Samstag, 20. April 2024

Archiv


Die amerikanischen Buddenbrooks

Auch wenn der Romantitel "Die windige Stadt" Chicago in den Vordergrund zu rücken scheint, steht nicht die Stadt, sondern es stehen ihre Bewohner im Mittelpunkt. Der Amerikaner Adam Langer zeichnet die Familiengeschichte eines rebellierenden Schwesternpaares nach, die sich am Ende aber doch zum Guten wendet. Fast zum zu Guten.

Von Hartmut Kasper | 22.02.2008
    Windy City, "Die windige Stadt", ist der Spitzname von Chicago. In Chicago wurde der Autor Adam Langer geboren, 1967. Nach seinem Erstling "Crossing California" widmet er mit diesem Buch einen weiteren Roman seiner Geburtsstadt. Werbung und Kritik sprechen deswegen bereits von einer Chicago-Saga. Fortsetzung folgt.

    Dabei spielt die Stadt selbst die geringste Rolle im Roman. Von den meisten der hier erzählten Geschichten ließe sich mit einigem Recht behaupten, sie könnten überall spielen, jedenfalls in diesem euro-amerikanischen Überall einer tief im europäischen Kulturkreis verwurzelten und, was die Musik angeht, afro-amerikanisch befruchteten Gemeinschaftszivilisation, die spätestens seit den 1950er Jahren in allen Leitmedien nicht nur der westlichen Welt propagiert wird.

    Das Kernensemble des Buches bildet ein Schwesternpaar, Michelle und Jill Wasserstrom. Deren Mutter ist früh verstorben, der Vater hat mit seiner neuen Frau ein neues Kind. Die Wasserstroms wohnen im Chicagoer Stadtteil West Rogers Park, dem "einzigen Viertel der ganzen Stadt wo es mehr Synagogen als Kirchen, mehr koschere Pizzerias als Fastfood-Restaurants, mehr kichel als Donuts gibt." Wasserstroms stammen wie der Großteil aller Protagonisten von jüdischen Einwanderern aus Europa ab.

    Langer erzählt deren Familiengeschichten, Lebensgeschichten, die zwar verwinkelt und verworren, zum guten Ende aber doch wieder wohltuend und heilsam sind. Denn wie sehr sie auch zeitweilig dagegen rebellieren: Alle Protagonisten der windigen Stadt bleiben Anteilseigner ihrer Familien, ihnen noch im Fluchtversuch existenziell ausgeliefert auf Gedeih und Verderb. Wenn Jill, Michelle und Jills Freund, der Schwarze Muley Scott Wills, nicht gerade in Liebessachen zu hadern haben, leiden sie an ihrer Familie. Über Jill, Michelle, ihre Freunde und Liebhaber, über diese junge Generation der etwa 20-jährigen sucht Langer Zugang zu den tieferen Strukturen, zur familiären Vergangenheit.

    Die Schwestern und Muley erforschen zunächst die Geschichte der abwesenden Elternteile. Jills und Michells Mutter Becky ist früh verstorben; Muleys Vater hat sich von ihm und seiner Mutter früh getrennt. Über die Elterngeneration arbeiten sich die Kinder vor bis zu ihren Großeltern, die, wie im Fall Muleys, bislang um ihren Enkel nicht wussten oder, wie im Fall Jill und Michelle, von ihren Enkeln nichts wissen wollten. So deckt die Geschichte Schicht um Schicht auf, wie ein archäologisches Verfahren. Genau dieses Verfahren spiegelt Jills Freund Muley Scott, der sich aus einfachsten Verhältnissen zum beachteten bildenden Künstler emanzipiert, in einem seiner Werke. Er inszeniert die Historie seiner Familie als Bild- und Videoinstallation in einem Haus und widmet jedes Stockwerk einer Generation.

    Der Roman spielt in der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Man könnte ihn die "Buddenbrooks" für die Sphäre der Stadt Chicago nennen, mit Muley als herausragendem Künstlerprotagonisten und dem Schwesternpaar als Kristallisationspunkt. Während im Frühwerk Thomas Manns der Weg vom Bürgertum zur Kunst jedoch als Geschichte eines zwielichtig-schillernden, triumphalen Niedergangs erzählt wird, betätigen sich fast alle Protagonisten Langers wie selbstverständlich im kulturellen Sektor, finden über die Kultur ihre sozialen Aufstiegsmöglichkeiten: Es wird geschrieben, musiziert, geschauspielert, gezeichnet, journalistisch recherchiert und künstlerisch experimentiert, was das Zeug hält.

