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"Die allerletzte Person. Ich. Schnell weg!"

Bekannt sind vor allem die Theaterstücke des Schriftstellers Samuel Beckett, in denen sich seine Figuren auf ungewöhnliche Weise die Zeit vertreiben. In seinen späten Prosaarbeiten konzentriert sich der irische Autor ganz auf seine Sprache.

Von Ria Endres | 20.05.2013
    Im Sommer 1968 erhielt der deutsche Verleger Samuel Becketts einen Brief. Darin beschwert sich der Autor Thomas Bernhard vehement, dass sein Buch "Verstörung" trotz bester Kritiken gerade einmal lächerliche 1300 Mal verkauft worden sei, und lastet den scheinbaren Misserfolg dem Verlag an. Siegfried Unseld widerspricht ihm und schreibt unter anderem, dass die Nummer eins des Verlages, Samuel Beckett, mit keinem seiner bei Suhrkamp erschienen Prosabücher mehr als 1300 Mal verkauft worden sei. Beckett wusste natürlich, dass er nie Bestsellerautor werden würde, und es ging ihm um etwas anderes als die Bestsellerei.

    Mit seinen Theaterstücken hatte der irische Autor wesentlich mehr Erfolg. "Warten auf Godot" machte ihn zu einem wohlhabenden Mann. Seitdem verschenkte er Geld, verzichtete auf Honorare und verteilte das gesamte Preisgeld des Nobelpreises an Schriftsteller und Schriftstellerinnen, zum Beispiel an die verarmte Djuna Barnes, an Maler und Schauspieler; auch das Trinity College in Dublin, wo er studiert hatte, bekam einen Teil des Preisgeldes.

    Beckett war Bewunderung unangenehm und lästig. "Die allerletzte Person. Ich. Schnell weg!" heißt es in seinem Buch "Gesellschaft". Wurde er ohne Einverständnis fotografiert, konnte er richtig böse werden. Auf den Fotos, die er freigab, sehen wir in ein Gesicht mit ähnlich intensiver Ausstrahlung wie bei den Nachkriegsporträts von Pasolini, Giacometti oder Beuys.

    In seinen späten Prosaarbeiten konzentriert sich der Dichter ganz auf seine Sprache, in deren Innenraum er schon in seiner frühen Prosa angekommen war und die ihm jetzt Gesellschaft leisten konnte, wenn er die Prinzipien seiner Dichtung weiter radikalisieren wollte. Er hatte ja niemals vergessen, wie lang die Strapazen beim Verfertigen seiner Texte gedauert hatten und wie aussichtslos seine Lage nach dem Krieg gewesen war. Und so geht es bei jedem Text um einen Neuanfang und das unbekannte Ende, das der Leser jedes Mal nachvollziehen muss.

    Dies geschieht auch im Spätwerk des Autors, das 1980 mit dem Text "Company Gesellschaft Compagnie - Eine Fabel" eingeleitet wird. Ein Jahr später folgt die dreisprachige Ausgabe in Deutschland; bis dahin hatte es im englischen und französischen Sprachraum keine einzige Rezension des Buches gegeben, wie Beckett anmerkte.

    In einem strengen Denk- und Konstruktionsprinzip wird folgendes Thema bearbeitet: "Eine Stimme kommt zu einem im Dunkeln. Erträumen." Bereits dieser erste Satz erfährt im Nachsatz seine entscheidende Relativierung; noch weiß der Leser nicht: Die Uhr ist der Feind des Traums. "Erträumen" geschieht weder schlafend noch wachend. Es bleibt nichts anderes übrig, als die Stimme wörtlich zu nehmen und die Verwirrung auszuhalten, dass sie keinem greifbaren Körper zugeordnet ist. Unklar ist, welche Stimme zu wem spricht und von welchem Ort aus gesprochen wird:

    "Du liegst im Dunkeln mit geschlossenen Augen und siehst die Szene. Wie du es damals nicht konntest. Die dunkle Himmelskuppel. Die blendende Erde. Du in der Mitte stillstehend. Die Schnürstiefel bis zu den Rändern eingesunken. Die Mantelschöße, ruhend auf dem Schnee. In der alten Melone, der gesenkte alte Kopf, sprachlos vor Angst. Inmitten der Weiden. Inmitten der Weiden auf der Hälfte deiner Strecke zur Heckenlücke. Regungslos die unbeirrten Füße. Du blickst zurück, wie du es einst nicht konntest, und du siehst deine Spuren."

