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"Die ästhetische Dimension muss zunächst einmal dienen"

Patrick Roth zieht in seinem Werk immer wieder Parallelen zwischen Religion und Literatur. Sein jüngstes Buch "Sunrise. Das Buch Joseph" fährt mit dieser Tradition fort. Roth geht sogar noch weiter und verlangt eine Aufhebung der Trennung von Literatur und Religion. Beide hätten eine verbindende Funktion.

Von Rita Anna Tüpper | 02.06.2013
    Patrick Roth hat Los Angeles und die Filmwelt Hollywoods verlassen - und mit ihr eine seiner wichtigsten literarischen Inspirationsquellen. Der geborene Freiburger wollte Filmemacher werden und war deshalb 1975 noch als Student mit einem Stipendium in die USA gegangen; 1991 debütierte er jedoch nach filmischen und dramatischen Arbeiten mit der Novelle Riverside.

    Mit szenischen Verdichtungen des Erzählens, mit atemberaubenden Spannungselementen und einer Überfülle und schnellen Abfolge energiegeladener Bilder blieb Patrick Roths Nähe zum Film immer präsent. Das gilt auch für jene Werke, die ihre Themen nicht hinter den Kulissen Hollywoods fanden und durch Bezüge zum Mythischen und Biblischen augenfällig ins Transzendente hineinreichen.

    Nach fast vier Jahrzehnten in den USA kehrte der Autor nun 2012 ins heimatliche Baden-Württemberg zurück, einen mit über 500 Seiten ebenso umfangreichen wie tiefsinnigen Roman im Gepäck: SUNRISE. Das Buch Joseph. Viele assoziierten sogleich Thomas Manns Josephroman über die alttestamentarische Figur und fragten, ob der Anspruch auf Weltliteratur eingelöst werde. Immerhin: Carsten Hueck bewertete das Buch als solitären Text der deutschen Literaturlandschaft, "durchglüht von heiligem Ernst, archaischer Gewalt und Schönheit"; kurz darauf tauchte SUNRISE auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2012 auf, vom Autor für den Südwestrundfunk gelesen und dort im gleichen Jahr ausgestrahlt. Es löste eine leidenschaftliche Debatte im Deutschen Literaturarchiv Marbach aus.

    Ein Symposium in Marbach sollte im letzten Oktober untersuchen, inwiefern vergessene Inhalte der Bibel durch die Literatur Patrick Roths wieder lebendig werden. Die Organisatoren, die Heidelberger Germanistin Michaela Kopp-Marx und der Theologe Georg Langenhorst, gaben den Referenten den Auftrag, dieser Frage durch eine interdisziplinäre Reflexion auf die bekannte "Christus-Trilogie" des Autors nachzugehen. Mit drehbuchartig brisanten Spotlights auf religiös inspirierte Außenseiter und gesellschaftliche Randerscheinungen wie dem besessenen Totenerwecker Johnny, der als Grabschänder wahrgenommen wird, sorgte der Autor für Aufmerksamkeit.

    Im März 2013 aber war SUNRISE. Das Buch Joseph erschienen, mit dem Roth an die biblische Thematik der Christus-Trilogie wieder anknüpfte - ein Roman, dessen Plot, so Eckhard Nordhofen in der Zeit, "nach allen Regeln orientalischer Meistererzähler konstruiert" ist. Die hoch dramatisch inszenierte Lebensgeschichte des Joseph von Nazareth hebelte den Tagungsplan aus; die bilderreiche, irritierende Suggestivkraft des Romans löste die distanzierte Betrachtungsweise der Wissenschaftler auf. Das Symposium in Marbach wurde zu einer Agorá von Deutungen und Affekten des soeben Gelesenen, von materialistischen, theologischen, tiefenpsychologischen Interpretationen, von Empörung über Gottesbilder und Menschenopfer, von emotionaler und intellektueller Reibung und Faszination.

