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Dichter und Lenker

Goethe ist noch immer ein anregendes Sujet. Nach der letzten großen Liebe des Dichters, über die Martin Walser letztes Jahr einen Roman geschrieben hat, widmet sich Gustav Seibt nun der berühmten Begegnung Goethes mit Napoleon. Sie fand am 2. Oktober 1808 in der Erfurter Statthalterei statt und dauerte eine knappe Stunde.

Von Martin Ebel | 11.01.2009
    Kein Historiker, nicht einmal ein sprachgewaltiger Schriftsteller wie Walser könnte aus dieser Stunde ein ganzes Buch machen - außer er bettet sie historisch ein, berücksichtigt die Vor- und Nachgeschichte, schildert die Verhältnisse, die im Herzogtum Sachsen-Weimar-Gotha damals herrschten, zieht Goethes politische, literarische und private Situation in Betracht. Genau das macht Seibt, einer der klügsten Publizisten unserer Zeit. Das Ergebnis ist ein Glanzstück historischer Erzählung. Wer es gelesen hat, dessen Geist ist nicht nur auf intelligente Weise beschäftigt worden, er darf auch einen beträchtlichen Gewinn an Kenntnissen wie Erkenntnis verbuchen. Kenntnisse darüber, was ein Krieg im frühen 19. Jahrhundert für Zivilisten bedeutete. Wie schwer es für einen Kleinstaat war, sich mit großen Nachbarn zu arrangieren, die sich abwechselnd bekämpften und verbündeten. Wie ein höfisch angebundener Dichter mit der neuen Zeit zurecht kam, die aus Frankreich mit der Wucht einer Naturgewalt herwehte. Wie sich seine Position veränderte und wie sich dies wiederum in seinem Werk niederschlug.

    Goethes Leben verlief durchaus nicht immer ruhig. Zwar suchte er die Weltgeschichte lieber nicht auf - Ausnahme war die Teilnahme am Feldzug gegen die französische Revolutionsregierung mit der Kanonade von Valmy. Aber die Weltgeschichte kam zu ihm, sie kam über ihn. Als alter Mann konnte er zu Eckermann sagen:

    " Ich habe den großen Vorteil, dass ich zu einer Zeit geboren wurde, wo die größten Weltbegebenheiten an die Tagesordnung kamen und sich durch mein langes Leben fortsetzten, sodass ich vom Siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der Französischen Revolution und endlich von der Napoleonischen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge war. Hierdurch bin ich zu ganz anderen Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen möglich sein wird, die jetzt geboren werden und die sich die großen Begebenheiten durch Bücher aneignen müssen, die sie nicht verstehen. "

    Das sind altersweise Töne; als er mittendrin steckte, sah das ganz anders aus. Mehr als einmal berührten die Feldzüge Napoleons das Weimarer Gebiet; im Jahr 1806 geriet Goethe sogar in höchste Gefahr. Am 14. Oktober rückten französische Truppen in das Städtchen ein, das damals nicht mehr als 7000 Einwohner zählte und ein Vielfaches an ungebetenen Gästen aufnehmen musste. Es kam zu Ausschreitungen, einige Häuser wurden niedergebrannt, mehr noch geplündert. Über das, was in dieser Nacht im Haus am Frauenplan geschah, hat sich Goethe nie wirklich geäußert, wie meist über Dinge, die ihm wirklich nahe gingen. Im Tagebuch stehen allein die lakonischen Worte:

    " Schrekliche Nacht. Erhaltung unseres Hauses durch Standhaftigkeit und Glück. "

    Gustav Seibt hat über diese "schrekliche Nacht" aus den Berichten der Zeitgenossen das destilliert, was als zuverlässig gelten kann. Demnach hatte Goethe dem Marschall Ney Quartier angeboten und glaubte sich so vor der Soldateska geschützt. Doch Ney traf erst am nächsten Morgen ein. In der Nacht aber verschafften sich neben den schon vorhandenen 16 Elsässern zwei bewaffnete Infanteristen Einlass, verlangten Wein und zu essen, drangen in das Schlafzimmer ein und bedrohten den Hausherrn. Offenbar hat seine Lebensgefährtin Christiane Hilfe geholt und Goethe aus einer äußerst unangenehmen Situation befreit, ihm vielleicht sogar das Leben gerettet.