    Die Stimme erschafft sich selbst, um nicht allein zu sein, um Gesellschaft zu haben. Sie spricht Bruchstücke einer Biografie. Unterbrochen wird sie durch Reflexionen über die Posituren, in der sich die Kreatur zur Zeit des Sprechens befindet. Müßig ist die Überlegung, ob ein Bewusstsein mit sich selbst einen Dialog führt oder ob es sich um die reale Trennung von zwei Stimmen handelt. Im Text werden sie versuchsweise mit er und du bezeichnet, später variiert die Benennung.

    Dieser Text ist ein Wahrnehmungsmosaik ohne Mitte. Zwei ist die kleinste Gesellschaft; falls man allein ist und Gesellschaft will, muss man sich aufteilen. Der Versuch der Selbstspaltung misslingt jedoch: Die Stimme bleibt allein - aber eben allein mit der Sprache.

    Die biografischen Teile gehören zum Schöpfungsakt des Erträumens, durch ihn werden Sprache und Welt erschaffen. Nur im Erträumen gibt es Landschaft und Kosmos, tauchen Liebe und Schmerz auf und Farben. Durch diese Vorgehensweise entsteht aber keine Interpretation der Vergangenheit. Das freudsche Modell vom individuellen Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten wird zuerst genüsslich von Beckett parodiert und dann ad absurdum geführt. Hinter dem Satz "Erfinder seiner selbst, um sich Gesellschaft zu leisten", ist eine beinahe menschenfreundliche Ironie hörbar, als steckte in diesem Vorgehen sogar ein Stück wahrer Autobiografie. Die Erfindungen sind allerdings erträumt.

    Als folgenschweres Ereignis ist die Geburt zu begreifen. Sie lässt dem "Kreator", wie er sich ironisch nennt, keine Ruhe, dunkel ahnt er die Deformation. Der Vater, der sich vor den wenig erquicklichen Aspekten der Wehen und des Gebärens davongemacht hat, erhält vom Dienstmädchen die Nachricht: Es sei endlich vorbei. Die Geburt wird als Ende des Lebens aufgefasst, als Beginn der Katastrophe.

    Es gibt für die Biografie keine Steigerung des Katastrophalen. Alles spielt sich ab, wenn es vorbei ist. Der Blick ist nicht auf Zukünftiges gerichtet; die Zeit fließt vorwärts, und nur mit der zurückfließenden Zeit gelänge die Rückkehr zur Geburt als einer neuen möglichen Zukunft. Sie gelingt nicht. Die Erinnerung jedoch wird erträumt als Fabel von einem pränatalen Gedächtnis, das die Zeit vor dem Vorbei entdeckt. "Besser vergebliche Hoffnung, als gar keine", sagt Beckett.

    Vom Tod wird im Text nicht gesprochen. Das Ende ist immer noch nicht in Sicht. Eine gespenstische Unsterblichkeit tut sich auf. Unsterblichkeit freilich ist eine unzeitgemäße Utopie geworden, als Sehnsucht nach dem Leben vor der Geburt: Eins zu sein und nicht von Geburt an ein zerrissenes Zwei.

    Auf der lebenslangen Reise hat sich die zum Greis gewordene Kreatur, da es keine Steigerung der Katastrophe mehr gibt, in einem stoischen Bild mit dem Rücken zum Meer gestellt. Von der Zukunft abgewendet betrachtet der Mann den Schatten, den sein Stock wirft. Das "Meer der Möglichkeiten" gibt es für ihn nicht. Zeitlosigkeit und Zeitlichkeit fällen hier im Paradox zusammen. Dann muss er wieder weiter rund um den Erdball wandern. Manchmal begleitet ihn der Schatten seines Vaters:

    "Als Greis stapfst du mit kurzen, schwerfälligen Schritten einen schmalen Landweg entlang. Seit dem Morgengrauen bist du draußen, und nun ist es Abend. Einziges Geräusch in der Stille, deine Schritte. Vielmehr einzige Geräusche, denn sie variieren von einem zum andern. Du vernimmst einen jeden und fügst ihn in deinem Kopf zu der immer größer werdenden Summe der vorhergehenden. Du bleibst mit gesenktem Kopf am Rande des Grabens stehen und rechnest alles um in Meter. Nun auf der Basis von zwei Schritten pro Meter Soundso viel sind seit Tagesanbruch denjenigen des Vortages hinzuzufügen. Des Vorjahres. Der Vorjahre. Zeiten, die ganz anders waren als jetzt und doch so ähnlich."

