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Die Angst weicht dem Hochgefühl

Nur ein wenig Nylonstoff und einige Schnüre halten den Piloten beim Gleitschirmfliegen. Günstige Thermiken können ihn trotzdem Kilometerweit tragen: Der aktuelle Weltrekord beim Streckenfliegen liegt bei über 400 Kilometern. Für Fluganfänger kommt es allerdings darauf an, als erstes ihre Angst zu überwinden.

Von Mirko Heinemann | 21.10.2007
    Seltsame Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn man oben am Berg steht. Ich habe gar kein Testament gemacht, durchfährt es mich. Und dann: Ich könnte einfach abbrechen und wieder mit der Seilbahn hinunterfahren. Das halte ich gerade für die beste Idee meines Lebens. Nur bin ich mit rund fünfzig Leinen und mehreren Gurten an einem riesigen Nylonschirm befestigt.

    "Michel, der Erste ist draußen, der Jochen mit dem Bright, rot-grau. Leicht angebremst fliegen, Jochen, ganz leicht."

    Zu allem Überfluss steht hinter mir Fluglehrer Andi und tut, als sei das völlig normal: Dass man wie eine Fledermaus mit nichts als einem Fetzen Stoff über 500 Meter tief ins Oberstdorfer Tal springen soll, als wäre das ein Sonntagsspaziergang. Tief unten glitzern winzige Autos in der Sonne und bewegen sich im Schneckentempo über gewundene Sträßchen. In wenigen Minuten soll ich mit meinem Gleitschirm dort hinunter schweben. Es ist mein erster Höhenflug, mein erster Flug von einem richtigen Berg.

    "Wenn ihr hier startet und das Gelände so anschaut - wie weit müsst ihr laufen, bis ihr in der Luft seid?"

    "Bis an die Kante vor."
    "Mit Sicherheit. Wenn es nicht noch weiter ins Steile dann geht, weil: Das Gelände ist absolut flach hier. Ein paar Unebenheiten sind drin, das muss ich mit einplanen. Wenn das Gelände steil ist, hebe ich früher ab, aber in dem Fall muss ich doch bis davor an die Kante laufen."

    Ich muss daran denken, dass es vielleicht die letzte menschliche Stimme ist, die ich hören werde. Der Himmel über den Bergen erscheint plötzlich besonders blau, die Wolken so weiß. Das Leben ist doch zu schön, um es einfach wegzuwerfen.
    Andi winkt. Zum finalen Abschied? Nein, ich soll den Startcheck machen: Soll nachsehen, ob keine Knoten in den Leinen sind und die Karabiner verschlossen. Ganz schön viele Fehler, die da passieren können! Jetzt reicht es, sage ich mir. Ich habe diesen Kurs bezahlt, also springe ich hier auch runter. Das wirkt.

    "Ruhig aufziehen, und dann zum Beschleunigen kannst du ruhig größere, schnellere Schritte machen. Grundhaltung, das passt alles soweit. Die Seite holen wir noch ein bisschen runter, weil die höher liegt als die andere. Die würde sonst schneller steigen. Gehst du noch ein Schritt zurück?"

    "Okay!"

    "Mirko, hörst du mich?"

    "Ja."

    "Alles klar, Mirko. Start frei."

    Ich ziehe die Leinen straff und renne auf den Abgrund zu, renne um mein Leben. Meine Füße verlieren den Boden. Ich renne trotzdem weiter. Doch unter mir ist nichts. Nur Luft.

    "Okay, Huch. Ist das hoch!"

    Mir wird schwindelig. Ich schaue nach vorne und atme langsam, bis es wieder geht. Über mir rauscht die Luft beruhigend gleichmäßig am Schirm entlang und ich fühle mich allmählich sicher. Die Angst weicht einem Hochgefühl.

    "Ein Thron in Himmel! Das ist ja unglaublich!"

    Ich rausche ins Tal wie auf einer Luftautobahn, immer geradeaus. Die Sicht ist fantastisch. Am Horizont sehe ich die schneebedeckten Gipfel der Hochalpen, und von den Zweitausendern rundherum höre ich die Heidi jodeln und den Ziegenpeter, jedenfalls denke ich mir das so, und dann fällt mir ein, dass es über den Wolken keine Sorgen gibt. Es stimmt wirklich. Und dann schaue ich nach unten, und mir wird schlagartig anders.

    "Oh Gott! Man darf sich nicht vorstellen, dass man hier in der Luft sitzt, sondern - auf einem Berg?"

    "O.k., Mirko! Da kommst du mit einer wunderschönen Höhe daher, kannst ein bisschen mehr rechts halten, Richtung Landefeld her, Richtung Peilpunkt."

    "Ich will den Peilpunkt gar nicht wirklich sehen. Ist der tief! Eine Windböhe!"

