Donnerstag, 25. April 2024

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Die antastbare Würde des Menschen

30 Jahre ist es nun her, dass Günter Wallraff undercover als Bild-Zeitungsredakteur Hans Esser skandalöse Innenansichten aus der Redaktion der größten europäischen Tageszeitung lieferte. Damals hat das die ganze Republik in Aufruhr versetzt. Heute aber, in Zeiten, in denen die Gosse in Form von Gerichts-, Astro-, Superstar- und Sonstwas-Shows alltäglich über alle Privatfernsehkanäle schwappt, ist es äußerst unhip geworden, sich über den publizistischen Dauerskandal "Bild" noch zu mokieren. Schlimmer noch: In der Bundesrepublik der 70er und 80er Jahre existierte zumindest unter Politikern ein Grundkonsens darüber, das Massenblatt nicht als Multiplikator zu nutzen. Ein Konsens, von dem man sich in aller Stille verabschiedet hat - oder auch in aller Öffentlichkeit, wie Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der nach eigenem Bekunden zum Regieren nur "Bild, Bild am Sonntag und die Glotze" benötigte. Ein weiterer Alt-Bundeskanzler, Helmut Kohl, wählte als Ghostwriter für sein Buch "Ich wollte Deutschlands Einheit" keinen anderen als Kai Diekmann, damals stellvertretender Chefredakteur bei "Bild", heute Chefredakteur. Eine bedenkliche Entwicklung, meint Gerhard Henschel, der den "täglichen Skandal namens Bild" nun in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel "Gossenreport" näher betrachtet. Marcus Heumannn hat es für uns gelesen.

Rezensent: Marcus Heumannn | 12.02.2007
    Vor Bild kuscht der gesamte Bundestag, und kein konservativer Landesvater schrickt davor zurück, in Bild zwischen einem blutigen, auf der Titelseite angerichteten Drama, das sich im Genitalbereich eines Sportlers abgespielt hat und einem Kleinanzeigenteil, in welchem eine "rasierte Transe mit XXL-Brüsten" ihre Telefonnummer anzeigt, das Wort zu ergreifen.

    Die Anbiederung der Politik an "Bild" ist inzwischen parteiübergreifend, wie Gerhard Henschel in seiner Gossen-Presseschau dokumentiert. Ob Ex-Spontis wie Jürgen Trittin, leibhaftige Bundeskanzlerinnen wie Angela Merkel oder Alt-Bundespräsidenten wie Richard von Weizsäcker - sie alle melden sich inzwischen in "Bild" zu Wort, konstatiert der Autor. Das Verhältnis zwischen ihm und Bild-Chefredakteur Kai Diekmann ist kein sehr herzliches, spätestens, seitdem Henschel in der "taz" eine Satire über Dieckmann schrieb. Die Headline in bestem, d.h. schlechtestem Bild-Deutsch: "Sex-Schock (Ausrufezeichen) Penis kaputt (Fragezeichen)". So begann die Geschichte einer wundervollen Feindschaft: Diekmann, Herr der tausend Schmuddelschlagzeilen, fühlte sich tief gekränkt und zerrte den Autor der fiktiven Reportage vor Gericht. Dieses sprach ein salomonisches Urteil:

    Mein Artikel verletzt Kai Diekmanns Persönlichkeitsrecht, aber Kai Diekmann steht trotzdem kein Schmerzensgeld zu, da er Chefredakteur der Bildzeitung ist. So steht es wunderbarerweise in diesem Urteil drin. Kai Diekmann habe das Verletzen von Persönlichkeitsrechten ohne Not zu seinem Beruf gemacht, und müsse deswegen damit leben, dass gelegentlich auch sein Persönlichkeitsrecht verletzt werde.

    Seitdem hat Henschel eine ganze Reihe weiterer Texte über BILD verfasst, die teilweise schon in Zeitschriften publiziert sind, teilweise erstmals in diesem Buch erscheinen. Sein Untertitel, "Betriebsgeheimnisse der BILD-Zeitung" führt indes in die Irre. Was hier versammelt ist, sind Skandale des schlechten Geschmacks, die für jeden offensichtlich sind, der an einem Zeitungskiosk vorbeikommt. Henschel hat nur etwas genauer hingesehen: monatelang, Tag für Tag. Diese schmerzhafte Langzeitbeobachtung macht sichtbar, wie BILD Prominente in den siebten Himmel hebt, um sie, wenn sie nicht im Sinn der Zeitung spuren, tags darauf zu verdammen. Wie sie christliche Werte predigt, um im Artikel daneben wieder einmal die Privatsphäre eines Menschen zu zerstören - auch noch postum, wenn's eine Schlagzeile bringt:

    Kai Diekmann hatte feierlich erklärt, BILD behellige niemanden, der sein Privatleben privat lebe. Und trotzdem informierte BILD die Nation am 25. Mai darüber, dass eine gewisse Jennifer aus Chemnitz, 13, "zwar schon die Pille genommen, mit dem festen Freund aber bisher nur gekuschelt und geknutscht habe". Dazu gab es ein großes Foto von dem Mädchen und ein gestochen scharfes ihres jüngsten Liebesbriefs zu sehen: "Hey mein Süßer, ich liebe Dich und will Dich zurück haben". Die 13-jährige Jennifer hat ihr Privatleben privat gelebt, der einzige Fehler, den sie begangen hatte, war der, sich totschlagen zu lassen. Als ihr privat gelebtes Privatleben ein gewaltsames blutiges Ende gefunden hatte, reifte es zum Gegenstand der BILD-Berichterstattung heran. "Jennifer, 13, brutal erschlagen. Sie hatte gerade ihren ersten Liebesbrief geschrieben. Polizisten fanden die Leiche von Jennifer, 13, verscharrt in einem Schweinestall". Und wieder ausgescharrt und bloßgestellt auf Seite 3 in BILD. Manchmal ist es nur ein kleiner Schritt, der von der publizistischen Obduktion der Leiche eines Kindes und der Verletzung seiner letzten Briefgeheimnisse in einen Schweinestall hineinführt,