    Die Auffassungen von Literaturwissenschaftlern wie Jochen Hörisch, Professor an der Universität Mannheim und Uwe Schütte von der Aston University Birmingham trafen auf jene der Theologen Joseph Kuschel, Professor an der Universität Tübingen und Markus Schiffer-Ferrari, Professor für Altes Testament der Universität Koblenz-Landau. Sie wurden konfrontiert mit der psychoanalytischen Deutung Jörg Rasches vom C. G. Jung Institut. Das Buch Joseph löste eine Suche nach existenzieller, anthropologischer und gesellschaftlicher Positionsbestimmung aus, die weit über eine theoretisch-wissenschaftliche Debatte hinausging und emotionale Tiefen des Glaubens, der Angst, der Aversion und der Empathie ansprach.

    In klassischen Rhythmen und archaischem Duktus erzählt Patrick Roth von einem exemplarischen Menschen; sein Joseph ist traumatischen Erfahrungen und Todeserlebnissen ausgesetzt. Er gerät in innere Konflikte durch Schuldgefühle und übermächtige Gottesimaginationen. Er entwindet sich dem Befehl Gottes, seinen Sohn wie einst Abraham zu opfern. Joseph fällt unter die Räuber und muss die ganze Grausamkeit und Brutalität, zu der Menschen fähig sind, nicht nur erfahren, sondern auch in sich selbst entdecken. Durch Dialog und Hilfe aber kann er der Perpetuierung der Gewalt entkommen und zum Geburtshelfer von Zwillingen bei der Niederkunft der Erzählerin werden.

    Das ganze Drama des Menschen zwischen Geburt und Tod, Geborgenheit und Qual, Gefangenschaft und Befreiung kommt in diesem Joseph zum Ausdruck, dessen Geschichte keine Tabus kennt, nicht einmal jenes des Menschenopfers und des Kannibalismus.

    Wie für den alttestamentarischen Joseph, so waren auch für Joseph von Nazareth seine Träume von besonderer Bedeutung, ja handlungsweisend und entscheidend dafür, dass er die Schwangerschaft seiner Verlobten Maria annahm, obwohl er nicht der leibliche Vater des Kindes sein konnte. Dies ist eine der wenigen Informationen, die das Neue Testament über seine marginale Figur bereithält. Patrick Roth holt diesen Joseph gerade deshalb - weil er ein Träumer und von Träumen Geführter ist - aus dem Dunkel der Geschichte und bedient sich dabei eigener Trauminhalte als Inspirationsquelle.

    Die Figur des Träumers Joseph ist zum neuen Dreh- und Angelpunkt des Œvres von Patrick Roth geworden, auch weil sie unmittelbar auf ihren Autor verweist: Die eigenen Träume zu beachten und eine adäquate Antwort auf sie im Leben und Schreiben zu finden, ist für Roth wesentlicher Beweggrund seiner Arbeit als Schriftsteller. Es waren die inneren Bilder, die im Lauf seines Lebens die Oberhand über die Filmbilder bekamen, obwohl Patrick Roth doch ihretwegen - aus seiner Liebe zur "Traumfabrik" - nach Hollywood aufgebrochen war. Wie zentral die ureigenen inneren Bilder für sein Schreiben geworden sind, erklärt Patrick Roth im Gespräch in der März/April-Ausgabe der Zeitschrift Die politische Meinung:

    "Es sind eigentlich letztlich immer wieder die Träume, würde ich sagen - die Träume, die nicht nur den Anstoß geben zu einer Arbeit, sondern die sie dann auch unterstützen, die Arbeit tragen. Sonst hätte ich also für ein Buch wie das letzte zum Beispiel - für SUNRISE. Das Buch Joseph, das über sechs Jahre hin entstand -, einfach nicht den Atem gehabt. Den ‚langen Atem‘ - den geben mir die Träume. Ich würde sagen: Ohne deren kompensierende, ermutigende Inspiration hätte ich nach einem halben Jahr schlappgemacht.