    Nach dem Prosaband "Gesellschaft, eine Fabel" erscheinen 1983 die Bücher "Malvu mal dit / Schlecht gesehen schlecht gesagt" und "Worstward Ho / Aufs Schlimmste zu", in denen sich Beckett noch weiter in die Welt der Imagination hineinbewegt.

    In dem Prosaband "Schlecht gesehen schlecht gesagt" gleicht das schreibende Ich einem Auge, das sich öffnet und schließt und den übrig geblieben Raum mit seinen Landschafts- und Erinnerungsresten abmisst. Eine Person bewegt sich im Zeitlupentempo von einem Fenster zum anderen und beobachtet, was geschieht. Das Auge sieht schlecht, aber es sieht mehr als genug für die Hand, die das Gesehene unter erschwerten Bedingungen festhalten will oder muss.

    Es gibt nur wenig Reste auf der Insel des Seins. Steine, Lämmer, Gras, Schieferplatten, die Trümmer der Hütte, Holzböden, das Bettlager, die Truhe, ein Vorhang, eine Decke, ein Stuhl in der Nähe des Fensters, ein Schuhknöpfer, ein Nagel, Blumen, Raureif, Sonnenuntergangslicht, die Venus, die Uhr mit einem Zeiger, die Wand, der Nebel, der Horizont. Was ist Wahn, was Wirklichkeit?

    Manchmal liest sich der Text wie der verzweifelte Bericht eines Dementen, der den Konturen der Räumlichkeiten misstraut, nicht nur, weil er schlecht sieht, sondern weil sein Hirn, das Beckett einmal als "Pseudohirn" bezeichnet, dies alles nicht mehr erfassen kann. Sein "Kopf ist nicht mehr bei der Sache."

    "Am Ende solchen Scheiterns, so langen Scheiterns mischt der Wahn sich ein. So viele Trümmer. Gesehen irgendwie und irgendwie gesagt. Angst vor Schwarz. Vor Weiß. Vor Leere. Sie verschwinde! Und das übrige.

    Endgültig. Und die Sonne. Letzte Strahlen. Und der Mond. Und Venus. Nur noch schwarzer Himmel. Weiße Erde. Oder umgekehrt. Kein Himmel und keine Erde mehr. Vorbei mit oben und unten. Nichts als Schwarz und Weiß. Gleich wo, überall. Nur noch Schwarz. Leere. Nichts anderes. Das betrachten. Kein Wort mehr. Angelangt endlich. Ruhig, ruhig…

    Gab es je eine Zeit, in der Fragen nicht mehr in Frage kamen? Diese bis zur letzten totgeborenen. Früher. Wo es nicht mehr in Frage kam, zu antworten. Es nicht zu können. Nein. Niemals. Ein Traum. Das ist die Antwort."


    Die Prosa "Aufs Schlimmste zu" kennt ebenfalls einen Beobachter, den Beckett Skribent nennt. Wieder gibt es einen unbegrenzten Raum, in dem sich alles befindet, was beobachtet wird. Der Raum ist noch leerer als in den beiden vorherigen Büchern. Aber der Skribent imaginiert einen Körper, wo kein Körper ist, einen Ort, wo kein Ort ist, einen Geist, wo keiner ist. Er hält an seinem Programm des Scheiterns fest und ist mehr denn je Schöpfer seines wahnhaften Schattenreichs. Er weiß, dass es ihm immer wieder entgleitet. Aber noch kann einiges darin gesehen werden, obwohl das Licht in diesem merkwürdigen Raum dunkel und trübe ist. Unklar bleibt, aus welcher Quelle es gespeist wird, aber in ihm bewegen sich Schatten.