    Für Seibt stellt diese Nacht für Goethe eine existenzielle Grenzerfahrung dar, auf die er mit drei entscheidenden Schritten reagierte: Er legitimierte das Verhältnis zu Christiane, indem er sie nur wenige Tage später heiratete. Er bat den Herzog, ihm das Haus am Frauenplan juristisch definitiv in seinen Besitz zu überführen - das war Goethe wichtig für den nicht unwahrscheinlichen Fall, dass das Herzogtum Weimar aufgelöst würde. Und er trieb die Fertigstellung der Werkausgabe voran. Was Goethe in diesen Tagen erlebte, teilte er mit vielen Weimaranern. Ihn kostete die Einquartierung ein ganzes Jahresgehalt, die Verluste in Weimar selbst beziffert ein Stadthistoriker mit deutscher Gründlichkeit so:

    "Neben 139.851 Reichstaler Bargeld wurde die Bevölkerung der Stadt an einem Tage und in zwei Nächten ärmer um 3242 Stück Zug- und Schlachtvieh, darunter allein 109 Pferde, 6846 weimarische Scheffel Getreide, 9286 Zentner Heu, 339 Stroh-Schütten Stroh, 40.836 Mass Wein, 25.779 Mass Bier, 8605 Mass Branntwein, Wäsche im Wert von 56.840 Talern, Silberwerk von 21.432 Taler, Möbel für 11.250 Taler, Materialwaren und Schnittware im Werte von 69.403."

    So ging es also zu, wenn eine Armee über eine Kleinstadt herfiel. Weimar war politisch in einer besonders prekären Lage; das kleine Herzogtum war mit Preußen verbündet, dem Verlierer des Feldzuges, und der Herzog war nicht da, um Napoleon zu empfangen. Die Herzogin musste ihn ersetzen, und sie tat das offenbar mit Geschick und Courage. Die Regierung bestand aus den drei Geheimen Räten Voigt, Wolzogen und Goethe. Am 16. Oktober hatten sie Audienz bei Napoleon - in der Hoffnung, das Herzogtum zu erhalten und die Plünderungen beenden zu lassen. Weimar kam bei der ganzen Sache noch glimpflich davon, es musste sich dem Rheinbund anschließen und Soldaten für die nächsten Feldzüge Napoleons stellen. Goethe war bei der Unterredung nicht dabei, er ließ sich entschuldigen, was ihm schon Zeitgenossen als Feigheit ausgelegt haben und was auch Seibt einen "ungeheuerlichen Vorgang" nennt; vielleicht war aber die Nierenkolik, die Goethe anführte, doch nicht vorgeschoben, denn unter diesen Anfällen litt der Dichter sehr.

    So vergingen noch zwei Jahre, bis es zu jenem Treffen kam, das schon die Zeitgenossen mystifiziert und glorifiziert haben - als Begegnung der beiden größten Herrscher ihrer Zeit, der eine im Reich der Waffen, der andere im Reich des Geistes und der Poesie. Den äußeren Rahmen bildete der Fürstentag zu Erfurt, den Napoleon im Herbst 1808 einberief. Die Darstellung dieses Ereignisses bildet einen Höhepunkt des Buches, sie zeigt Seibts Erzählkunst im schönsten Licht. Der Kaiser der Franzosen, der sich in Spanien erstmals einem Guerillakrieg gegenüber sah, wollte den deutschen Duodezherrschern durch Prachtentfaltung imponieren und zugleich den russischen Zaren Alexander als Bündnispartner gegen Österreich gewinnen. Ersteres gelang, letzteres nicht, unter anderem auch, weil Talleyrand, eigentlich im Dienst Napoleons, den Zaren vor einem Bündnis warnte, was Seibt den "kühnsten und folgenreichsten Verrat der Diplomatiegeschichte" nennt. Anschaulich schildert er, wie der französische Diplomat den Zaren am Rande gesellschaftlicher Veranstaltungen scheinbar harmlos traf und ihm seine Ratschläge auf Spickzetteln zusteckte, die Alexander dann auswendig lernte.

    Der Rest war aufwändige Statisterie:

    " ... die vier deutschen Könige aus Sachsen, Bayern, Württemberg und Westphalen, der Fürstprimas Dalberg, der Grossherzog von Hessen, die Herzöge von Gotha und Weimar, der preussische Prinz Wilhelm, Baron Vincent, der Abgesandte des österreichischen Kaisers... das Dutzend napoleonische Marschälle mit ihren nagelneuen Herzogstiteln oder die 57.000 mitgebrachten, eigens nach Grösse und Schönheit ausgewählten Soldaten. Und ganz und gar unentbehrlich waren selbstredend die dreissig Theaterstars des "Théâtre français" - an ihrer Spitze der weltberühmte Talma, der "Napoleon" der Bühne, des Kaisers Lieblingsschauspieler - , die Abend für Abend in teuersten, auf langen Wagenkolonnen aus Paris herbeigeschafften Dekors zu spielen hatten. Über Erfurt, eine Stadt von 16.000 Einwohnern, ergoss sich der Glanz einer Weltkapitale." "

