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Die Bewohner des Bonbonpalastes

Es ist eine Geschichte von und über Istanbul: eine Stadt zwischen Mystik, Religion und Moderne. In "Der Bonbonpalast" schildert die türkische Schriftstellerin Elif Shafak den Alltag und das Leben zahlreicher Istanbuler Bürger, verwebt dabei geschickt Realität und Traum, Humor und Tragik. Der vierte auf deutsch erscheinende Roman Shafaks hat in der Türkei bereits für Begeisterung gesorgt: Es sei der beste türkische Roman seit Jahren, so die Presse.

Von Annette Brüggemann | 11.09.2008
    Die amerikanische Essayistin Susan Sontag erhielt 2003 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels für ihre Rolle als "intellektuelle Botschafterin zwischen zwei Kontinenten". Ähnliches lässt sich auch von Elif Shafak behaupten, die eine Brücke schlägt zwischen dem Islam und unserer westlichen Welt. In der Türkei wurde sie schnell zur Bestsellerautorin und zum gefeierten Star. Sie galt als eine junge Autorin, die die verschütteten traditionellen, historisch-kulturellen und religiösen Werte der Türkei mit einem neuen Verständnis zutage förderte.

    Ihr stets neugieriger Blick auf die Historie und Gegenwart ihrer Heimat prägen ihr Schreiben. Nicht anders in ihrem neuen Roman "Der Bonbonpalast", der eine Lieberklärung an Istanbul ist. In einem Interview sagte Elif Shafak einmal, dass in der türkischen Metropole auf besondere Weise Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander fließen würden. Denn dort würden die Toten und Lebenden sehr nah beieinander liegen. Nirgendwo sonst in der Welt seien Gräber und Friedhöfe so mitten in der Stadt angesiedelt wie in Istanbul.

    Der Roman "Der Bonbonpalast" greift diesen Gedanken spielerisch auf. Einst war der Bonbonpalast ein prachtvolles Haus, erbaut von einem emigrierten russischen General für seine Frau. Was heute niemand mehr weiß, ist, dass unter dem Fundament des von Kakerlaken heimgesuchten, in die Jahre gekommenen Palastes die Gräber eines Heiligen verborgen lagen. Aufgrund der Baumaßnahmen mussten diese verlegt werden.

    Noch bevor die ersten Bulldozer anrückten, um das Gelände zu planieren, fielen den Arbeitern plötzlich zwei völlig unversehrte Grabmäler auf, und das Schicksal nahm eine überraschende Wendung. Zwar befanden sich beide Gräber auf dem muslimischen Friedhof, doch eines davon lag im Norden an der gemeinsamen Mauer mit dem armenisch-orthodoxen Friedhof, das andere im Süden. Bis auf dieses Detail waren sie vollkommen gleich. Die Sarkophage bestanden aus rotgeädertem weißen Marmor, waren mit osmanischen Ornamenten und einem Schicksalsrad mit drei Speichen aus Pflanzenornamenten verziert, hatten steinerne Turbane fast so groß wie Wagenräder und waren mit einem blattgrün gestrichenen Zaun aus Stäben spitz wie Pfeile eingefasst. Merkwürdigerweise steckte neben beiden ein rostiges Schild, das zur selben Zeit und von denselben Leuten angebracht worden sein musste: "Hier ruht der heilige Standaufundmachtesichdavon, der in der Armee des Ebu Hafs-i Haddad kämpfte und zahlreiche Heldentaten für die islamischen Eroberungen vollbrachte und vor dem Fall Istanbuls in die Gnade des Herrn einging. Ein Gebet für seine Seele.

    Welches der beiden Heiligengräber das echte war und was mit ihnen geschehen sollte, löst Elif Shafak anhand einer kleinen Anekdote auf. Zwar seien die Gräber abgeräumt, doch Teile des steinernen Sarkophags und ein leerer Sarg an anderer Stelle symbolisch beerdigt worden. Der Heilige sei ein Derwisch gewesen. Er habe den Namen "Standaufundmachtesichdavon" bekommen, weil er sein Leben lang keine Wurzeln geschlagen habe. Somit widerspreche es auch gar nicht der Tradition, wenn sein Grab verlegt worden sei, und er habe endlich seine Ruhe gefunden. Nur die Bewohner des "Bonbonpalastes", der 1966 auf den ehemaligen Gräbern errichtet wurde, sind auf mysteriöse Weise im Roman vom Geist des Heiligen beseelt. Sie alle sind Reisende, Suchende.

    Ein großer Wunsch Elif Shafaks ist es, in ihrem Schreiben Gegensätze zum Ausdruck zu bringen. Obwohl sich ihre Romane sprachlich und inhaltlich unterscheiden, sind sie von der gleichen Sehnsucht gemeißelt. Es sind mosaikhafte, verästelte und vielstimmige Romane, solche, die nicht von einer einzig gültigen, absoluten Wahrheit ausgehen. Insbesondere "Der Bonbonpalast" ist geprägt von einer komplexen Erzählstruktur, die an "Tausendundeine Nacht" erinnert. Sie führt den Leser von Wohnung zu Wohnung des mysteriösen Hauses. Hinter jeder Tür finden sich Individuen mit ihren Erinnerungen, Ängsten und Träumen.