    Beim Filmen ist das anders. Einerseits arbeitet man da natürlich im Team, ist also - auch äußerlich - eigentlich ständig in einem Dialog: Es wird einem ‚zugearbeitet‘ oder widersprochen. Andererseits liegt gerade im Sicherheitsgefühl, das einem die Crew oder der Drehbuchpartner, die Schauspieler oder manchmal aber auch die Produzenten vermitteln, die größte Gefahr. Nämlich: das eigentliche Ziel der Arbeit aus dem Auge zu verlieren. Und mit ‚Ziel‘ meine ich, jetzt jenes erste geheime Gefühl zu bewahren - jenen ersten Impuls, die erste Vision, die den Regisseur zur Arbeit überhaupt drängt, die Arbeit also beginnen lässt -, und zwar bis zur Fertigstellung hin kompromisslos zu bewahren. Das ist das schwerste, denke ich. Beim Filmen wird nämlich diese geheime Kernsekunde der Vision, die alles anstieß, alles färbte, alles oder allem erste Form gab - meist durchs Kollektiv verwässert. Ich bin einzig angewiesen auf mein Unbewusstes - das eben nicht ‚mir‘ gehört. Ich sage: ‚mein‘ Unbewusstes - aber das Possessivpronomen täuscht da eigentlich."

    Wieder ist es in SUNRISE - wie in Riverside der sonderliche Einsiedler in der Höhle oder in Johnny Shines der scheinbar verrückte Grabschänder und Tramp - der Außenseiter, für den sich Patrick Roth interessiert. In ihm repräsentiert sich gesellschaftlich das Unterdrückte, Subversive und psychologisch das Abgespaltene, Unbewusste.

    Auch Joseph gehört zu diesen existenziellen Außenseitern, er ist der schweigende Teil der heiligen Familie und ihr einziger "Nur-Mensch". Joseph von Nazareth steht - wenn auch weitgehend ex negativo und im Schatten seines Sohnes - im Zentrum der gesamten europäisch-christlichen Geistesgeschichte. Nicht weniger als diese Geschichte wird hier, einschließlich ihrer alttestamentarischen Vorgeschichte, dialektisch aufgearbeitet, reflektiert, angeprangert und doch neu belebt.

    So berührend der Roman die zärtliche Sorge Josephs um seinen Ziehsohn Jesus darstellt, so konsequent erzählt er vom Abstieg in die tiefsten Niederungen des Widervernünftigen von Gewalt, Blutrausch und Barbarei; das Menschliche schlägt ins Bestialische um. Erste Bilder des Holocaust, die Patrick Roth als Kind zu Gesicht bekam, gaben dazu den Impuls. Joseph ist gewissermaßen das Gefäß, das alle Seiten des Menschen fassen muss, insbesondere auch jene, welche die christliche Tradition aus dem Bewusstsein zu verdrängen suchte und die dadurch ungewollt an Macht gewannen.

    Patrick Roth lässt in Joseph von Nazareth die tragischen Verflechtungen des Menschen in Schuld und Sühne kulminieren und spannt das Wesen des Menschseins zwischen denkendem Bewusstsein und dunklen, unbewussten Strömungen, zwischen Gut und Böse wie zwischen kommunizierenden Röhren auf.

    Er folgt damit der tiefenpsychologischen Auffassung C. G. Jungs, alle Impulse des Menschen zu integrieren und in den Dienst seiner Selbstwerdung zu stellen.

