude Ausdruck. Hallo, hier bin ich und so."
    Unklar ob das Bewusstsein wiedererlangt wird
    Der Betroffene befindet sich in einer Pflegeeinrichtung der sogenannten Phase F - für Patienten, die sich von den Folgen der Hirnschädigung nicht mehr erholt haben. Bis heute ist nicht vorhersagbar, ob und welcher Patient das Bewusstsein wiedererlangt, sagt Prof. Reinhard Dengler, Direktor der Neurologischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover und Chairman des Neurologenkongresses in Berlin. Mit Hirnstromkurven – dem EEG – lässt sich aber einiges erkennen:
    "Man kann dann im EEG sogenannte ereigniskorrelierte Potenziale sehen. Bekannt ist zum Beispiel die Welle P 300. Das heißt, nach 300 Millisekunden in Folge eines Reizes sieht man eine deutliche Veränderung im EEG. Und diese wird im Allgemeinen als ein Zeichen der bewussten Wahrnehmung interpretiert."
    Doch nur zehn bis 20 Prozent der Wachkoma-Patienten haben solche Reaktionen. Ob dies auch ein Zeichen für eine baldige und erfolgreiche Erholung bedeutet, können die Wissenschaftler nicht sagen. Es gibt noch keine Studien dazu.
    Motor Imagery
    Eine andere Strategie heißt Motor Imagery: "Man hat die Patienten gebeten, sich vorzustellen, dass sie ihre rechtsseitigen Extremitäten, Arm und Bein, bewegen. Und dann hat man gesehen, dass bei einem Teil dieser Patienten, in Reaktion auf diese Aufforderung tatsächlich dann korrespondierend linksseitig die motorischen Zentren aktiviert wurden. Daraus muss man schließen, dass die Patienten die Aufforderung verstanden haben, und dass sie eine bewusste Wahrnehmung haben, auch wenn man keinen Bewegungseffekt sehen kann."
    Bislang war unklar, ob Wachkoma-Patienten eine Wahrnehmung haben - quasi unsichtbar verborgen im Inneren des Gehirns. Die neuesten Befunde legen nun nahe, dass Reize von außen tatsächlich verarbeitet werden. Zumindest bei einem Teil der Betroffenen.
    "Erst mal, sicherlich, wird sich der Umgang mit diesen Patienten ändern müssen. Wenn wir wissen, dass sie doch sehr viel mehr bewusst wahrnehmen als wir glauben."
    Aktivierende Betreuung
    Auf der Station - in der Henriettenstiftung - setzen die Pflegekräfte ohnehin auf eine aktivierende Betreuung: Sie sprechen mit den Betroffenen, es gibt Sport im Krankenbett, im Spezialrollstuhl geht es in den Gruppenraum, erklärt Roland Kubrik und zeigt auf eine rote Matratze.
    "Ja, wir stehen hier an einem Gerät, das ist die Klangmatratze, mit der man Musik oder bestimmte Rhythmen übertragen kann. Nach dem Empfinden kann man die Musik lauter oder leiser machen. Für die Bewohner ist das sehr angenehm und entspannend. Und man kann dann bestimmte Bereiche anregen."
    Klangmatratze, Stehbett, Physiotherapie und sehr viel Zuwendung: Selbst nach Jahren im Wachkoma gibt es auch in der Phase F immer wieder Patienten, die aus der tiefen Bewusstlosigkeit langsam wieder aufwachen. Die Augen suchen Kontakt, Bewegungen laufen koordinierter ab, erste Gefühlsregungen werden sichtbar. Die Erholung kann sich in manchen Fällen über Jahre hinziehen. Wann das passiert, mit welcher Intensität, bei welchen Patienten, das kann bis heute aber niemand sagen - trotz aller Fortschritte in der Diagnostik.