    Bei einem Theaterabend geschah es auch, dass Goethe den Kaiser der Franzosen erstmal zu Gesicht bekam. Am 2. Oktober hatte er dann seine Audienz. Wie diese ablief, darüber hat sich Goethe wenig geäußert und wenn, dann recht geheimnistuerisch. Erst viele Jahre später machte er sich daran, das Treffen auszuarbeiten, kam aber über Skizzen nicht hinaus. Um zehn Uhr wurde er aus dem Vorsaal ins Audienzzimmer gebeten. Hören wir nun Goethe selbst:

    " Ich werde hereingerufen. In demselben Augenblick meldet sich Daru, welcher sogleich eingelassen wird. Ich zaudere deshalb. Werde nochmals gerufen. Trete ein. Der Kayser sitzt an einem grossen runden Tische frühstückend; zu seiner Rechten etwas entfernt vom Tische Talleyrand, zu seiner linken ziemlich nah Daru, mit dem er sich über die Contributions-Angelegenheiten unterhält. Der Kayser winkt mir heranzukommen. Ich bleibe in schicklicher Entfernung vor ihm stehen. Nachdem er mich aufmerksam angeblickt, sagte er: "vous êtes un homme"; ich verbeuge mich.

    Er fragt: wie alt seyd ihr?

    Sechzig Jahr.

    Ihr habt euch gut erhalten - "

    Im folgenden spricht Napoleon Goethe auf den "Werther" an und bemängelt eine Stelle als "nicht naturgemäß", was Goethe gern zugibt. Worum es sich genau handelt, ist nicht zu ermitteln; Seibt kommt nach längerer Betrachtung zu dem Schluss, es handele sich um eine Stelle, wo der Herausgeber von Werthers Briefen Dinge mitteilt, die er gar nicht wissen kann. Das Gespräch dreht sich dann um das französische Trauerspiel und die sogenannten "Schicksalsstücke", die Napoleon ablehnt:

    " Was, sagt er, will man jetzt mit dem Schicksal; die Politik ist das Schicksal. "

    Dann fragt Napoleon nach Goethes persönlichen Verhältnissen; er lädt ihn nach Paris ein und regt an, eine Brutus-Tragödie zu verfassen. Das kann aber auch erst bei einem zweiten Treffen geschehen sein, das vier Tage später in Weimar stattfand. Dorthin hatte Napoleon sich mit seinem gesamten Gefolge spontan eingeladen, und Goethe hatte die undankbare Aufgabe, eine Jagd, eine Theateraufführung und einen Hofball zu organisieren. Dabei kam es dann noch einmal zu einer Unterhaltung mit dem Kaiser. Als die Monarchen mit ihrem Anhang wieder nach Erfurt abgefahren waren, war Goethe so erschöpft, dass er bei der Frau von Stein auf dem Sofa einschlief.

    Was hat die Begegnung mit dem mächtigsten Mann seiner Zeit bei Goethe ausgelöst, wie stand er zu ihm, vorher und nachher? Darüber gibt Seibt detailliert und erschöpfend Auskunft - den Gegenstand erschöpfend, nicht den Leser - , durch äußerst genaue Musterung aller geistig-politischen Aktivitäten des Dichters in jenen Jahren; von den Zeitungen, die er las, über seine Informanten bis hin zu ausgewählten Artikeln, die er übersetzte.

    Äußerst subtil ist Seibts Darstellung eines Schwenks hin zu Napoleon, den Goethe im Jahr 1807 vollzog, und zwar öffentlich auf indirekte Weise. Er tat das, indem er sich mit einer sehr viel auffälligeren Wende eines prominenten Zeitgenossen solidarisierte, des Historikers Johannes von Müller. Dieser war, wie Seibt es nennt, eine "europäische Zelebrität", Hofhistoriker in Berlin, der mit den Höfen in Dresden, Wien und Petersburg verkehrte und von ihnen als Informant genutzt wurde. Johannes von Müller war ein prononcierter Gegner Napoleons, den er "Attila-Buonaparte" nannte. Ein einziges anderthalbstündiges Gespräch am 20. November 1806 reichte dem französischen Kaiser, seinen Gegner regelrecht umzudrehen. Von Müller zeigte sich bezaubert und begeistert, er rühmte die Intelligenz und das historische Wissen seines Gegenübers. Dieser Seitenwechsel gab viel zu reden und zu höhnen im intellektuellen Europa. Dann musste von Müller die traditionelle Prunkrede auf Friedrich II. halten - ein Hochseilakt, denn Berlin war französisch besetzt, der Redner in preußischen Diensten, aber von Napoleon bezirzt. Überaus geschickt zog sich von Müller aus der Affäre: Er appellierte an die besiegten Preußen, aus der Erinnerung an die ruhmreichen Zeiten unter Friedrich innere Stärke und Selbstachtung zu gewinnen, und an die siegreichen Franzosen, den Preußen die Achtung nicht zu verweigern.