    Freimütig bekennt der Autor, die Tiefenpsychologie spiele für ihn die wichtigste Rolle, was das Verstehen seines Materials angeht - und das sind seine eigenen Bilder und Emotionen. So erst sei eine Reflexion möglich, ein Dialog mit den Bildern der Träume und Visionen, die sich unbewusst einstellen. Und erst dieser Dialog zwischen Eingebung und Reflexion setze den kreativen Prozess in Gang. Den Inhalt der vielschichtigen, von Traumsentenzen durchzogenen Handlungsstränge des Buches in Kürze zusammenzufassen ist fast unmöglich. In sechs Teilen, jeweils drei Büchern des Abstiegs: Der Träger, Die Pilger und Das Opfer, sowie drei Büchern des Aufstiegs: Der Tote, Die Räuber und Das Grab entfaltet sich das Leben Josephs bis zur Errichtung der Grabstätte des Joseph von Arimathäa.

    Im Zentrum der weitverzweigten Erzählstruktur steht die Erzählerin, die Ägypterin Neith, die den subjektiven Erlebnisbericht des Joseph lediglich weitergibt und im Laufe des Romans als Halbschwester Jesu erkennbar wird. Die Konstruktion verzichtet bewusst auf einen unabhängigen Beobachter und geht in ihrem Kern von einem Dialog aus, der erst im letzten Viertel des Romans offenbart wird: Als Gesprächspartnerin des Joseph hatte Neith erst durch ihr Zuhören die autobiografische Schilderung zum Fließen gebracht.

    Erst Jahrzehnte später wird die Nacherzählung Neiths - von den beiden jungen Judenchristen Monoismos und Balthazar aufgeschrieben. Diese haben sich im Jahr 70 nach Christus in das belagerte Jerusalem eingeschlichen, um das Grab Jesu zu sichern. Bei der Erfüllung dieses Auftrages treffen sie auf die geheimnisvolle alte Ägypterin, die ihnen den Weg zum Grab weisen kann. Was diese Erzählkonstruktion nahe legt, sagt die Nacherzählerin auch ausdrücklich: Neben der Wahrheit des Erlebens gibt es keine andere, das Wahre ist stets nur das Erfahrene und Erlebte und darum kann die Suche nach den Denkmälern Jesu keinen Glauben begründen. Spuren der Wahrheit finden sich im miterlebenden Erzählen, der Erfahrung des Hörens. Soweit die Rahmenhandlung.

    Joseph hat bei Patrick Roth einen Sohn aus erster Ehe durch einen Unfall verloren. Er fühlt sich schuldig und umso mehr verantwortlich für seinen späteren Ziehsohn, auf den er den Namen des ersten überträgt. Den Erzeuger seines zweiten Jesus, einen geheimnisvollen ägyptischen Sklaven, hatte er selbst in einem Akt spontaner Hilfeleistung aus dem paradiesischen Garten eines römischen Gutsherrn gerettet; ein eifersüchtiger Aufseher hatte den Ägypter angegriffen und gedroht ihn zu ermorden. Wegen seiner Einmischung war Joseph verfolgt worden und hatte selbst den verletzten Sklaven in Marias Obhut gegeben. Wie schon dem versehrten Sklaven, so gewährt er auch der schwangeren Maria und ihrem Kind seinen Schutz und stellt alle selbstbezogenen Bedenken zurück.

    Diese Großherzigkeit, die Joseph zu eigen ist, markiert den eigentlichen Ausgangspunkt für die Arbeit am Roman; dessen Grundidee geht - so Patrick Roth - auf die in der Wochenzeitung Die Zeit erstmals veröffentlichte Weihnachtsgeschichte Lichternacht zurück - eine höchst ungewöhnliche Liebeserzählung über die Untreue einer geliebten Frau, Herzinfarkt und die Todesnähe des liebenden Mannes, sowie seine Kraft zur Vergebung.

    Aus der Feuersbrunst des römischen Landguts rettet Joseph später einen weiblichen Säugling - eben jene Neith, der er Jahrzehnte später wieder begegnet.

    Einige Jahre später bricht die Familie mit dem zwölfjährigen Jesus zum Pessach nach Jerusalem auf. Unterwegs entspinnt sich ein Dialog zwischen Vater und Sohn über ein verlorenes heiliges Buch. Wie im Lukasevangelium verschwindet der Sohn, die Eltern sind in heller Aufregung; nach drei Tagen findet Joseph ihn im Tempel wieder.

