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Diarium einer schönen Seele

Wer ein Faible besitzt für die oft erregende Autobiografik der revolutionären Jahrhundertwende von 1800, wird dieses wunderbar ausgestattete Diarium mit großem Gewinn zur Kenntnis nehmen. Ein Stück historischer Selbsterfahrung, hautnah erzählt unter Seelennot und Weltbedrückung, eine sympathische, eindrucksvolle und interessante Lektüre.

Von Harro Zimmermann | 19.09.2010
    "Ach, lieber himmlischer Helfer sei mein Schutz! O! Wie leidend bleiben mir doch meine Tage! Seit dem Juni, wo man gewünscht hatte, die Füße sollten trocknen können, will man sie jetzt noch nicht trocken werden lassen. Es sei zu früh, denn da ist die neue oder hier sind die inneren Ursachen und so werde ich immer kranker ... O Gott, es wird mir immer schwerer zu ertragen, Erbarmer, hilf mir beten, hilf mir, einziger, und lehre mich erwecklich beten. Gib mir die Zuversicht, dass durch meine Heilung ich erst die Aufenthalte in dem Hause nützen kann und dann auch, dass ich nach Wörlitz und von dort zur Schweiz abreisen könne. Und so richte mich auf".

    Die Fürstin Louise Henriette Wilhelmine von Anhalt-Dessau ist eine empfindsame, aber keine stumm vor sich hin leidende Standesdame, denn sie hat gelernt, ihrem reichen Gefühlsleben, ihren Wünschen und Sehnsüchten, Verärgerungen und Verzweiflungen Worte zu verleihen, in einem riesenhaften Tagebuch. Was ist schon alle äußere Bevorzugung wert, muss sie sich im Laufe ihres Lebens immer wieder fragen, wenn man nicht die Liebe und Erfüllung zu finden vermag, die allem Dasein erst den ersehnten höheren Sinn verleihen kann? Noch kurz vor ihrem Tod am 21. Dezember 1811 bittet Louise Gott inständig um Zuversicht und Heilung, einmal noch möge es ihr vergönnt sein, das ungeliebte Dessau zu verlassen und in den Süden zu reisen. Doch auch dieser Wunsch sollte, wie so viele in ihrem Leben, nicht in Erfüllung gehen. Die 61-jährige Fürstin, 1750 als Tochter des Markgrafen von Brandenburg-Schwedt geboren und 1767 mit Friedrich Franz von Anhalt-Dessau standesgemäß verehelicht, stirbt im Dezember 1811 als unglückliche Frau einsam und in unziemlichen Verhältnissen. Nein, an der Seite jenes berühmten Dessauer Patriarchen, der so viel für die Aufklärung und die philanthropische Bildung getan hat, und dem das illustre Gartenreich von Wörlitz zu verdanken war, ließ sich nicht das Leben einer modernen, empfindsamen und gebildeten Frau führen. Der grobianische Fürst forderte seine ehelichen Rechte so unerbittlich ein, dass es nach 20 Jahren endlich zur Trennung dieses mit einem Erben gesegneten Paares kommen musste. Ein Leben als untertäniges Frauenzimmer wollte Louise niemals führen, das verbot nicht nur ihr ständisches Selbstbewusstsein, sondern mehr noch ihre humanistische Bildung inmitten jenes Zeitalters der Empfindsamkeit. Wie oft hatte sie von erfüllenden Glücks- und Liebesbeziehungen gelesen in der aufgeklärten Literatur, das Idealbild der aparten und gesellschaftlich anspruchsvollen Frau war längst in den Blick der Geselligkeitskultur geraten, in moralischen Wochenschriften und Journalen, in Modeperiodika und selbst in gelehrten Blättern. Auch das überkommene Geschlechterverhältnis, demzufolge die Frau dem Mann in jeder Hinsicht untergeben zu sein habe, nahm allmählich die Patina von gestern an. Dennoch, das wirkliche Ende des alten Männerdominats war vorerst nicht abzusehen. Louise hat dem gleichwohl widerstanden, sie wollte während all der Jahre kein politisches, auf ständische Repräsentation bedachtes, an den machtvollen Männern orientiertes Leben führen, ihre Neigungen waren ganz anders geartet.