    Dabei gerät das Verhältnis zwischen dem tatsächlichen Alter der Figuren und ihrem Reflexionsniveau gelegentlich ins Ungleichgewicht. Jill, Michelle und Muley sind Teenager, die diesem Alter im Laufe der fünf Jahre erzählter Zeit erst allmählich entwachsen. Wenn sie aber in Sachen Kunst und Liebe, zwischenmenschlicher Beziehung und Moral Verlautbarungen abgeben, dann wirkt das meist so abgeklärt und wundersam altklug, als hätten sie jahrelang Unterricht beim Stadtneurotiker selbst genommen, bei jenem Woody Allen, der denn auch hin und wieder als Referenzpunkt angerufen wird. Diese vorgezogene Altersweisheit zeigen sie allerdings vorzugsweise auf dem sicheren Terrain ihrer amourösen oder familiären Befindlichkeiten, oder eben im Bereich der Kunst.

    Als die Kinder flügge werden und den abgezirkelten Bereich des angestammten Stadtviertels verlassen, dringen sie weit in die Welt vor; Jill bringt es im Zuge eines Auslandssemesters sogar bis nach Deutschland, wo sie eine frühere Liebelei wiedertrifft. Der Mann heißt Wes, war früher ein ziemlicher Hallodri und hilft nun selbstlos und aufopferungsvoll armen Asylbewerbern in West-Berlin, ihren Weg durch das Dickicht westdeutscher Formularkultur zu finden.
    Auf dieser Studienreise lernt Jill, dass die Deutschen neuerdings "cool" seien: "Hier liefen alle nackt herum und fläzten sich gemeinsam in der Sauna, alle aßen vegetarischen Hamburger und protestierten gegen Atomwaffen."

    Wann immer die Figuren aus der windigen Stadt die Bühne ihrer familiär erschwerten Selbstverwirklichung verlassen und mit anderen Problemen konfrontiert werden als ihrer emotionalen und künstlerischen Selbstfindung, geraten sie auf unsicheres Gelände. Was sie dann über Ronald Reagan und die Republikaner, über die Kommunalpolitik in Chicago oder über den neuen Generalsekretär Gorbatschow daherreden, ist an Banalität kaum zu unterbieten.
    Wie das Lokalkolorit bleibt auch das Zeitkolorit blass und bedeutungslos.

    Eigentliche Mitte allen Geschehens ist und bleibt die Familie, und so verhüllt der dünne Mantel Modernität, diese Rede über den Halleyschen Kometen, über das Space Shuttle und die Reagonomics, über freie Liebe und Videoinstallation, den Kern des ganzen nur notdürftig.

    Tatsächlich ist Langers "Windige Stadt" der Hort einer fast altertümlich heilen Welt, in der zwar alle grundlegenden Verletzungen von der Familie ausgehen - meist vom bösen oder zumindest abwesenden Vater -, alle solche Wunden sich aber als heilbar erweisen, wenn man nur heimfindet in den Schoß der Familie.
    Am besten, wie in diesem Roman beschworen, zu Thanksgiving, dem aus seligen Hollywoodfilmen bekannten Tag familiärer Widervereinigungszeremonien.

    Ausbalanciert und damit gut erträglich wird diese in sich brüchige Verklärung der Familie durch kantige Figuren wie Jills erbarmungswürdig grässliche Großmutter Edna oder den durchgeknallten Künstler Hillel Levy, der an der Peripherie des inneren Zirkels von Jill, Michelle und Muley seine exzentrischen Bahnen zieht.
    Levy ist ein begnadeter Hypochonder, sex- und drogensüchtig, bisexuell, der sämtliche Zeichnungen mit grinsenden Penis-Männchen verziert und diese Armee von boshaften Schwänzchen über Disney-Figuren herfallen lässt.
    Und schließlich ist Langer mit Jill und Michelle, die das Mosaik aus Biografien zusammenhalten, ein immer wieder zu Herzen gehendes Doppelportrait rebellischer Töchter gelungen.


    Adam Langer: Die windige Stadt
    Aus dem Englischen von Grete Osterwald.
    Rowohlt 2007
    496 Seiten, 24,90 Euro