Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


"Die Atmosphäre war stets angespannt"

Mit Graphic Novels wie "Pyöngjang" und "Shenzhen" hat der frankokanadische Comic-Autor Guy Delisle ein neues Genre geprägt: Eine Mischung aus Tagebuch und Reportage aus Ländern in schwierigen politischen Situationen. Im Interview spricht er über sein neuestes Werk "Aufzeichnungen aus Jerusalem".

Guy Delisle im Gespräch mit Christian Gasser | 13.03.2012
    Christian Gasser: Guy Delisle, Sie haben vom August 2008 bis Juli 2009 ein Jahr mit Ihrer Familie in Jerusalem verbracht. Wie angespannt war die politische Lage während Ihres Aufenthalts?

    Guy Delisle: Die Lage war ziemlich ruhig, die Intifada war vorbei, es gab keine Selbstmordattentate. Deshalb haben Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen, für die meine Partnerin arbeitete, auch wieder Familien nach Jerusalem geschickt. Es kam natürlich immer wieder zu Zwischenfällen, und die Atmosphäre war stets angespannt. Die Altstadt von Jerusalem ist sehr hübsch, aber durch die allgegenwärtigen, schwer bewaffneten Soldaten verliert sie in meinen Augen an Zauber. Ich fand es auch nicht gerade beruhigend, dass ich mit meinen Kindern Metalldetektoren passieren musste, um einfach mal ein Eis zu essen.

    Gasser: Seit den 90er-Jahren haben Sie sich immer wieder für längere Zeit in Ländern wie China, Nordkorea und Burma aufgehalten – Ländern in sehr besonderen politischen und wirtschaftlichen Situationen, nicht gerade alltägliche Reiseziele. Was fasziniert Sie an solchen Ländern?

    Delisle: Mir gefällt es, mich als Fremdling in einer völlig anderen Kultur aufzuhalten, sie zu beobachten und meine Aufzeichnungen dann mit anderen zu teilen. In Ländern wie Nordkorea und Birma fühlt man sich wie auf einem anderen Planeten. Man lernt zu verstehen, wie das Leben dort funktioniert, man entdeckt Details, die man sich zuvor nicht hätte vorstellen können – und man kann auch Klischeevorstellungen unterlaufen.

    Gasser: Wie unterscheidet sich Jerusalem von Ihren früheren Destinationen?

    Delisle: Zum einen ist Israel natürlich eine Demokratie. Zum anderen empfand ich es als Herausforderung, dass wir sehr viel mehr über Israel wissen, und jeder von uns seine Meinung zum Konflikt hat. Ich habe mich ständig gefragt, wie viel ich erklären muss und wie viel ich voraussetzen kann. Ich habe in Jerusalem sehr viel gelernt, das ich auch weitergeben wollte – aber ich wollte keine Dissertation schreiben, sondern unterhaltsam bleiben. Dieses Gleichgewicht zwischen Aufklärung und Unterhaltung finde ich essenziell. Meine Bücher sind für mich wie ausführliche Postkarten, in denen ich meinen Verwandten und Bekannten schildere, wie unsere kleine Familie ihr Jahr in Jerusalem verbracht hat.

    Gasser: In "Aufzeichnungen aus Jerusalem" widersprechen Sie ziemlich heftig, als jemand Sie als Journalisten bezeichnet.

    Delisle: Mittlerweile bezeichnet man mich derart hartnäckig als Journalisten, dass ich beginne, einen Begriff wie "Reporter" zu akzeptieren. Was ich aber mache, ist eine sehr langsame Form der Reportage. Ich schlendere durch das Quartier, ich beobachte Nebensächliches, das ich aber mit der großen Geschichte verknüpfe. Gewöhnlich steht der Journalist nicht im Mittelpunkt seiner Reportage. Ich betone aber ganz bewusst den subjektiven Charakter, damit der Leser versteht, dass er mit jemandem unterwegs ist, der nicht viel über die Situation weiß, diese aber im Verlauf eines Jahres zu verstehen sucht. Im Gegensatz zum Journalisten warte ich darauf, dass die Informationen meinen Weg kreuzen – der Journalist hingegen sucht die Informationen.

    Gasser: Ist es nicht manchmal frustrierend, dem Zufall soviel Raum zu geben? Reizt es Sie nicht, sich ganz bewusst und zielgerichtet an ein Thema anzunähern?

    Delisle: Ehrlich gesagt: Nein. Ich liebe es, mich vom Zufall leiten zu lassen.

    Gasser: Wie müssen wir uns Ihre Arbeitsweise vor Ort vorstellen?

    Delisle: Vor Ort mache ich Notizen und Skizzen. Diese Notizen lese ich nach meiner Rückkehr durch; ich werfe alles Langweilige und Bedeutungslose weg und konzentriere mich auf das Kuriose, Witzige und Absurde. Daraus entsteht eine Reihe gezeichneter Kolumnen, die in "Aufzeichnungen aus Jerusalem" sehr chronologisch aufgebaut ist: Auf der ersten Seite lande ich in Jerusalem – auf der letzten fliegen wir wieder weg.

