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Dichter der Gottesfinsternis

Joseph Hahn: "Die Doppelgebärde der Welt. Gedichte. Prosa. Zeichnungen"

Von Brigitte van Kann | 17.09.2004
    Manchmal hat es den Anschein, als wären alle versunkenen literarischen Schätze längst gehoben: die böhmischen Dörfer, die Schtetl Galiziens und der Bukowina bereist, erforscht, ihre "Zimtläden" ausfindig gemacht und katalogisiert. Als käme von dort nur noch Neues, dynamische junge Autoren auf EU-erweitertem Kurs gen Westen …

    Keineswegs, wie ein Blick in das Programm der Edition Memoria zeigt. Der Verlag, eine Ein-Mann-Unternehmung des Literaturenthusiasten und Exilforschers Thomas B. Schumann, widmet sich ausschließlich vergessenen Autoren, die während des Nationalsozialismus verfolgt wurden. Viele von ihnen stammen aus den deutschsprachigen Kulturen Mitteleuropas und kehren nun auf gewaltigen Umwegen, manche über den halben Erdball, zu uns zurück.

    Joseph Hahn zum Beispiel, an den die Edition Memoria in diesem Jahr mit einem aufwendig und schön gestalteten Band erinnert: Die Doppelgebärde der Welt enthält Gedichte, Kurzprosa und Zeichnungen mit Tusche, Pinsel und Feder, zu deren bedrückendem Schwarz-Grau die Korall- und Ockerfarben von Umschlag und Einband einen warmen, wohl auch programmatischen Kontrast bilden. Sammler und Kunstliebhaber wird interessieren, daß es von diesem Band auch eine numerierte und signierte Vorzugsausgabe gibt. Die Auswahl der Texte und Bilder hat Joseph Hahn selbst besorgt.

    Wie nähert man sich diesem Dichter? Am besten vielleicht über seine Lebenswege, die größtenteils erzwungen waren und an denen es liegt, daß er in seiner Sprachheimat gar nicht erst nicht heimisch werden konnte.

    Joseph Hahn kam 1917 im südböhmischen Bergreichenstein zur Welt, das nur 50 Kilometer von Passau entfernt ist und damals noch zur Donaumonarchie gehörte. Auf den Vater, der Kunst und Geometrie unterrichtete und mit dem Zionismus liebäugelte, führt Joseph Hahn seine Passion für das Zeichnen zurück. Seiner Mutter, die seit einer schweren Erkrankung im Rollstuhl saß, verdankt er die Liebe zur deutschen Sprache, seiner "Muttersprache" im besten Sinn des Wortes. 1935 geht der junge Mann zum Kunststudium nach Prag, an der Akademie der Bildenden Künste begegnet er Peter Weiss, wie er literarisch und künstlerisch gleichermaßen begabt. Nach dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei kann Peter Weiss 1939 nach Schweden fliehen – als Schriftsteller wird ihm in den sechziger und siebziger Jahren Ruhm und große Anerkennung zuteil werden. Joseph Hahn gelingt die Flucht nach England, seine Eltern sterben im Konzentrationslager.

    Bohemia

    Bohemia, heidelbeerblaues Verhängnis,
    zwischen Traum und Vergessen
    glüht noch dein Grün.

    Bohemia, irrlichtende Sühne,
    die Tränenkrüge schöpften
    dich leer.


    Bohemia, verhüllt in die Maie,
    neben den Uhrenpuppen zu Prag
    dreht sich mit seinen zwölf Enterbungen
    das hämisch fortgewendete Los.


    Nach Jahren der Entbehrung – Hahn verdingt sich als Fabrikarbeiter und Bauernknecht – kann er in Oxford sein Kunststudium wieder aufnehmen. Weil er in einem mehr als örtlichen Sinn seine Heimat verloren hat, gibt es für ihn keine Rückkehr in die alte Welt – noch vor Kriegsende geht er in die USA, wo er seine Jugendfreundin heiratet und sich ganz der Kunst verschreibt. Als seine Frau 1949 an Multipler Sklerose erkrankt, verdient Joseph Hahn das dringend benötigte Geld als Retuscheur in einem Fotostudio. Dieser Brotberuf, den er fast sein ganzes Arbeitsleben lang ausübt, und die Härten des Alltags lassen nur wenig Raum für sein Schreiben und Zeichnen. Weil er überdies ein akribischer Arbeiter mit höchsten Ansprüchen an seine Kunst ist, bleibt sein Gesamtwerk schmal.

    Nächte, offene Säle,
    Es leuchten die Stirnen der Geschöpfe,
    nah pocht der Herzschlag der Welt.

    Wem neigt sich das große Gehorch,
    was raschelt das Feuer der Leere
    und spricht der Seele leiser Zitterschlag?

    Zur Ewigkeit fließt die Zeit,
    zum Ganzen tastet das Menschfragment
    und alle Lebendigkeit.


    1989 ist Joseph Hahn aus New York fortgezogen, mit seiner zweiten Frau lebt er heute, hochbetagt, in einem Haus in Vermont, wo ihn die Landschaft an die böhmischen Wälder seiner Kindheit erinnern mag. Auch nach über sechzig Jahren Exil schreibt er in seiner deutschen Muttersprache. Sein zeichnerisches Werk hat bislang größere internationale Anerkennung gefunden als die Gedichte und kurzen Prosatexte – auch in diesem Sinne ist der vorliegende Band eine "Wiedergutmachung", wie Thomas B. Schumann, der Verleger der Edition Memoria, seinen Einsatz für vergessene Autoren nennt.

    Der poetische Fundus, aus dem Joseph Hahn schöpft, die Themen, die ihn beschäftigen, erinnern an Paul Celan, wie er ein Überlebender, dessen Eltern "in der Gottesfinsternis" umkamen. Für beide Dichter war die Vernichtung der Juden in Europa die alles überschattende Erfahrung. Durch sie wurde Joseph Hahn zum warnenden Mahner, der heute in der atomaren Bedrohung der Welt eine Fortsetzung jener Katastrophe befürchtet.

    Wohin, wohin
    soll man sich retten?
    Überall fletschen die Rachen des Hasses,
    leer schäumen die Maie auf,
    die Herzen der ahnenden Vögel
    pochen in Angst.


    Hungerbleich kräuselt sich
    Das vergiftete Getreide,
    durchs vereiste Gewissen der Herrscher
    grellt hämisch die Todesmeduse.
    Wohin, wohin
    soll man sich retten?


    Seine apokalyptischen Bilder hat Joseph Hahn als "Trauermantel der Lebensbejahung" bezeichnet. "Inmitten des unerbittlichen Gewoges aus Gier und Geistesentgleisung", wie der greise Dichter im Vorwort schreibt, bestehe die Aufgabe der Dichtung darin, Tod und Gefahr abzuwenden. Für ihn ist die Kunst kein ästhetisches Spiel, sondern ein Beitrag zur Rettung der Welt, Ausdruck einer "von allen Dogmen emanzipierten Ehrfurcht vor dem Leben", selbst vor dem "der schlichtesten Geschöpfe":

    An eine Feldblume

    Kleines Gestirn der Frühlingsgalaxe,
    niemand sah
    deine einsame Verklärung
    im rabenversehrten Gefild,
    niemand kümmerte sich
    als die eisigen Stürme
    dich peitschten
    und du der Wucht widerstandst.

    Sanftsehniges Wunder
    schlichte Pracht,
    sei uns ein Schild
    gegen das Entsetzen.



    Joseph Hahn
    Die Doppelgebärde der Welt. Gedichte. Prosa. Zeichnungen.
    Edition Memoria, 115 S., EUR 25,-