    Dies vor allem mag erklären, warum die Familie der Fürstin Louise Henriette Wilhelmine von Anhalt-Dessau nahezu zwei Jahrhunderte lang mehr oder minder Stillschweigen gewahrt hat gegenüber ihrem eindrucksvollen und so aussagekräftigen Tagebuchwerk. Nur in vorsichtig redigierten Bruchstücken ist es bislang bekannt geworden, sorgsam hat man jeweils herausgefiltert, was dem fürstlichen Herkommen einen Rufschaden hätte beibringen können. Außerdem sind nach wie vor etliche Überlieferungslücken zu verzeichnen, weil Louise selbst umfangreiche Tagebuchpartien vermutlich aus persönlicher Vorsicht und ständischer Rücksichtnahme verbrannt hat. Die nun vorliegende, zweibändige und hoch verdienstvolle Ausgabe präsentiert immerhin die gute Hälfte des zwischen 1795 bis 1811 verfassten Textkonvoluts. Zum ersten Mal also lässt sich jetzt nachlesen, wer diese Fürstin Louise eigentlich war, was sie mit ihrem illustren Jahrhundert der Aufklärung verband, und warum sie um ihrer selbst willen mit der alten feudalen Welt hatte brechen müssen.
    Schon früh musste Louise die eigene Mutter entbehren und der preußischen Standesräson ihres Vaters folgen. Das hatte der große Friedrich selber so befohlen, der eine planvolle Hochzeit der Brandenburg-Schwedter Familienlinie mit dem Dessauer Hof wünschte. Die siebzehnjährige Louise hatte sich dem widerstandslos zu fügen – am 5. August 1767 begann ihr Leben als Gattin eines berühmten regierenden Fürsten. Wie schon in ihren jungen Jahren, so war dieser Frau auch späterhin die Welt der preußischen Dynastie wenig gewogen. Nur ihrer intensiven Bildung in den schönen Künsten, in Französisch und Deutsch, in Geschichte und Geografie durch ausgezeichnete Privatlehrer war es zu danken, dass Louise später nicht an der zunehmenden Tristesse ihres privilegierten Daseins verzweifeln musste. Schon als Sechsjährige hatte sie begonnen, ein Tagebuch zu führen, zunächst auf Französisch, der Sprache der gebildeten adligen Konvenienz, später dann immer entschiedener auf Deutsch. Schließlich hatten in jenen Jahren das Deutsche und die deutsche Literatur, Kunst und Philosophie so außerordentliche Fortschritte gemacht, trotz ihrer Verächtlichmachung durch Friedrich den Großen. Welch ein hochinteressantes Tagebuchunternehmen hatte diese Frau schon als Jugendliche begonnen? Sicher nicht nur eins der Welt- und Selbsterfahrung, sondern bis in die späten Jahre hinein eins, das für sie immer mehr die Bedeutung eines Therapeutikums bekam gegen die wachsenden Verstimmtheiten, gegen Melancholie und Depressivität.

    "Ach Gott, ist's Heimweh nach liebenden Menschen? Nach freier, sicherer Existenz? Nach sanftem Himmel? Nach der Schweiz? Oder nach jener unsichtbaren Heimat? Aber ich fühle ein Sehnen, ein Schmachten! Und doch, doch innigste Liebesgefühle und das schöne Italien mit seinem herrlichen Himmel und die Schweiz mit der stärkenden Luft! – Nun Gott! Du sei immer mein Leiter, denn du bist ganz mein einziger Vertrauter, nur du kennst mich, und ich fürchte dich nicht, gib mir Weisheit und Gesundheit!"

    Dass Louise im Lauf der Jahre zu einer passablen Autorin herangereift ist, unterliegt nach der Lektüre ihres riesigen Tagebuchwerkes keinem Zweifel mehr. Selbst dort, wo sie ihrer Schreibkunst ein wenig aufhilft durch unkenntlich gemachte Zitatkompilate aus Reiseführern oder kunsthistorischen Fachbüchern, beweist sie Geschick, Geschmack und vielfältige Belesenheit. Aber auch auf ihrem ureigenen Terrain als Autorin findet sie trotz gelegentlicher Ungelenkigkeiten, Konzentrationsmängeln und Orthografieschwächen immer wieder eine subtile Sprache der Welt-, Menschen- und Selbstbeobachtung, ganz im Geist der spekulativ und (natur-)wissenschaftlich belehrten Empfindsamkeit des späten 18. Jahrhunderts. Besonders auf ihren mehrfachen Reisen in die Schweiz, ihren Fahrten nach England und Frankreich, aber vor allem nach Italien kommt der ganze Bildungsanspruch einer Fürstendame des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck, die emphatische Begriffe und Vorstellungen hegt vom klassischen Altertum, von der großen Philosophie, Literatur und Kunst der gegenwärtigen und aller Zeiten.