    befindet Henschel, der in seinem Kampf gegen den "Oberschweinehirten" Diekmann auch auf literarische Vorbilder zurückgreifen kann. Gerne zitiert er Karl Kraus, der Mitte der 20er Jahre gegen das Wiener Revolverblatt "Die Stunde" anschrieb,

    das um die Mittagsstunde den Mord durch die Gassen ruft und mit der Unbefangenheit, die das Nichtsnutzige als Trumpf ausspielt, den hellen Tag zum Nachtlokal macht.

    Während Karl Kraus aber dem kriminellen Verleger der "Stunde" das Handwerk legen konnte, erkennt Henschel leider durchaus treffend, dass "die mediale Blutverwurstungsindustrie des frühen 21. Jahrhunderts fester etabliert" ist. Hier kämpft also ein David gegen einen publizistischen Goliath - dass Henschel da manchmal arg dicke verbale Steine auf die Schleuder legt, sollte man ihm zugestehen. Weniger verzeihlich sind die zahlreichen Redundanzen in Henschels Polemik. Irgendwann hat man das ständige Rekurrieren z.B. auf die Telefonsex-Anzeigen in der Bild-Zeitung einfach über. Zumal das eben in einem Stil geschieht, der an einen Max Goldt erinnert, der mit Salzsäure gegurgelt hat. Manchmal haut Henschel im Eifer des Gefechts auch inhaltlich kräftig daneben, etwa, wenn er Bild-Schlagzeilen des Wendejahres 1989 mit denen des damaligen SED-Zentralorgans "Neues Deutschland" vergleicht und feststellt:

    Im historischen Rückblick und im direkten Vergleich mit BILD nimmt sich das "Neue Deutschland" wie der letzte Hort bürgerlicher Wohlanständigkeit aus, während BILD schon damals alle Burgen abendländischer Gesittung leer gefressen und ruiniert hatte.

    Wer als DDR-Bürger dazu verdammt war, jahrzehntelang das gleichgeschaltete Parteichinesisch der DDR-Presse zu lesen, der wird auf solche Komparatistik eher allergisch reagieren - zumal Henschel unterschlägt, dass der Zeitungsleser Ost keine Alternativen hatte. Der BILD-Leser West hatte und hat sie. Übrigens bedient sich Bild seit neuestem einer Errungenschaft des verblichenen DDR-Journalismus, der in den 50er Jahren den so genannten "Volkskorrespondenten" erfand. Während diese Amateur-Lokalreporter in schlechtem Deutsch noch hauptsächlich von Ernteschlachten in entlegenen Winkeln des Arbeiter- und Mauernstaates berichteten, kann man sich ausmalen, was künftig der so genannte "Bild-Leser-Reporter" mit seinem pixeligen Fotohandy anstellen wird. Zwölf Millionen Bild-Käufer gleich zwölf Millionen potentielle volkseigene Paparazzi. Gnade uns Gott - so er nicht auch schon durch die Bild-"Volksbibel" korrumpiert ist. Zumindest seinen Stellvertreter auf Erden hat Diekmann, meint Henschel, damit nämlich schon erfolgreich eingewickelt:

    Am schmutzigsten geworden war es - bis auf Weiteres - im April 2005 als der Papst, man staune, eine "Bild"-Delegation im Vatikan empfangen und ihr Anführer, der täglich zahllose "Bumskontakte" vermittelt, dem Heiligen Vater ein Exemplar der Volksbibel von BILD überreicht und scheinheilig erklärt hatte: "Mit über zwölf Millionen Lesern täglich ist uns auch die Verbreitung der christlichen Glaubensbotschaft ein ernstes Anliegen".

    Während die "BILD"-Kritiker früherer Jahrzehnte ausnahmslos von einem politischen - fast immer linken - Standpunkt gegen das Springer-Blatt ankämpften, ist Gerhard Henschels "Gossenreport" eine wohltuend unideologische Polemik. Dass dem 44-Jährigen auch vor linken Ikonen nicht bang ist, hat er schon vor Jahren mit seinem Buch "Das Blöken der Lämmer" demonstriert, in dem er das Verhältnis der Linken zum Kitsch analysierte - besser gesagt: sezierte. Seine "Bild"-Betrachtung erfolgt aus der Perspektive eines Wertkonservativen, den der mediale Sittenverfall und das allgegenwärtige Kuschen der Prominenz vor der Macht der Bild-Zeitung umtreibt.

    Stellen wir uns einmal ganz dumm. Rufen wir uns den ersten Artikel des Grundgesetzes in Erinnerung: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt".

    So beginnt Gerhard Henschels Buch, dessen Verdienst es - bei allen genannten Schwächen - ist, diesen ersten Artikel unserer Verfassung immer wieder an einer Realität namens "Bild" zu messen. Ihm sind viele Leser zu wünschen - auch und gerade in den Kreisen, die bereit sind, ihren letzten Anstand für etwas Publicity in die Gosse zu werfen.

    Gerhard Henschel: Gossenreport. Die Betriebsgeheimnisse der BILD-Zeitung. Edition Tiamat. Berlin 2006. 192 Seiten. 14,00 Euro.
    Hörbuch: Mit Mutter Teresa zum Gossenreport. Edition Tiamat. Berlin 2007. 16,00 Euro.