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Die Angst im Nacken

Trotz aller Bemühungen der Türkei, Mitglied in der EU zu werden, kann von freier Presse keine Rede sein. Erst im vergangenen Jahr urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg: Die Türkei ist mitschuldig an der Ermordung des Journalisten Hrant Dink. Er war Gründer und Chefredakteur der türkisch-armenischen Zeitung AGOS.

Von Luisa Meisel | 02.10.2010
    Wer zu AGOS will, muss suchen. Von außen weist nichts auf die Redaktion hin. Kein Schild. Keine Klingel. Erst der Straßenverkäufer zeigt mir mit einem Sesamkringel in der Hand den Weg. Das Wohnhaus, das die Redaktion beherbergt, ist kaum zu erkennen.

    Zwischen den vielen Geschäften – für Koffer, Schmuck und Kebap – ist der Hauseingang kaum wahrnehmbar. Ein Wachmann lehnt im Dunkel des Hausflures an der Wand. Ich steige die Treppen hinauf. Vor mir: Verspiegeltes Panzerglas. Kameras starren von oben herab, beäugen jeden Besucher. Einmal klingeln, zweimal klingeln – dann erst surrt die Tür und öffnet sich. Der Herausgeber Aris Nalci streckt mir die Hand entgegen. Für ihn sind die Sicherheitsvorkehrungen Überlebensstrategie.

    "Wir müssen überleben. Ich habe keine Angst mehr. Wir verlieren dieses Gefühl. Die Drohungen werden normal für uns. Man wird zur Zielscheibe. Aber okay, Wenn die mich töten wollen, sollen sie mich töten. Es geht nicht darum, nicht gesehen oder gehört zu werden. Wenn ich etwas zu sagen habe, dann werde ich es sagen."

    AGOS berichtet kritisch über die armenische Gemeinschaft und die Türkei. Auch an der Diskussion über die Vertreibung der Armenier beteiligt sie sich. Aber das Wort Genozid taucht in der Zeitung nicht auf. Mal heißt er die große Katastrophe, mal das Ereignis von 1915. Trotzdem ist AGOS ständig in Gerichtsverfahren verstrickt. Allein 14 Juristen beraten die Wochenzeitung.

    Im Kern geht es immer um Paragraf 301 des türkischen Strafgesetzbuches: Beleidigung des Türkentums. Der Paragraf erfasst alles und nichts. Das Wort Genozid reicht aus, um zum Straftäter zu werden. Vor drei Jahren eskalierte die Situation. Der Gründer und Chefredakteur Hrant Dink wurde vor der Tür seiner Redaktion erschossen. Bis heute ist der Mord an ihm nicht aufgeklärt. Für Ohan Eridsch, den Vorsitzenden des türkischen Journalistenverbandes, war Hrant Dink einer der mutigsten Journalisten der Türkei.

    "Der Tod unseres Kollegen motivierte Journalisten überhaupt, weil er den Einfluss von Journalisten zeigte. Wieder einmal hat sich erwiesen: Es ist nicht möglich, Ideen und Gedanken zu verbieten, indem man einen Journalisten tötet."

    Im Flur der Redaktion hängt das übermannsgroße Portrait von Hrant Dink. Eine Lichterkette umrahmt sein Gesicht. Falten auf seiner Stirn betonen seinen strengen, wachen Blick. An jeder Wand: Zeichnungen, Fotos, Zeitungsausschnitte. Als Hrant Dink die Zeitung 1996 gründete, war seine Idee einfach: Ändert sich die Politik nicht, müssen sich die Menschen trotzdem ein Bild über die Armenier in der Türkei machen können.

    "Viele Parlamentarier sind Abonnenten von uns. 50 bis 55 der Abgeordneten lesen Agos. Wir sind eine Informationsquelle für sie. Und das ist wichtig für mich: Dass ich eine Informationsquelle in diesem Land werde – eine seriöse und verlässliche Quelle."

    Als eine der wenigen Zeitungen in der Türkei ist AGOS unabhängig von großen Medienkonzernen. Finanziert wird das Blatt ausschließlich über Anzeigen. Hinzu kommen Einnamen aus den wöchentlich verkauften 5000 Exemplaren. Für die 25 festangestellten Redakteure reicht das nicht. Die meisten haben einen Nebenjob. Und auch für die Redaktionsräume bleibt nicht viel übrig.

    Die Arbeitsplätze sind eng. Zeitungen, Notizen, Briefe stapeln sich auf dem Fußboden. Bei manchen findet der Laptop nur noch auf den Knien Platz. "Agos" ist armenisch und heißt soviel wie "Furche – ein frisch erschlossener Weg". Vor 20 Jahren wurden Armenier in türkischen Geschichtsbüchern nicht mal erwähnt.

    "Wenn du das Richtige sagst, werden die Leute dich nicht mögen. Denn: Die Realität ist anders, Realität tut weh. Aber wir wollen die Menschen dazu bringen, sich selbst im Spiegel zu sehen. Wir die haben Hoffnung, etwas zu verändern. Hätte wir keine Hoffnung in dieses Land, würden wir hier nicht so sprechen. Wenn wir nur einen Meter gehen, wenn es auch nur einen kleinen Schritt ist - das reicht mir aus."