    Voltaire kann sie in Fernay aus gesundheitlichen Gründen nicht empfangen, zu ihrem großen Bedauern, aber den großen Rousseau lernt sie in Paris kennen, vollends genießt sie die Kunstschätze in den bedeutenden Museen und Galerien der europäischen Metropolen, die Theater und Opernhäuser, vorzugsweise immer wieder den Umgang mit hochgebildeten Menschen in illustren Zirkeln und Eremitagen. Rom bedeutet ihr eine wahre Wonne des Kulturgenusses, kein Wunder, dass sie hier ganz besonders in Liebe entbrennt. Und immer ist Louise bestens präpariert und auf andachtsvolle Weise sachkundig, nur allzu bereitwillig lässt sie sich beraten und ins Vertrauen ziehen. Glänzende Gesellschafter und Informatoren wie den Dichter Friedrich Matthisson, den Theologen Johann Caspar Haefeli und den Archäologen Aloys Hirt beschäftigt sie deshalb in ihrer Nähe, Bildung, Konversation und Freundschaft dürfen durchaus etwas kosten. Über ihre Kunstexkursionen in Rom heißt es einmal:

    "Apoll und Laocoon waren die beiden vornehmsten Stücke der Kunst, welche am heutigen Tage durchgenommen wurden. Schön, herrlich, anziehend und festhaltend ist der entschlossene, zürnende Apoll, und in erster Übersicht schien sein Gang mir manieriert und seine Beine zu zart und dünn. Allein, dieses verschwand wie leichter Nebel bei dem längeren Anblick vor der Sonne und Wahrheit. O, je mehr, je länger ich ihn beobachtete, besonders sein Antlitz im Profil und seine Stellung und die Beine und Füße in der Nähe, je herrlicher und liebenswürdiger schien er mir, diese Elastizität mit dieser Festigkeit, dieser Zorn mit solcher Zartheit – schön, furchtbar und liebenswürdig, und da ich einmal unter Hirtens Führung dieses Kunstrevier betrete, muss ich auch seine Lehre und Meinung als Glaubenslehre annehmen."
    Auch wenn die Kunstgenießerin Louise von Anhalt-Dessau sich in ihrem Tagebuch Mal um Mal als angeregte Zeitungsleserin ins Bild setzt, sie hat kein historisch oder politisch aufmerksames Tagebuch verfasst. Es interessierte sie schon nicht der schreckliche Siebenjährige Krieg und selbst die blutige Französische Revolution taucht nur auf, wenn sie wieder einmal beklagenswerte Auswirkungen in menschlicher Nähe gezeitigt hat. Aber auch nicht das höfische Leben, die Belastungen der Repräsentation, die Nöte der Finanzen, oder die demütigenden Streitereien mit dem fürstlichen Ehemann bilden das eigentliche Zentrum ihrer Darstellungen. Nein, dieses lange Zeit separierte und beschwiegene Riesendiarium, stellt vor allem den Reflex und das Widerspiel einer "schönen Seele" des 18. Jahrhunderts dar, in ihrer Unvergleichlichkeit und doch zugleich in ihrer Repräsentativität. Wie sehr die aufgeklärte (Lese-)Kultur auch für adelige Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts bestimmend geworden ist, wie intensiv "vernünftige" Geselligkeit und subjektive Geistesgegenwart ineinander spielen und noch die intimste Selbstwahrnehmung der Menschen prägen, lässt sich gerade am Authentizitätsgrad der beiden Bände ablesen, an dieser eigentümlichen Mixtur aus sprachlicher Ausdrucksarbeit und sensiblem Bekenntniseifer. Dabei ist nicht so sehr entscheidend, dass Louise ihre gesamte Wirklichkeitserfahrung vielfachen Lektüreanstrengungen verdankt, sondern bedeutsamer ist, dass ihre Schreibfertigkeit eine Oppositionskraft, vielleicht sogar eine Art Gegenzauber zu entwickeln vermag wider die Zumutungen des grauen Alltagsdaseins. Die zahllosen Zitate aus der Bibel und etlichen Predigtsammlungen, die Anspielungen auf Marc Aurel, Tacitus und Cicero, auf Vergil, Dante und Petrarca, bis hin zu Goethe, Schiller, Klopstock, Wieland, Herder, Gellert und Jung-Stilling spielen in diesem Textmassiv auch deshalb eine erhebliche Rolle, weil selbst Goethe und sein Herzog des öfteren zu Gast in Dessau und Wörlitz gewesen sind, ebenso Forster und Alexander von Humboldt, Lavater und Reichardt, die Pädagogen Basedow und Campe und Rochow und etliche andere illustre Zeitgenossen. Das geistige Leben der Zeit besteht für Louise ganz besonders im persönlichen Umgang mit bedeutenden Menschen. Private Lektüre und öffentliche Pflege von Kulturinhalten, Verkehrsformen der empfindsamen Ich- und Weltwahrnehmung sind ihr im Laufe des Lebens unverzichtbar geworden. Nicht der Macht- und Prachtstatus des Geblütsadels also ist maßgeblich für diese Tagebuchschreiberin, sondern allein die Aura des Erlesenen und Erhabenen in Wort, Bild und Ton. Louise lebt und atmet im Fluidum aller schönen Künste, erst sie erschließen ihr den prekären Sinn des Daseins und die subtilen Freuden daran. Freilich, sie hat mit dergleichen Bildungsgepflogenheiten kein Glück bei ihrem erlauchten Ehemann, der muss in diesem Tagebuch denn auch die Rolle eines leicht verschrobenen und herrischen, wenngleich nicht unbedingt hassenswerten Anti-Helden übernehmen. Louises Heroen arbeiten auf anderen Feldern als denen der Machtrepräsentation.
    Aber das Widerspiel, das dieses Tagebuch zum Ausdruck bringt, hat noch eine andere Bedeutung - es ist die der versuchten Selbstbeglaubigung, ja einer geradezu fieberhaften Eigentherapie. Verstimmungen und Reizbarkeiten, Enttäuschungen und Entsagungen, Ängste, Nöte und vor allem Krankheiten hat diese oft so naiv und klug, so andächtig und lektürebeflissen, aber nie ganz rückhaltlos schreibende Autorin zur Genüge erfahren. Ihr gesamter Lebenszuschnitt war seit Anbeginn von Unfreiwilligkeit geprägt, für sinnliche und intellektuelle Kompensationen ist sie deshalb über die Maßen ansprechbar:

    "Dass ich hier so einsam sicher das herrliche Anschauen genieße, das fühle ich nur mit Wehmut umhüllt, weil ich mein Dahinsinken fühle und überzeugt sein muss, dass das Ungenossene und Entbehrte bisher in meinem langen vergangenen Leben auch jetzt ungenossen für mich bleiben wird, und [es] leider nur das wahre, tiefe Empfinden, allein ohne Liebe, ohne herzliche Verbindung wahrer, warmer Freundschaft [gibt], und niemand mich wahrhaft liebt – denn keinem bin ich unentbehrlich, keinen kann ich so lieben, weil ich nicht wiedergeliebt werde. Ich lese 'Voyage d'Italie' von Dupati."

    Bildungslektüre immer wieder als Therapeutikum gegen das unglückliche Bewusstsein einer einsamen und liebesverlassenen Fürstendame in aufgeklärter Zeit. Welch ein erregendes und offenherziges Panorama psychosomatischer Leidenszustände wird in diesem Tagebuch ausgebreitet. Louise hat erkennbar nicht mit ihren posthumen Lesern gerechnet, dazu ist sie zu bescheiden, vielleicht auch zu verunsichert in ihrer ungewöhnlichen Rolle als Chronistin der eigenen Seelenwetterlagen. Hier gibt nicht selten der damalige Wissenschafts- und Philosophiediskurs die Tonart und das Temperament der dokumentierten Lebensprobleme vor. Nicht zufällig versucht Louise in Jung-Stillings "Theorie der Geisterkunde" ihrer eigenen Seelen- und Leibesnöte Herr zu werden. Körperströme und Nervenäther, Geisterwissen und Gottesglauben, gepaart mit magnetischen und elektrischen Organismus-Vorstellungen – all das ist ihr gegenwärtig, wenn sie versucht, ihren oft so verzweifelten Zustand zu verstehen. Ein nervöses, beständig sinnierendes (Innen-)Leben führt diese Frau, nichts ist mehr einfach aufgehoben und gesichert in einer normierten Welt von Tradition und Stand. Louises Tagebuchwerk beweist, dass ein solch erlesenes Zeit- und Ich-Bewusstsein - gewissermaßen aus zweiter Hand - um 1800 auch in adligen Kreisen angekommen und unumgehbar geworden ist. Die veröffentlichte Wissenskultur verquickt das Intime mit dem Allgemeinen, und macht die Arbeit der Selbstverständigung zu einem gleichsam öffentlich durchlässigen Reflexionsereignis. Vor allem dort, wo Gebet und schöngeistige Erbauung nicht wirklich weiterhelfen, treten etliche wissenschaftlich beglaubigte Expertisen, Kuren und Spezialtherapien auf den Plan, versucht das irritierte Ich den verborgenen Malaisen und Dilemmata seiner fragwürdig gewordenen Natur mit spekulativer Neugier auf die Spur zu kommen. In Louises unglücklichem Bewusstsein, zumal im Schmerz um den so tief verehrten Aloys Hirt, wird am Ende jedoch klar, wie wenig Liebes- und Gefühlsqualen überhaupt, schon gar nicht mithilfe der vernünftigen Seelen- und Körperanalyse geheilt werden können. Selbst das religiöse In-sich-gehen scheint dann keinerlei Linderung mehr zu versprechen:

    "Ich ging noch eine Stunde im Garten umher und las noch im Marc Aurel. Mein Gemüt war mir getrübt. Die nahe und die ferne Zukunft lacht mir nicht mehr, das heißt, mein Alter verbietet mir die Hoffnung auf die dauernde glückliche Existenz mit dem Geliebten. Meine jetzige nutzlose, wartende Zeit scheint mir so leer, so öde. Oft wünschte ich mancher meiner Täuschungen und Schwärmereien, besonders die religiösen mir wieder zurück. O Gott, mein Gefühl, mein Empfinden, meine Vernunft ist ohne höhere Kraft doch nur wankend."

    Die Fürstin von Anhalt-Dessau stirbt am Ende wohl nicht an ihren zermürbenden Krankheiten, an Verlassenheit und ständischem Makel, sondern eher an gebrochenem Herzen. Was dieses Ich vom Leben und von den Menschen einforderte, hat ihm jene alte Standeswelt versagt, Louises Modernität, ihr beharrliches Glücks- und Liebesverlangen dürften ihr zum Verhängnis geworden sein. Eine Milderung ihrer Leiden, Verständnis, Zuneigung und Liebe konnte sie nicht von der guten Gesellschaft erwarten, sondern allenfalls im Medium ihrer Bildungseuphorie, im schönen geschriebenen Wort, in der Kunst und in der Musik, zuallerletzt in der Religion sehnsuchtsvoll erahnen. Hier hat sie - auch als Autorin - teilgehabt am Vorschein einer besseren Welt der Zukunft, während die Realität ihr wie Blei auf der Seele lag:

    "Ach, Jesus Christus, dessen körperliche Gestalt ich mir vollkommen, geistig erhaben, liebreich denken kann, habe ich durch ein Bild mir wieder vorgestellt ... . Denken, Beten und Lesen, mich aufrichten im Geiste, kindlich aufblicken zu Christus ... . Ewig, wenn alles wankt, bleibt Glaube, Liebe und Hoffnung."

    Man kann es nicht genug loben, dass nun zum ersten Mal der größere Teil des riesigen, wenngleich lückenhaft überlieferten Tagebuchkonvoluts der Louise von Anhalt-Dessau zur Verfügung steht. Wer ein Faible besitzt für die oft erregende Autobiografik der revolutionären Jahrhundertwende von 1800, wird dieses wunderbar ausgestattete Diarium mit großem Gewinn zur Kenntnis nehmen. Ein Stück historischer Selbsterfahrung, hautnah erzählt unter Seelennot und Weltbedrückung, eine sympathische, für Kenner wie für Laien eindrucksvolle und interessante Lektüre. Man muss der Kulturstiftung Dessau Wörlitz, ihrem Wissenschaftlerteam und dem Mitteldeutschen Verlag danken für die Entdeckung und Präsentation dieses kulturhistorischen, ja literarischen Juwels.

    Kulturstiftung Dessau Wörlitz (Hg.): Die originalen Tagebücher der Fürstin Louise Henriette Wilhelmine von Anhalt-Dessau. Bearbeitet von Ingo Pfeifer, Uwe Quilitzsch und Kristina Schlansky. Zwei Bände, zus. 792 Seiten. Mitteldeutscher Verlag 2010