    Gasser: Sie beginnen die Arbeit am Buch also erst, wenn Sie zurück sind.

    Delisle: Das ist sehr wichtig. Vor Ort fehlt mir der Abstand. Nur mit genügend Abstand kann ich meine Erfahrungen so filtern und vereinfachen, dass ich sie in eine möglichst klare Form bringen kann.

    Gasser: Sie sind kein Journalist, sagen Sie, und doch fällt in "Aufzeichnungen aus Jerusalem" auf, dass Sie Ihre gewohnte neutrale Zurückhaltung ablegen – Sie äußern sich offener zur politischen Situation als etwa in Ihren Büchern über Nordkorea und Burma.

    Delisle: In Nordkorea und Birma drängten sich fundierte Analysen und Erklärungen nicht auf. Außerdem sind wir uns alle einig, dass Birma und Nordkorea fürchterliche Diktaturen sind. Wenn Kim Jong Il stirbt, weint ihm im Westen niemand eine Träne nach. In Israel ist es anders. Greift man Netanjahu an, wird man von rechts kritisiert; nimmt man den Palästinensern gegenüber das Wort "Siedlung" in den Mund, gilt man als Freund Israels. Anfänglich hat mich das gelähmt; dann sagte ich mir: Egal, ich werde einfach möglichst genau und subjektiv aufzeichnen, was ich erlebt habe. Mein Buch ist der Erlebnisbericht eines Ausländers, keine Dokumentation.

    Gasser: Bevor Sie Comics zeichneten, waren Sie im Animationsfilm tätig. Wie sind Sie Comic-Zeichner geworden?

    Delisle: Das war ein schrittweiser Prozess. In Kanada gibt es keinen Markt für Comics, deshalb bin ich zunächst Animationsfilmer geworden. Dann bin ich nach Frankreich gezogen, und da habe ich dann mehr und mehr kurze Geschichten für den unabhängigen Verlag L'Association gezeichnet. Aus diesen Kurzgeschichten wurde das Buch "Shenzhen", dann folgte "Pyöngjang". Diese Bücher verkauften sich immer besser, und eines Tages merkte ich, dass ich vom Comic-Zeichnen leben könnte.

    Gasser: Wie sehr hat der Erfolg von "Shenzhen" und "Pyöngjang" Sie überrascht?

    Delisle: Das war anfänglich völlig unvorstellbar. Im ersten Jahr hat sich "Pyöngjang" 3000 Mal verkauft, das empfanden wir schon als großen Erfolg – heute sind es um die 50.000 Exemplare. Ich bin also vom Underground in den Mainstream aufgestiegen, ohne etwas an meiner Arbeit oder Haltung zu ändern. In den letzten 15 Jahren ist eine neue Form von Comics entstanden. Viele Autoren haben Themen besetzt, die es im Comic zuvor nicht gab. Die Reportage beispielsweise, und die Autobiografie. Das wiederum hat dazu geführt, dass sich der Comic eine neue Leserschaft erschlossen hat. Und das ist erst der Anfang eines goldenen Zeitalters für den Comic.

    Gasser: Wie erklären Sie sich den gegenwärtigen Erfolg von autobiografischen und journalistischen Comics?

    Delisle: Das Bild allein hat schon eine sehr große Wirkung. Wenn es zusätzlich aber von einem Text vorbereitet oder unterstützt wird, entsteht eine Aussagekraft, die mehr ist als die Summe der Einzelteile. Eins plus Eins ergibt hier nicht zwei, sondern drei. Als Comic-Autor habe ich viele Werkzeuge, um etwas zu erzählen oder eine Stimmung zu beschwören. Außerdem hat der Comic ein pädagogisches Potenzial, das ich gerne nutze: Mit meinen kleinen Anekdoten aus Jerusalem bringe ich den Leser zum Schmunzeln oder zum Lachen – und vermittle ihm dennoch einiges über ein sehr ernsthaftes, ja sogar düsteres Thema. Es ist diese Mischung aus Information und Unterhaltung, die mich interessiert.

    Gasser: Nach China, Nordkorea, Burma und Israel – was ist Ihre nächste Destination?

    Delisle: Meine Partnerin arbeitet nicht mehr für Ärzte Ohne Grenzen", deshalb haben wir keine Reisepläne. Ich werde mich aber von der Autobiografie nicht abwenden – es wird aber vielleicht andere Formen annehmen.

    Gasser: Haben Sie bereits ein konkretes Projekt?

    Delisle: In Québec, meiner Geburtstadt, wird eine Papierfabrik bald geschlossen. Mein Vater hat 30 Jahre lang in dieser Fabrik gearbeitet, auch ich habe während meines Studiums dort gejobbt. Diese Schließung ist ein Wendepunkt für Québec. Aber auch für mich, wegen meines Vaters. Deshalb möchte ich diese große Fabrik zeichnen, während sie geschlossen wird – und gegebenenfalls auch mit Leuten reden, mit denen ich dort gearbeitet habe. Aber ich habe ehrlich gesagt nicht die geringste Vorstellung, wohin mich dieses Projekt führen wird.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.