    Goethe war von der Rede begeistert und rezensierte sie entsprechend:

    " Er hat in einer bedenklichen Lage trefflich gesprochen, so dass sein Wort dem Beglückten Ehrfurcht und Schonung, dem Bedrängten Trost und Hoffnung einflössen muss. "


    Das Verhältnis von Siegern und Besiegten, das von Müllers Rede bestimmt, beschäftigte Goethe nachdrücklich. In jenen Jahren wechselten Allianzen und das Kriegsglück häufig, und die zivile Gesellschaft musste sich mal mit Soldaten und Herrschern der einen, mal der anderen Seite arrangieren. Und ums Arrangieren war es Goethe hauptsächlich zu tun. Besatzung und Einquartierung hatte er schon als Kind in Frankfurt kennengelernt, als der französische Offizier Thoranc im Elternhaus logierte. In seinem Erinnerungsbuch "Dichtung und Wahrheit" beschreibt Goethe zwei Verhaltensweisen gegenüber dem Okkupanten: Der Vater habe trotzig und verbittert reagiert, Mutter und Kinder aber das Beste aus der Situation gemacht, nämlich Französisch gelernt und der fremden Kultur allerlei Interessantes abgelauscht und abgeschaut. Genauso, meinte er, sollten es die Weimarer auch in den Jahren 1806 folgende halten. Goethe suchte stets die Nähe zu französischen Offizieren; gewiss ging es ihm dabei um Protektion, aber auch um kultivierte Gesprächspartner. Den patriotischen Aufbruch, der so viele Deutsche erfasste, als sich Napoleons Niederlage abzeichnete, verstand und teilte er nicht, das war für ihn realitätsferne "Gefühlspolitik", wie Seibt es nennt.

    Zum einen war Goethe als Realist davon überzeugt, mit der französischen Herrschaft auskommen zu müssen, er bejahte sie sogar ausdrücklich als Ordnungsmacht, die bald Frieden stiften würde. Das einzige politische Gedicht, das Goethe zu Lebzeiten veröffentlichen ließ, sind die "Karlsbader Stanzen", gewidmet Marie Luise, der Tochter des österreichischen Kaisers und neuen Gattin Napoleons. Seibt unterzieht dies Huldigungsdichtung, mit der Goethe sich in Deutschland keine Freunde machte, einer eingehenden Betrachtung. In der letzten Strophe erscheint Marie-Luise als Friedensgöttin:

    " Sie, die zum Vorzug einst als Braut gelanget,
    Vermittlerin nach Götterart zu sein,
    Als Mutter, die den Sohn im Arme, pranget,
    Befördre neuen, daurenden Verein;
    Sie kläre, wenn die Welt im Düstern banget,
    Den Himmel auf zu ew'gem Sonnenschein!
    Uns sei durch Sie dies letzte Glück beschieden -
    Der alles wollen kann, will auch den Frieden. "

    Die letzte Zeile ist ein offener Appell an Napoleon. Aber als die Stanzen veröffentlicht wurden, hatte der Russlandfeldzug bereits begonnen, der Anfang vom Ende der französischen Herrschaft über Europa.

    Goethe hatte sich getäuscht; "sein Kaiser" - wie er ihn seit der Erfurter Begegnung immer nannte- war nicht der erträumte Friedensfürst, sondern einer, der den kriegerischen Hals nicht voll bekam. Diese Erkenntnis veranlasste Goethe zu einer zweiten vorsichtigen Wendung. Als der achte Band seiner Werkausgabe 1816 erschien - da saß Napoleon schon auf St. Helena in der Verbannung -, da ergänzte er die "Stanzen" um zwei neue Strophen. Die erste greift den bisherigen, eben gehörten Schluss direkt auf:

    " Den Frieden kann das Wollen nicht bereiten:
    Wer alles will, will sich vor allen mächtig,
    Indem er siegt, lehrt er die andern streiten;
    Bedenkend macht er seinen Feind bedächtig;
    So wachsen Kraft und List nach allen Seiten,
    Der Weltkreis ruht von Ungeheuern trächtig,
    Und der Geburten zahlenlose Plage
    Droht jedem Tag als mit dem jüngsten Tage. "

    Goethe macht seinem Helden jetzt den politischen Vorwurf, nicht Maß gehalten zu haben; seine Kriegslust nicht gezügelt, die Vorherrschaft über Europa nicht mit einem Frieden nach Art des Augustus gekrönt zu haben. Mit dieser Haltung war es für ihn auch nicht schwer, den Auftrag des preußischen Hofes anzunehmen, ein Festspiel für den feierlichen Einzug der siegreichen Alliierten in Berlin zu schreiben.