    Eingerahmt wird das Verlorengehen des zwölfjährigen Jesus im Tempel von der Legende über das "Verlorene Buch" aus dem zweiten Buch der Könige, die Jesus vom Vater hören will. Zuletzt steht – so der sprachkritische und zugleich mystische Kern der Episode - allein der lebendige Mensch im Mittelpunkt, er selbst ist das Medium der Sprache und der Schrift. Der Autor greift damit erneut das zentrale Thema von Riverside auf; dort ruft der Protagonist Diastasimos aus:

    ".. warum soll ich auf die Seite von Schreibern gehen, die ihre Predigt nicht in Fleisch und Blut geschrieben finden, sondern in Tintenstrichen auf Papier? Gebt mir den Mensch zu lesen, wenn ihr Menschen lesen wollt."

    Während der Suche nach dem Sohn gerät Joseph in die Kulissen und versehentlich kurz auch auf die Bühne eines Theaters, in dem Ödipus auf Kolonos, die Fortsetzung des König Ödipus, von Sophokles gegeben wird. Patrick Roth macht mithilfe dieses Sprungs aus der Geschichte in die bekannte Tragödie der griechischen Antike einen Ausblick auf das nun folgende Drama möglich: Der Leser wird auf einen tragischen Vater-Sohn-Konflikt vorbereitet, in dem sich das Ringen des Menschen mit der Übermacht und Unabwendbarkeit seines Schicksals in einer größeren Dimension abbildet. Dieser geschickte Blick hinter den Vorhang der Schreibstube des Autors lässt ahnen, dass der Roman im Sinne der antiken Tragödien auf Katharsis, also auf eine seelische Reinigung, hin angelegt ist.

    Der wiedergefundene Jesus erzählt dem Vater von einer Kreuzigung, deren Zeuge er in Jerusalem geworden war; es handelte sich um seinen unbekannten leiblichen Vater; sein tiefes Mitleiden am Schmerz des Fremden ließ ihn Trost und Schutz bei seinem göttlichen "Vater" im Tempel suchen. Die Familie kehrt nun nach Nazareth zurück. Unmittelbar darauf hört Joseph im Traum den Befehl Gottes, seinen Sohn als Schlachtopfer darzubringen. Es folgt ein quälendes Ringen Josephs mit sich selbst und mit seinem Gott. Im Unvermögen eine klare Position zu diesem Befehl zu beziehen, bereitet Joseph die Tat vor, allerdings in der Hoffnung auf ein weiteres Zeichen Gottes, das jedoch ausbleibt.

    Obwohl das Kapitel 37 dieses archaisch anmutenden Ereignisses mit "Der Traum" überschrieben ist, wirkt es real, ist seine Wucht irritierend; selbst die hoch reflektierte Debatte in Marbach verirrte sich zeitweise in jenem semantischen Trugschluss, dem Joseph erliegt: als werde der gehörten göttlichen Stimme im Roman eine von der Antwort Josephs, von seinem Erleben unabhängige Existenz zugemessen, als gebe der Autor Gott im Roman tatsächlich die Rolle einer grausam handelnden Entität.

    Es ist jedoch die Reaktion des Joseph, die Gottes Stimme zum Befehl macht; er kann das dialogische, auf Kontakt und Mitempfinden beruhende Gottes- und zugleich Menschenverhältnis, das seinen Sohn Jesus auszeichnet, nicht erfassen und ist deshalb in der Haltung eines Befehlsempfängers gefangen.

    Auch die folgenden Kapitel erschüttern: Joseph trennt sich unter dem Bann des göttlichen Befehls von seiner Familie; die Weisung, den Sohn zu opfern, kann er nicht erfüllen und zu seinem Leben ins Verhältnis setzen -, er beschließt, sich selbst zum Opfer zu bringen. Im Zustand höchster innerer Abgeschiedenheit täuscht er seinen gewaltsamen Tod vor und beobachtet wie gelähmt und stumm aus seinem Versteck heraus den bitteren Schmerz und die Trauer seiner Angehörigen.