    Da ist der Schatten des Schreibenden, der sitzt und seinen Kopf in die verkrüppelten Hände legt oder unter Schmerzen aufgestanden ist und dasteht, wo kein Boden mehr ist, wo aber gesagt wird, dass ein Boden sei. In seinem Schädel: die verkrampften Augen. Sie starren auf einen Schauplatz, der fast leer ist. Mit seinen erstarrten Augen sieht der Schädel vor allem sich selbst. In diesem Schädel ist alles aufgehoben, was vergangen ist, was schließlich von ihm selbst ausgelöscht wurde.

    Fast scheint es, dass nur die trüben schwarzen Löcher, die Augenhöhlen geblieben sind, die auch auf ein einziges Loch reduziert werden könnten, aus dem die Hölle kommt. Oder hinter dem sich die Hölle verbirgt. Es könnte der Schädel aus seinem Roman "Der Namenlose" sein. Immer noch nicht zum Schweigen gebracht, fallen ihm Worte ein, nachdem die Insel dieses Kopfes beinahe entleert ist.

    Ein Erinnerungsrest aber findet sich doch noch: Der Schatten eines alten Mannes, der an der Hand ein Kind hält. Auf dieses Bild fixiert sich der Kopf und an die unmerkliche Veränderung dieses Bildes. Irgendwann nämlich gibt es einen Spalt zwischen den sich festhaltenden Händen. Außerdem ist der Mantel des alten Mannes in unterschiedlicher Länge zu sehen, einmal abgeschnitten in der Schenkelmitte, dann wieder reicht er zu den Füßen hinab; diese sind einmal nackt, ein anderes Mal stecken sie in Stiefeln.

    Wie alles andere können auch diese Bilder Täuschungen sein. Beckett lässt sich auf diese Möglichkeit ein, und wir sehen nur, was er uns gestattet zu sehen:

    "Die Trübe. Die Leere. Alles immer schwach auf Jagd. Schlimmer als gar nichts. Noch schlimmer als gar nichts. Nicht minder als wenn nur schlimm alles immer schwach auf Jagd. Nagend. Nagend um zu vergehen. Nur eins gut. Vergangen. Für immer vergangen. Bis dahin weiter nagen. Alles weitere nagen. Um zu vergehen. Alles außer Leere. Nein. Auch Leere. Unverschlimmerbare Leere. Nie minder. Nie mehr. Nie seit zuerst gesagt nie ungesagt nie schlimmer gesagt nie nicht nagend um zu vergehen."

    In der Leere jagen sich die Wörter. Zugleich wird die Bemühung deutlich, Wörter und Sätze zu tilgen, und zwar wiederum mit Worten. Ungesagt machen, bis der Schmerz vergeht, denn die Leere wird nicht vergehen, und es bleibt die Verpflichtung des Schriftstellers, alles zu sagen, sei es auch noch so schlimm. Immer wieder gibt es das Erstaunen darüber, dass weitergesprochen wird, und die Frage, welche Worte es sind, die da gesprochen werden, woher sie kommen und warum sie beinahe wahr klingen, obwohl sie kaum mehr Sinn haben können:

    "Noch nicht genug zu wissen. Nicht zu wissen was sie sagen. Nicht zu wissen was es ist was die Worte die es sagt sagen. Sagt? Absondert. Besser schlimmer absondert sagen. Was es ist was die Worte die es absondert sagen. Was die sogesagte Leere. Die sogesagte Trübe. Die sogesagten Schatten. Der sogesagte Sitz und Keim von allem. Genug zu wissen nicht zu wissen. Nicht zu wissen was es ist was die Worte die es absondert sagen. Nicht zu sagen. Nicht zu sagen was alles ist was sie
    irgendwie sagen."


    In dem Prosabuch "Worstward Ho / Aufs Schlimmste zu" gibt es nur noch Schatten, abgespaltene Partikel der Selbstbeobachtung. Diese Schatten bewegen sich in einer eigenartigen Transzendenz. Fast alles Leben ist verschwunden, aber die Schatten sterben nicht. Oder steckt dahinter der Versuch, den Tod als das Unausdenkbare zu überspringen? Doch ganz im Zuge von Becketts alter Behauptung, die Hoffnung, dass nichts mehr sei, werde nicht erfüllt, spuken die Schatten und der angeschlagene Geist weiter in seinen Texten herum.