    Das erste Luftloch. Ich falle. Nur eine halbe Sekunde lang, doch mein Herz setzt aus. Was soll ich tun? Mein Hirn ist leer, alle Theorie vergessen. Wie war das noch mal?

    "Wir machen jetzt alle den Kurs bis Ende der Woche."

    Vier Tage zuvor hatte der Kurs begonnen. Mit mir sind rund ein halbes Dutzend Leute im Alter zwischen 16 und 45 Jahren in die Flugschule im kleinen Allgäuer Ort Obermaiselstein gekommen. Unser Lehrer Micha wollte am liebsten sofort mit uns auf den Übungshügel gehen. Doch es war zu windig.

    "Also, es wird die Woche weiterhin so ein bisschen nicht ganz super sein, auch nicht ganz schlecht. Für unseren Zweck wird es reichen, wenn wir ein paar, vier, fünf gute Stunden haben. Wenn es trocken ist und der Wind passt, haben wir auch paar andere Möglichkeiten, wo wir hingehen können."

    Wir büffelten also zunächst einmal Theorie. Technik, Luftrecht, Verhalten in Notfällen. Zahllose Multiple-Choice-Fragen sind auf uns eingeprasselt. Es war genau wie beim Führerschein.

    "Unmittelbar vor dem Einleiten einer Kurve muss sich der Pilot überzeugen, dass der geplante Flugweg frei ist und keine Kollisionsgefahr besteht."
    "Genau. Rückspiegel haben wir keinen, muss man nicht reinschauen. Also einfach kurz vor der Kurve, bevor man die Kurve macht, kurz gucken: Kommt da einer entgegen? Es kommen da noch einige mehr Vorflugregeln dazu, die werden wir uns im Laufe der Woche noch anschauen."

    "Kommst du auf mich drauf zu, Elke! Gib Gas! Ja, schön. Genau. Rechts halten."

    Dann haben wir Übungsflüge von einem Hügel gemacht. Das erste Abheben mit dem Gleitschirm war ein kleines Abenteuer.

    "Die Angst war dabei, aber super. Genial!"

    "War richtig gut! Ist ein richtig gutes Gefühl, wenn man so fliegt. Und dann so lenkt, klappt schon ganz gut. Ich hatte ein bisschen Bange, dass ich gar nicht hochkomme. Aber es war richtig gut."

    "Es war interessant - bis ich die Bauchlandung gemacht hab. Aber ist schon spannend! Macht schon Spässken."

    Nach einem Dutzend Flügen wurden die Übungsflüge zur Schinderei. Eine Seilbahn gab es hier nicht. Festgeschnallt an einen Sitz aus Nylon, der beim Gehen in den Kniekehlen hängt, schleppten wir den schweren Schirm nach jedem Flug den Hügel wieder hinauf. Die Begeisterung relativierte sich.

    "Warm, weil: Insgesamt ist meinem ganzen Körper im Moment ziemlich warm. Ich weiß nicht, ob es am Fliegen liegt, an der Aufregung oder einfach, weil es hier pestwarm ist, und ich das ganze Geraffel den Berg immer wieder hochtragen muss."

    Luftlöcher oder Turbulenzen gab es am Übungshügel nicht. Wir haben gelernt, dass sie durch Thermik oder Abwinde am Berg entstehen. Ich erinnere mich, dass man gar nichts dagegen tun kann - außer beten, dass man schnell hindurchgeflogen ist, bevor Schlimmeres passiert.

    Zurück am hohen Berg: Es ist zum Glück nichts passiert. Ich fliege wieder stabil geradeaus. Fluglehrer Micha hat sich gerade durch das Funkgerät gemeldet. Er möchte, dass ich eine Kurve fliege. Ich soll mich mit meinem gesamten Körper auf die Seite legen und an der linken Steuerleine ziehen.

    "Ah, Kurve!"

    Micha macht wohl Witze. Unter mir ist nichts, nur 300 Meter Luft. Ich setze mich schnell wieder gerade hin und lege meinen Kopf nach links, das muss reichen. Aus dem Augenwinkel sehe ich direkt unter mir kleine Punkte, die Kühe sein könnten. Sie fangen an zu tanzen. O, nein! Lieber geradeaus gucken.

    "Steuerst du auf den Punkt drauf zu. Lass die Hände ganz oben! Jetzt schaukelt es ein bisschen."

    Inzwischen bin ich schon nah am Boden. Ich kann Menschen erkennen, und ich überfliege einen Kinderspielplatz. Dahinter ist der rote Kreis ausgelegt: unser Landesignal.

    "O.k., durchziehen, runter mit den Händen!"

    Das war keine Bilderbuchlandung. Ich bin in einem Graben heruntergekommen und habe mir den Fuß umgeschlagen. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert. Wie sagt der Flieger: Herunter kommen sie immer. Fragt sich bloß, wie.