    Da ist der Friseursalon der Zwillinge Cemal und Celal, der Ort, an dem geklatscht, getratscht, geschimpft und gelästert wird. Da ist der junge Medizinstudent, der im Keller des Hauses residiert, den Verstorbenen am Nächsten. Und da ist das skurrile und ehrwürdige alte Tantchen Madam.

    Oder Nadia, die russische Emigratin und Wissenschaftlerin, die Kartoffellampen schnitzt, während ihr Mann sie betrügt. Oder die junge Schönheit, genannt "Blaue Mätresse" - nach ihrem selbst erwählten Beruf, der ihr bald zur Last wird. Oder aber der streng religiöse Hausverwalter Hadschi Hadschi mit seinen Geschichten über Dschinns und Derwische. Getragen werden die Geschichten vom zärtlichen und schelmischen Humor des Erzählers. Er fächert die feinen Fäden des Romans auseinander und führt sie zum Schluss wieder kunstvoll ineinander, als wäre alles nur ein von ihm selbst ersponnener Traum.

    Die Leute behaupten, ich hätte eine blühende Phantasie. Das ist noch die freundlichste Art zu sagen: "Du spinnst!" Damit könnten sie sogar Recht haben. Das Ersponnene ist genauso weit von der Wahrheit weg wie von der Unwahrheit. Der Lügner stellt die Wahrheit auf den Kopf, während der Spinner die Wahrheit mit der Lüge verlötet. Das hört sich kompliziert an, ist aber so einfach, dass es sich mit einem Strich darstellen lässt.

    Angenommen, die Wahrheit ist ein waagerechter Strich. Dann ergibt das, was wir Lüge nennen, eine Senkrechte. Das Ersponnene sieht dann so aus - wie ein Kreis. Im Kreis gibt es keine Waagerechte und keine Senkrechte, er hat weder einen Anfang noch ein Ende. Man kommt von jedem beliebigen Punkt aus in den Kreis, denn einen verbindlichen Start gibt es nicht. Auch keine Schwelle, keinen Ausgangspunkt und kein Ziel. Egal, wo ich beginne, es gibt immer ein Davor.


    Elif Shafaks Roman eröffnet nicht nur mit einem "Davor", sondern auch mit einem "Noch Davor", bevor er in die Gegenwart der Erzählung, dem Kapitel "Jetzt" eintaucht. Dieses "Jetzt" währt zehn Wochen und das über rund 400 Buchseiten.

    "Der Bonbonpalast" lebt vom Ornament und zahlreichen Details und bleibt trotzdem fesselnd bis zur letzen Minute. Denn nicht nur die Stadt Istanbul mit ihren aufgeschichteten Kulturen erwacht darin auf sinnliche Weise zum Leben - in Gerüchen, Geräuschen und Bildern. Auch den Romanfiguren hat Elif Shafak schreibend genug Zeit und Raum gegeben, ihr Wesen und ihre Einzigartigkeit zu entfalten. In allen Figuren des Romans, sagte Elif Shafak in einem Interview, stecke etwas von ihr, es seien ihre Seelenverwandten.

    Insbesondere Tantchen Madam lässt sie eine besondere Rolle zukommen - sie wird als Hüterin der Vergangenheit zur geheimnisvollen Schlüsselfigur des Romans.

    Nachdem Tantchen Madam alle Plastiktüten ausgeleert hatte, öffnete sie die Flügeltür zum Balkon und trat hinaus. Die vielen Möwen auf den Dächern der umliegenden Häuser schauten in dieselbe Richtung, als dächten sie an dasselbe. Während Tantchen Madam zu ihnen hinüberstarrte, spielte sie geistesabwesend mit den Anhängern an ihren beiden Halsketten. An der langen baumelte ein Schlüssel, an der kürzeren das strenge Gesicht des heiligen Seraphim.

    Tantchen Madam saß jeden Abend und jeden Morgen auf ihrem Balkon, schaute auf einen braunen Hügel mit kleinen, hässlichen Häusern mit provisorisch gestrichenen Fassaden und lauschte hingebungsvoll wie eine Möwe, die die Stille anbetete, dem Rauschen der Stadt, das der Wind her trug und wieder fortnahm. Wenn ihr jemand auf ihre alten Tage angeboten hätte, noch einmal auf die Welt zu kommen, wie und wo sie wollte, hätte sie sich erneut für ein Leben in Istanbul entschieden, aber dieses Mal nicht als Mensch, sondern als Möwe.


    In ihrem Roman "Der Bonbonpalast" hat Elif Shafak ihre Erzählkunst im Vergleich zu den Vorgängerromanen noch gesteigert. Die von ihr erwünschte Vielstimmigkeit lässt einen zwar zwischendurch innehalten, aus Furcht, die widersprüchlichen Elemente würden sich vielleicht nicht ineinander fügen - doch es gelingt.

    Elif Shafak erzählt so poetisch und mitreißend, dass ihr Buch zu einer mystischen Reise wird, die uns nicht nur die Rätsel des Lebens näher bringt, sondern auch die Wunden und das Wunder des Menschseins.

    Elif Shafak: Der Bonbonpalast
    Aus dem Türkischen von Eric Czotscher
    Eichborn Berlin, 480 Seiten, 19,95 Euro