    Denn so lückenhaft das Gedächtnis auch sein mag, es gibt noch Spuren von Geist. Die Leere, die Bodenlosigkeit, die manisch hervorbrechenden Wörter, die Satzlücken, die Bilderreste verwirren sich im Geist, der sich in dem Schädel mit den starrenden Augenhöhlen aufhält.

    Schatten sind Spielmaterial, sie geben keinen Halt. Längst ist die Zeit vorbei, in der Figuren greifbar waren. Beckett selbst hat seine früheren Protagonisten, die immerhin eine Fabel garantierten, ironisch als "Sägemehlsäcke" bezeichnet. Aber noch ist der Skribent Teil des Schattengebildes. Zwar erkennt er sich nicht, aber irgendetwas lässt ihn an den Trugbildern festhalten und von der Unmöglichkeit sprechen, ganz zu verschwinden.

    Das ändert sich in Becketts letztem Text "Stirrings Still / Immer noch nicht mehr", der 1988, ein Jahr vor seinem Tod erschien. Er führt noch einmal in die Werkstatt des Dichters, in sein erstes und letztes Zimmer, dieses Gefängnis, beinahe leer. In diesem Text aus 2000 Wörtern, den der Autor selbst aus dem Englischen ins Französische übersetzte, befasst sich der Dichter mit seinem eigenen Sterben.

    "Eines Nachts als er den Kopf auf den Händen am Tisch saß sah er sich aufstehen und gehen. Eines Nachts oder Tags. Denn wenn sein eigenes Licht erlosch blieb er doch nicht im Dunkeln. Etwas wie Licht kam dann von dem einzigen Fenster oben. Darunter noch immer der Hocker auf den er bis er nicht mehr konnte oder wollte für gewöhnlich stieg um den Himmel zu sehen. Wenn er nicht den Kopf hinausstreckte um zu sehen was darunter lag so vielleicht deshalb weil das Fenster nicht zum Öffnen gemacht war oder weil er es nicht öffnen konnte oder wollte. Vielleicht wusste er nur zu gut was darunter lag und wollte es nicht mehr sehen. So stand er denn stets nur dort oben hoch über der Erde und sah durch die trübe Scheibe den ungetrübten Himmel. Sein schwaches unverändertes Licht anders als jedes andere Licht an das er sich erinnern konnte aus den Tagen und Nächten als der Tag unmittelbar auf die Nacht folgte und die Nacht auf den Tag. Dieses Licht von draußen war dann wenn sein eigenes erlosch sein einziges Licht bis auch dies an die Reihe kam und erlosch und ihn im Dunkeln ließ. Bis auch dies an die Reihe kam und erlosch."

    Ein Mann sitzt am Tisch. Meist hat er den Kopf in die Hände gelegt. Dann löst sich aus seinem Kopf ein Bild. Er sieht sich aufstehen und weggehen. Aber es ist nicht mehr das Weggehen eines jener Moribunden, die sich in seinem früheren Werk tummelten. Früher nämlich sind seine Figuren beschädigt und zäh durchs Leben gekrochen. Ihre Körper jedenfalls befanden sich in den unterschiedlichsten Stadien der Auflösung. Und sie suhlten sich manchmal in ihrer Sterblichkeit. Beckett selbst war noch weit vom eigenen Tod entfernt.

    In "Stirrings Still" ist die Grenze zum Tod geöffnet und das Licht des bewussten Lebens erloschen. Nur durch das Licht des Fensters wird die Figur bestrahlt. Sie wirkt wie eine Projektion. Ein Hocker steht unter dem Fenster. Früher ist die Figur noch hinaufgestiegen, um den "ungetrübten Himmel" zu sehen. Es war dies die Zeit, als der Wechsel von Tag und Nacht noch gegolten hat. Jetzt gibt es diese Einteilung nicht mehr.

    Auch der Unterschied zwischen Wachen und Schlafen ist aufgehoben; deshalb steht auch kein Bett in diesem Zimmer. Es gibt noch Reste der biografischen Erinnerung: den Tod eines gewissen Darly und anderen, die ihn verlassen haben. Den Kopf in Händen hat er gewartet, dass er an die Reihe käme, aber es kamen und gingen nur seine Trugbilder.

