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Die Beziehung von Sprache und Denken als Minenfeld

Jean Paulhan im deutschen Sprachraum zu etablieren ist über die Jahre immer wieder versucht worden. Mit wenig Erfolg, obwohl er die französische Literatur lange während und nachhaltig beeinflusst hat. Seine literaturtheoretischen Schriften betreiben Grundlagenforschung in essayistischer Form, die es ermöglicht, Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie mit poetologischen Überlegungen zu verknüpfen.

Von Joachim Büthe | 16.11.2009
    Er möchte herausfinden, wie das Denken und die Sprache, die sich gegenseitig bedingen, zusammenhängen und ob sich das Denken selbst beobachten kann. Und er vergisst nicht, dass es da noch etwas gibt, das sich der Analyse entzieht und möglicherweise der Kern der Sache ist.

    "Beim Eingang zum öffentlichen Park von Tarbes sieht man diese Tafel: ES IST VERBOTEN, DEN GARTEN MIT BLUMEN IN DER HAND ZU BETRETEN. Man findet sie heutzutage auch beim Eingang zur Literatur. Und doch wäre es durchaus angenehm, die Mädchen von Tarbes (und die jungen Schriftsteller) eine Rose, einen Mohn oder einen ganzen Bund Mohn in der Hand tragen zu sehen."

    Was entspräche den Blumen im Park im Garten der Literatur? Es sind die Wörter und Sätze, die, schon mitgebracht, in den Verdacht der Entwendung geraten. Schlimmer noch: Sie setzen sich dem Verdacht aus, nur Worte zu sein. Es gibt für den Schriftsteller und den Kritiker zwei Möglichkeiten, sich die Verbindung von Sprache und Denken vorzustellen. Entweder man geht davon aus, dass sich das Denken nur innerhalb der Sprache entfalten kann und schenkt ihrer Form entsprechend hohe Aufmerksamkeit oder man erkennt dem Denken die Priorität zu und die Sprache wäre nur ihr Träger ohne den man leider nicht auskommt. Dann wäre die brillante Formulierung tatsächlich eine Ablenkung: nur Worte. Letztere Position nennt Paulhan terroristisch. Die andere, die rhetorische Position in der Paulhanschen Terminologie, ist ihm zunächst näher. Man kann ihr ohnehin kaum entgehen, auch wenn man sich der in Redewendungen und Wortbildungen eingegangenen rhetorischen Figuren nicht mehr bewusst ist. Aber ganz so einfach ist es nicht.

    "Es gibt Lösungen die seltsamer sind als die Probleme. Denn das Problem war wenigstens nur eine Frage, aber die Lösung wirft hundert Fragen auf. Und gewiss haben wir den Grund des literarischen Paradoxes gefunden: dass nämlich der Terrorist selber jener reine, unendlich sprachfreie Geist ist, nach dem der Rhetoriker rief. Wodurch Terror und Rhetorik beide berechtigt sind; die eine zu sagen, was sie sagt, der eine zu sein, was er ist. Es bleibt eine merkwürdige Schwierigkeit. "

    Ein Teil dieses Paradoxes ist, dass der Terrorist sich gerade wegen seiner sprachkritischen Haltung unablässig mit der Sprache beschäftigt. Die Wurzeln des Terrorismus sieht Paulhan in der Romantik, der man nicht ohne Grund nachsagt, auch am Anfang der sprachexperimentellen Literaturformen des 20. Jahrhunderts zu stehen. Der selbstbewusste Rhetoriker wäre der Klassiker, der wiederum mit ihrer Hilfe die Ideen möglichst rein und unverstellt an den Leser bringen möchte. In seinem Text "Schlüssel der Poesie" stellt Paulhan fest, dass die Dichter sich zwar in ihrer Grundentscheidung, ob sie sich der Inspiration hingeben oder sich auf die Sprache verlassen sollen, diametral unterscheiden, sich dies aber auf die lyrischen Erzeugnisse kaum auswirkt. Zudem entdeckt er noch etwas, nämlich die Grenzen der Analyse der Poesie, obwohl sie partiell möglich ist.

    "Mit der einzigen Abweichung, dass sie sich unserem Zugriff entzieht , unsere Vernunft irre macht, unsere Sprache übersteigt. In uns selber, unvorstellbar; vor unseren Augen, unsichtbar. Dieser Wesenszug der Poesie ist das, was man ihr Mysterium oder ihr Geheimnis nennt. Bald gibt der Kritiker dieses Mysterium zu, und bezeichnet redlich den Punkt, wo seine Analysen ihre Gültigkeit verlieren und seine Gesetze versagen. Bald verrät er es wider Willen, und die Willkür oder Unzulänglichkeit der Regeln, die er uns vorschlägt, liefert den besten Beweis für dieses Mysterium."

    Das ist für Paulhan jedoch kein Grund, das analytische Besteck fallen zu lassen. Seine literaturtheoretischen Schriften umfassen einen Zeitraum von 30 Jahren. Im Nachwort zeichnet Hans-Jost Frey ihre Konstanten nach. Immer geht um die Beziehung von Sprache und Denken und um diese zu klären, geht Paulhan noch einen Schritt weiter oder zurück. Am Anfang steht die Frage, ob das Denken sich selbst denken kann. Um sie zu beantworten, muss das Denken gespalten werden, es teilt sich in das Gedachte, den Gegenstand der Gedanken, und das Gedachtsein. Die Einheit des Denkens ist nur gewährleistet, wenn es nichts von sich weiß. Und die Analyse der Beziehung von Sprache und Denken hat eine blinde Stelle, weil sie beides getrennt denken muss. Hinzu kommt, dass jedes Wort drei Bedeutungen hat. Es bezeichnet einen Gegenstand, eine Idee von ihm und sich selbst, ohne dass diese Bedeutungen sprachlich getrennt wären. Die Beziehung von Sprache und Denken ist ein Minenfeld. Es ist anzunehmen, dass Paulhan sich der Unabschließbarkeit dieser Denkbewegungen bewusst war und der Unvermeidlichkeit der blinden Stellen.

    "Beim Eingang zum Park von Tarbes sah man diese neue Tafel. ES IST VERBOTEN DEN PARK OHNE BLUMEN IN DER HAND ZU BETRETEN. Alles in allem war das eine einfallsreiche Maßnahme, denn die Spaziergänger, die mit ihren eigenen Blumen zurechtkommen mussten, dachten nicht daran, weitere zu pflücken. Wenig später jedoch geschah es."

    Jean Paulhan: "Die Blumen von Tarbes und weitere Schriften zur Theorie der Literatur"
    Hg. und mit einem Nachwort von Hans-Jost Frey, übersetzt von Hans-Jost Frey und Friedhelm Kemp, Urs Engeler Editor, brosch., 363 S., EUR 32,-