    Allein die Distanz, die durch das historische Setting geschaffen wird, machen dem Leser diese Passagen erträglich. Und doch ist ihr Inhalt zeitlich viel weniger entrückt, als es zunächst den Anschein hat: Religiös motivierte Ehrenmorde oder Terroranschläge gehören nicht der Vergangenheit an, sondern prägen vielmehr die Gegenwart ganz erheblich.

    Abgespalten von allem, was ihm lieb und teuer ist,, wird Joseph von Räubern verschleppt, gefesselt und gequält. Im intriganten und boshaften Sohn des Anführers, der ebenfalls Jesus heißt, tritt ihm das Negativbild seines eigenen Sohnes und die Macht des Dämonischen entgegen.

    Immer wieder aber vernimmt Joseph auch Zeichen, die auf Befreiung und neue Autonomie hindeuten: So dringt nach den wahnhaften oder fingierten Rufen des grausamen Gottes in Kapitel 80 eine weibliche göttliche Stimme zu ihm durch. Sie versichert ihm, einzigartig und nicht austauschbar zu sein, spricht also dem Geschundenen seine menschliche Würde zu.

    Gemeinsam mit anderen Tagelöhnern - seinen Peinigern - errichtet Joseph eine Grabstätte; Neith ist die Magd des Auftragsgebers, des Joseph von Arimathäa, der aber von seiner schweren Krankheit wieder genesen wird und dessen Felsengrab deshalb den Leichnam Jesu aufnehmen kann. Hier, am Ende seines Weges verfällt Joseph von Nazareth einer Ohnmacht, als er die Schilderung einer brutalen Kreuzigung mit anhören muss. Jetzt aber, zum Zeitpunkt seiner Ohnmacht, haben sich sein Weg und jener der von ihm einst geretteten Neith noch unbemerkt wieder gekreuzt.

    Zwei zeitgleiche Träume bringen die Beiden in einen inneren Kontakt miteinander; diese Verbindung und der tatkräftige Zuspruch der Neith erlösen Joseph aus seinem todesähnlichen Zustand: Gemeinsam weben Joseph und Neith an einem Tuch, das ursprünglich als Leichentuch Verwendung finden soll. Die tiefgründige Symbolik des Tuches wird hier voll ausgeschöpft: Es ist der Inbegriff aller menschlichen Kulturleistung, vor allem als Bild der Sprache und des Erzählens. So Neith:

    "Mir war, als webte ich’s ein, als verwebte ich Leinen und Sprache [...] Als spreche am Faden haftend das Wort. Als schieße Faden heraus an ihm selbst, seinem Wort."

    Denn während das Weberschiffchen zwischen Neith und Joseph hin und her schießt, erzählt Joseph ihr sein Leben. Im Gespräch erkennen sie sich gegenseitig, einer als Retter des Anderen. Es ist diese befreiende, weil verbindende Erzählung - respektive das Tuch - die das bloß materielle und zerfallende Sein, für das der Leichnam steht, einhüllt und transformiert.

    Der Roman gipfelt in der Erfahrung der heilsamen Kraft der Sprache. Joseph wird zur Hebamme und steht Neith unter Geburt ihrer Zwillinge bei, indem er singend ihren Geburtsschmerz lindert:

    "Von da an aber blieb Joseph bei mir. Und gegen die Schmerzen sang er mir, sang seine Stimme den Psalm der Geburt."
    Und nie mehr gehört hab ich seither das Lied.
    Aber die Schmerzen, die mich überwältigen wollten, tilgten nicht die Worte des Lieds und nicht die Erinnerung an sie, bis heute.
    Und wie im Traum war Joseph eingegeben der Psalm, den er aussprach, und sang mir ins Ohr.
    Und es hüllte den Schmerz jedes seiner Worte, die gesungen kamen im Psalm der Geburt.
    Denn heilig und rein nannte die Stimme des Lieds die Stätte, darin ich lag.
    Und heilig und rein nannte den Leib, der gebiert.
    Und heilig und rein das Herz der Gebärenden.
    Heilig und rein, also heiligend, reinigend: den, der berührt, was sie sonst abtun als Schmutz und Beschmutzung und geboten sind, nicht zu berühren."