    So konturenlos die Figur ist, trägt sie doch die alten Erkennungsmerkmale des Hutes und des Mantels, die Insignien von früher. Sie sind jetzt mit der Figur verschmolzen. Der Autor sieht sie nur von hinten. Das letzte Zimmer hat keine Wände mehr, keinen Hocker, keinen Tisch. Alle Grenzen sind verwischt. Ist das der Zustand eines dementen Greises, der sich selbst bei seinem Endspiel beobachtet, aber weder im Raum, noch in der Zeit Halt findet?

    Die Uhr zumindest hilft nicht mehr, die Lebenszeit, einzuteilen, ihr eine Form zu geben. In der toten Gegenwart gibt es keine Zeit mehr. Zwar schlägt die Uhr die halbe und die volle Stunde, aber ihr Schlagen ist zur leeren Wiederholungsmanie geworden. Was bedeutet eine Uhr, wenn es keinen Tag und keine Nacht mehr gibt? Der Autor fragt sich, ob die Stille das Ende sei. Doch die Geräusche heben wieder an; diese alten Halluzinationen foltern und machen hilflos.

    Wladimir sagte einst in "Warten auf Godot": "Die Luft ist voll von unseren Schreien".

    Sie sind übrig geblieben und stärker als Worte. Der unbearbeitete rohe Laut beherrscht die Figur und die Frage ist bedeutungslos, ob die Laute und Schreie aus dem Kopf stammen oder aus dem äußeren Inferno.

    Die Figur stellt sich schließlich die Frage nach dem Zustand ihres Verstandes. Allerdings war der Verstand noch nie ein Ausweg in Becketts Werk. Es handelt sich vielleicht um die letzte der alten Fragen, die sich das abendländische Subjekt stellen kann, um sie aber gleich darauf wieder zu verwerfen.

    Alle Geschöpfe dieser Welt haben sich ja mit dem Erinnerungsschwund herumzuschlagen, mit den Resten ihres Verstandes, der in ihren Köpfen so viel Verwirrung anrichtet. Nicht zufällig denkt man hier an einen Alzheimerkranken, der im fortgeschrittenen Zustand des geistigen Verfalls sich selbst nicht mehr erreichen kann. Das alles hindert den Autor nicht daran, die oft quälenden Zustände in die Schönheit seiner Literatur zu transportieren.

    Erstaunlicherweise beschreibt Beckett seine letzte Gestalt sogar als mehr oder weniger "vernünftiges Wesen". Aber was nützt das schon. Dieses Wesen existiert in einer anderen Zeit als in der normalen Uhrzeit und in einem anderen Raum. Es bewegt sich geräuschlos auf einem Feld mit hohem bleichen Gras. Oder ist das nur die Halluzination eines jener schattenhaften Traumgebrechen?

    In der Erinnerung gibt es kein Feld mit hohem Gras, aber was ist noch eine Erinnerung wert? Was sind schemenhafte Bilder wert, wenn die Augen
    nicht mehr richtig sehen:

    "Dann suchte er Trost bei dem Gedanken dass seine Erinnerung an draußen vielleicht abwegig war fand aber es war keiner. Ganz Auge sah er so nur immer schlechter bis er am Ende zwar nicht aufhörte zu sehen doch [...] zu schauen und sich daran machte nachzudenken. Zu diesem Zweck da kein Stein da war auf den er sich setzen konnte wie Walther und die Beine übereinanderschlagen war es das beste was er tun konnte auf der Stelle stehenzubleiben und stocksteif dazustehen was er nach kurzem Zögern auch tat und natürlich den Kopf wie gedankenverloren sinken zu lassen was er nach abermaligem Zögern ebenfalls tat."

    Der Minnesänger Walther von der Vogelweide konnte zumindest auf einem festen Stein sitzen. Er dachte in der Haltung vollendeter Melancholie als ein mittelalterlicher Dichter über sich und die Welt, in der er leben musste, nach. An den Stein geschmiegt der eine, stocksteif der andere; wie wenig oder viel hat sich zwischen den beiden Dichtern geändert in den rund eintausend Jahren. Aber während Walther noch feste Materie unter den Füßen hatte und einen freien Blick beim Nachdenken, steht die Beckettfigur ohnmächtig und trotzig zugleich im hohen Gras und senkt den Kopf und denkt das Ende, das er immer noch nicht ganz zu Ende ist.

