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Die beglückende Entdeckung einer bewundernswerten Geistesgegenwärtigkeit

Mit Friedrich Nietzsche verbindet man heute noch am ehesten den Namen von Georg Brandes. Denn der dänische Essayist, Schriftsteller und Journalist, der 1927 in seiner Geburtstadt Kopenhagen starb, hat den deutschen Philosophen buchstäblich "entdeckt" und europaweit noch zu Nietzsches bewussten Lebzeiten bekannt gemacht. Der 1842 in einer großbürgerlichen dänisch-jüdischen Familie geborene Brandes war nicht nur für Nietzsche die erste, sondern auch für andere Autoren wie Ibsen oder Strindberg die beste Adresse. Denn der "Herr Cosmopoliticus", wie Nietzsche ihn nannte, besaß am Ende des 19. Jahrhunderts Ruf, Ansehen und Autorität wie kein zweiter Intellektueller und Schriftsteller in Europa, das der viel gereiste und vielsprachige Georg Brandes aus eigener Anschauung kannte.

Von Wolfram Schütte | 13.07.2007
    Als radikaler Kritiker der gesellschaftlichen Traditionen war Georg Brandes nicht nur in seiner dänischen Heimat umstritten; auch andernorts wurde der politische Moralist bekämpft, wenn er auf nationalistische Befindlichkeiten keine Rücksicht nahm, weil er sich den Postulaten der Französischen Revolution verpflichtet zeigte, wenn er Unfreiheit, Unrecht und Unterdrückung erkannte und sich öffentlich auf die Seite der Schwachen und Gedemütigten stellte.

    Nachdem der findige Berenberg-Verlag vor drei Jahren den Nietzsche-Essay von Georg Brandes wieder vorgelegt hat, legt der kleine Berliner Verlag nun nach: Unter dem Titel "Der Wahrheitshass" ist eben eine Auswahl von politischen Schriften dieses unbestechlichen Chronisten seiner europäischen Zeit erschienen. Das von Hanns Grössel sowohl edierte als auch zumeist übersetzte Buch stellt einen ebenso mutigen wie weitsichtigen, ebenso scharfsinnigen wie geistvollen, brillant und pointiert argumentierenden Kritiker Deutschlands und Europas zwischen 1880 und 1925 vor. Es ist die beglückende Entdeckung einer bewundernswerten Geistesgegenwärtigkeit - ineins mit der Depression des Nachgeborenen: Weil schon Georg Brandes früh erkannte, benannte und bekämpfte, was uns heute noch immer beschäftigt.

    Vergangen mag sein, was er - während seines Berliner Exils (1877/83) - als Signatur des Bismarckisch-Wilhelminischen Deutschlands, wohlgemerkt noch ohne Nietzsches Hellsichtigkeit, aus eigener Wahrnehmung erkannte: Servilität, Kastendenken, Antisemitismus, Militarismus - das Arsenal des deutschen Schreckens, den Heinrich Mann erst mehr als dreißig Jahre später zur aggressiven Spießerphysiognomie des "Untertan" verdichtet hat. "Chauvinismus und Kaiserverehrung vor einem und hinter einem und in allen Richtungen" seufzt Brandes beim Blick auf die Berliner Opern- und Theaterspielpläne schon 1878: "Man öffnet die Bücher. Der Inhalt? Noch mehr Chauvinismus und Kaiserverehrung und Bismarckverehrung. Allah!", ruft Brandes wie ein Muslim und fragt: "Wann wird das ein Ende haben?" In einem großen Krieg, prognostizierte er 1881, wenn das "einsame, isolierte, bei seinen Nachbarn verhasste Bollwerk des Konservatismus bis zu den Zähnen bewaffnet, gepanzert und gerüstet mit allen Mord- und Verteidigungswaffen der Wissenschaft" gegen die Welt antritt. Es gibt Gründe, warum "nicht mehr laut gedacht wird" in diesem Deutschland, in dem die "Geisteskrankheit" des Antisemitismus grassiert, sich "der militärische Geist in die höheren Beamtenkreise eingeschlichen hat", die "ganze gebildete Jugend konservativ" ist und sich "aus Brutalität und Kampfeslust" duelliert.

    Brandes sieht die Ursache darin, dass die deutschen Philosophen, Rechtsgelehrten und sozialen Denker zumeist beamtete Professoren waren, die "hohe Intelligenz mit einem schwachen Charakter" verbanden und "von Amts wegen philosophierten". Wo das nicht der Fall ist, bei Schopenhauer, sind sie "charakterlich unsympathisch und menschenfeindlich". Die "rücksichtslose Energie, Festigkeit und Kühnheit", die Brandes an französischen und englischen Denkern bewundert, verdichtet sich ihm in der Gestalt John Stuart Mills. Er sei "die Verkörperung von allem, was das 19. Jahrhundert an unbedingter Wahrheitsliebe, glühendem Gerechtigkeitsgefühl und Sinn für Unabhängigkeit hervorgebracht hat".

    Diese Charakterisierung ist ein treffendes Selbstporträt des entschiedenen Linksliberalen Brandes, der den öffentlichen publizistischen Kampf gegen den "Wahrheitshass" an allen sozialen, politischen, moralischen und ästhetischen Fronten immer wieder aufnahm und sich nie scheute, dabei Freunde oder Sympathien zu verlieren - wie den französischen Staatsmann Georges Clemenceau, der ihn während des 1. Weltkriegs zur Parteinahme für die Entente zwingen oder Theodor Herzl, der Brandes für den Zionismus gewinnen wollte.

    Aber der Hass auf die Wahrheit habe sich längst durch Namensänderung unkenntlich & scheinheilig gemacht, erkennt Brandes. Er heiße nun: "Höflichkeit, Rücksicht, Takt, Pietät, Vaterlandsliebe, Schonung des Glaubens anderer", um die unbequemen, folgenreichen, einschneidenden Wahrheiten mundtot zu machen. Mit jedem seiner hier wieder vorgelegten essayistischen Verstöße dagegen belegt der Däne Georg Brandes, dass er unser Zeitgenosse ist. Es fragt sich aber, ob wir als Intellektuelle noch den Mut haben, seine zu sein oder zu werden.