    Politisch hat Goethe also durchaus laviert; aus Einsicht in die Notwendigkeit des Davonkommenmüssens, aber auch aus Überzeugung. Als Gestalt blieb Napoleon für ihn aber unantastbar, und das hat ganz gewiss mit dem persönlichen Erlebnis zu tun, ihm begegnet zu sein und von ihm als seinesgleichen betrachtet worden zu sein. Dieser Aspekt kommt in etlichen Äußerungen Goethes zum Ausdruck. Das Napoleon-Wort "Vous êtes un homme", die fachmännische Unterhaltung über den "Werther" und die Tragödie: da fühlte er sich von einem der Größten als ebenbürtig behandelt. An den Verleger Cotta schreibt er:

    " Ich will gerne gestehen, dass mir in meinem Leben nichts Héheres oder Erfreulicheres begegnen konnte, als vor dem französischen Kaiser, und zwar auf eine solche Weise zu stehen. Ohne mich auf das Detail der Unterredung einzulassen, so kann ich sagen, dass mich noch mienals ein Höherer dergestalt aufgenommen, indem er mit besonderem Zutrauen, mich, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, gleichsam gelten liess, und nicht undeutlich ausdrückte, dass ihm mein Wesen gemäss sei. "

    Ob selbst ein Goethe einfach geblendet war von der freundlichen Herablassung des mächtigsten Mannes der Welt: Diese Frage stellt sich Gustav Seibt nicht. Er fragt auch nicht, ob Goethes politisches Lavieren als Opportunismus, gar als Kollaboration zu bezeichnen wäre. Zu Recht fragt er das nicht, denn das wäre unhistorisch gedacht, das hieße Begriffe aus dem 20. Jahrhundert mit seiner totalitären Art, Krieg zu führen, auf die Goethezeit zu übertragen. Seibt ist es viel mehr darum zu tun, die Voraussetzungen für Goethes Verhalten zu verstehen und die Windungen und Wendungen minutiös zu verfolgen und zu interpretieren. Das ist ihm glänzend gelungen. Seine immer historische, nie spekulative Studie zeigt Goethe in einem bisher nicht genügend ausgeleuchteten Zusammenhang, und sie entwirft ein realistisches Bild der Lebensbedingungen in einer vom wechselnden Kriegsglück geprägten Zeit.

    An seiner Bewunderung für Napoleon als Phänomen, als nahezu übermenschliche Gestalt, hielt Goethe noch im Alter fest, als dies nun alles andere als politisch korrekt war. Er stellte den Franzosenkaiser über alle moralische Kategorien, indem er ihn mit einer reinen Naturkraft verglich. Die Menschlein seien doch viel zu klein, um ihn überhaupt beurteilen zu können, meinte er. Nirgendwo kommt das schöner zum Ausdruck als in einem fast blasphemischen Gedicht aus dem Nachlass, entstanden wahrscheinlich 1828:

    " Am jüngsten Tag vor Gottes Thron / Stand endlich Held Napoleon. /Der Teufel hielt ein grosses Register/ Gegen denselben und seine Geschwister,/ War ein wundersam verruchtes Wesen: / Satan fing an, es abzulesen./ Gott Vater oder Gott der Sohn, / Einer von beiden sprach vom Thron, / Wenn nicht etwa gar der Heilige Geist/ Das Wort genommen allermeist:/ "Wiederhol's nicht vor göttlichen Ohren!/ Du sprichst wie die deutschen Professoren. / Wir wissen alles, mach es kurz! / Am jüngsten Tag ists nur ein Furz./ Getraust du dich, in anzugreifen, / So magst du ihn nach der Hölle schleifen." "

    Literaturangaben
    Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung.
    C. H. Beck, München. 288 S., 19.90 Euro.
    Napoleo-Porträt von Horace Vernet aus dem Jahr 1815
    Napoleo-Porträt von Horace Vernet aus dem Jahr 1815 (AP)