    Becketts letzte Prosatexte wirken wie Meditationen, die von lebenslangen Exerzitien herzurühren scheinen. Sie beschwören in der englischen Originalsprache, zu der er im Spätwerk wieder zurückgekehrt ist, deutlicher als in der Übertragung, den Klang der Wörter, unterstützt vom Sprachrhythmus. Jahrzehntelanges Üben ist notwendig, um das Halluzinatorische so gekonnt festzuhalten, und die Grenzen im unbewussten Raum seiner Dichtung so sicher zu verwischen.

    In "Stirrings Still", Samuel Becketts Sterbebuch, wird noch einmal die Paradoxie von Bewegung und Stillstand durchgespielt. Die unbegrenzbare Unendlichkeit selbst ist es, die eine letzte Vision vom Menschen mit dem abgewandten Gesicht umgibt. Sie entzieht sich jedem Zugriff.

    In Becketts letzter Prosa gibt es nicht einmal mehr die Reste einer geschichtlichen Welt. Diese selbst ist längst durchs Inferno gegangen. Sie brennt nicht mehr, sie erlischt. Und die Texte mit ihr. Aber sie ist noch nicht ganz verloschen. Doch die Wörter werden selbst Teil der dunkelsten Nacht. Beinahe körperlose Bildvisionen entstehen und zerfallen wieder.

    Trotzdem darf man nicht vergessen, dass die Welt seiner Dichtung auch eine soziale Welt gewesen ist. Viele Figuren waren von nebenan, uns ähnlich, und das ist schwer zu ertragen. Unruhig haben sie ihre Wege zurückgelegt, beschädigt und scheinbar mit Nebensächlichkeiten beschäftigt, einsam und gebildet.

    Sie saßen in Mülltonnen, waren Landstreicher, Irrenhäusler, scheiterten in Liebesdingen und im Beruf, verloren ihre Wohnungen, krochen als Nachkriegsreisende über den Erdball, versanken im mütterlichen Kosmos, wollten keine Väter werden, kamen kaum vorwärts, vergaßen nie Irland, zählten Schritte und Kieselsteine, warteten - nicht nur auf Godot -, verloren ihre Insignien, gereichten weder der Familie, noch der Gesellschaft zur Zierde, machten Schreibversuche, lauschten auf Stimmen und Musik, liebten Schweigen und Stille, hatten eine zähe Lebendigkeit in ihrer Paranoia und in ihrem Zeittakt, und versuchten sich zu orientieren, obwohl es immer schon aufs Schlimmste zuging.

    Denn schon in seiner frühen Prosa stellte Beckett sich die Frage, wohin er gehen könnte, wenn er gehen könnte. Auch in seinem letzten Text gibt er das Umherirren nicht auf, vielleicht um Spuren für uns Leser zu hinterlassen.

    1989 starb der Bilderschöpfer und Visionär in Paris. Auch in der deutschen Sprache, die er mit einem leichten französischen Akzent fast fehlerlos beherrschte, hatte er zusammen mit seinem Übersetzer Elmar Tophoven einen unverwechselbaren Sprachstil geschaffen. Am zweiten Weihnachtstag wurde der tote Dichter auf dem Friedhof Montparnasse begraben. Auf diesem Friedhof befinden sich auch die Gräber von Baudelaire, Sartre und Simone de Beauvoir. Bei Sartres Beerdigung war ganz Paris auf den Beinen. Bei Becketts Beerdigung waren nur ein paar Freunde und Verwandte zugegen. Der alte Reisende mit seiner Umhängetasche wollte es so. "Der Himmel über den Dächern, so blau, so still", heißt es fast tröstend in Samuel Becketts Sterbebuch, so, als wollte er auch unseren Blick nach oben lenken.

    Mehr zur Prosa von Samuel Beckett:
    Literaturpublizistin Ria Endres befasste sich unter dem Titel "Verstehe, wer kann" in ihrem ersten Essay mit der frühen Prosa des 1989 verstorbenen Schriftstellers.