    Joseph wickelt nun die Säuglinge, ein Mädchen und einen Jungen, in das Leichentuch, er macht es zum Lebenstuch, welches das naturhaft Menschliche schützt, es heiligt. Der neue Adam und die neue Eva sind die Neugeborenen, die unabhängig sogenannter Blutsbande in die Wiege des menschlichen Mitfühlens und Mitteilens gelegt werden. Die genauen Worte des Psalms der Geburt werden nicht wörtlich zitiert; sie bleiben ein Geheimnis. Der Wert der Worte - das zeichnet das Werk Patrick Roths programmatisch aus - ist durch ihre lindernde, lebensdienliche, ja auf ein umfassenderes Heil bezogene Funktion bestimmt. Nicht nur hier überschreitet der Autor eine selbstbezügliche Ästhetik hin zu einer ethisch gebundenen Kunstauffassung.

    Die Radikalität der ästhetischen Position Patrick Roths zeigt sich ebenso deutlich wie in seinem literarischen Werk in seinen Vorlesungen im Rahmen der Poetik Dozenturen an den Universitäten Frankfurt am Main und zweimal in Heidelberg. So behauptete er bereits in Frankfurt:

    "Das Buch ist keine Endstation. Das Buch ist eine Geste der Erfahrung, ist richtungweisende Erfahrung - und richtungweisend vor allem in seinem Erfahrenwordensein [...] Denn im Letzten muss dieses Buch, müssen die Bücher: zurückgelassen werden. ‚Zerreißt eure Bücher, damit eure Herzen nicht brechen‘, sagt der Alchemist [...] Nur die eigene Erfahrung zählt am Ende, nur sie ist das Ziel."

    So unbedingt ein Werk in der Auffassung Patrick Roths authentischen Bildern, Erlebnissen, Träumen entspringen soll, so zielsicher sollte es wiederum Eingang finden in das ureigenste Erleben seiner Rezipienten. Dies ist der eigentliche Zweck der Kunst, über den Roth mit erfrischender Selbstverständlichkeit spricht.

    "Was mich betrifft, geht wirkliche Literatur immer über das Ästhetische hinaus. Geht damit in einen Bereich des Transzendenten, den man auch mit dem Wort ‚religiös‘ umschreiben kann [...] Ich lehne das Ästhetische ja nicht ab - ich muss als Schriftsteller mit allem arbeiten, was mir an ‚techne‘, an künstlerischen Ausdrucksmitteln, zur Verfügung steht. Aber die ästhetische Dimension des Textes oder Films muss - meiner Meinung nach - zunächst einmal ‚dienen‘, das heißt, sie muss die aufmerksamste Entsprechung zum Inhalt anstreben. Und dann, letztlich, muss diese ästhetische Dimension durchbrochen werden. Auf ein Anderes, uns Übersteigendes hin. Und dieses Andere, dieses Erlebnis des Anderen, ist dann auch verpflichtend – es ist ethisch verpflichtend. […] Ich empfinde da etwas Bindendes, wenn sie groß sind, etwas Bindendes, dem ich treu sein sollte, etwas – ja eben: ‚Religiöses‘ - Verpflichtendes. Das heißt: Ich bin danach, nach solcher Lektüre, verändert. [...] Etwas vom Buch oder Film bleibt in mir, bleibt uns - eine Erfahrung, die wir an ihnen gemacht haben; und die ihre Wurzeln letztlich in uns hat. Nur waren sie – also diese Wurzeln, diese Tiefenbereiche in uns - verschütt gegangen, die waren vergraben, tot. Das Buch oder der Film, das Kunstwerk, hat sie jetzt wieder lebendig gemacht."

    Entscheidend sei die Emotion, die ein Bild im Betrachter auslöst, so sagte es der Autor vor wenigen Monaten im Interview, in dem er auch seine frühe Faszination durch den Surrealismus ansprach. Auf subjektive Trauminhalte und Visionen konzentrierten sich erstmals Dadaisten und Surrealisten; auch sie wollten so aus unmittelbarer, unverfälschter Erfahrung schöpfen und eine solches Erleben beim Zuschauer und Leser auslösen. Sie beriefen sich auf Sigmund Freud und lehnten eine Vernunftkontrolle ab, um scheinbar Unzusammenhängendes neu verbinden und den magisch-poetischen Wirklichkeiten des Unbewussten folgen zu können.

    Vor exakt hundert Jahren öffnete im Frühjahr 1913 die berühmte Armory-Show in New York ihre Pforten; sie trug die Moderne in die USA und mit ihr die Anfänge des Dadaismus und erste Gedankensplitter des Surrealismus. Die neuen Bewegungen stießen dort auf ein höchst geteiltes Echo. Sind auch die entscheidenden Quellen bei Patrick Roth und den Dadaisten beziehungsweise Surrealisten dieselben - eben das Unbewusste, die Träume -, so blieb doch deren Intention auf Demontage und Zerstörung, auf "Entheimatung" ausgerichtet.

    Nach einem Jahrhundert der vielfältigsten Spielarten der Moderne richtet Patrick Roth seine Kunstauffassung auf eine neue Synthese, auf Lösung und Sinnfindung hin aus; die Paradigmen autonomer Ästhetik verknüpft er wieder mit ihren historischen Wurzeln und bringt aus seiner amerikanischen Abgeschiedenheit eine große und künstlerisch radikale Literatur nach Europa zurück. Mit meta-realistischen Mitteln geht sie auf neue Beheimatung des Unbewussten im Bewusstsein aus. Die einstige Unbequemlichkeit des Dadaismus in New York spiegelt sich heute in der Irritation des deutschen Literaturbetriebes, der noch mit Verlegenheit auf die kategorialen ästhetischen Grenzüberschreitungen Roths reagiert:

    "Ich will eigentlich keine Trennwand mehr zwischen ‚Religion‘ und ‚Literatur‘. Die Literatur, überhaupt: Das ‚Medium‘ der Kunst hat meiner Meinung nach eine verbindende Funktion. Die Funktion der Literatur - wie auch der Religion - ist - so sehe ich es - die coniunctio oppositorum, das heißt die Vereinigung oder Zusammenkunft der Gegensätze. Das heißt, die Literatur - die Kunst überhaupt - ist das einzige Medium - Medium im ursprünglichen Wortsinn - zwischen Tag und Nacht, zwischen unserem Bewusstsein einerseits und dem Unbewussten andererseits. In der Literatur arbeitet sich individuelles Bewusstsein - also das Bewusstsein des Schriftstellers, sagen wir, oder des Filmemachers - an der Macht des Unbewussten ab, an Visionen und Traumimpulsen etwa, die wir eben nicht ‚gemacht‘ haben. So auch in der Religion."

    Diese ästhetische Radikalposition Patrick Roths beschreibt einen neuen dialektisch und tiefenpsychologisch geläuterten Humanismus. Frei von Standards machen seine Werke erlebbar, wie bildmächtig und skandalträchtig das Ringen des Menschen um seine Würde ist, wie konkret und paradox sein Scheitern und sein Gelingen. In einer Zeit fortschreitender Virtualität und Funktionalisierung macht Patrick Roth den ganzen Menschen und seine unbedingte Wertschätzung auf provokative Weise lesbar.