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"Die Bibliothek als eine humane Anstalt"

Paul Raabe ist unsportlich. Das sagt er von sich selber. Er war er als Kind und ist es geblieben. Nur so ist erklärlich, dass er in seinem Wohnhaus den eingebauten Swimmingpool trocken gelegt hat, mit Teppichware auslegte und darin seine Sammlung expressionistischer Literatur aufbewahrt. Ins Schwimmen ist er unter den Büchern nicht gekommen. Zielstrebig und mit sportlichem Eifer hat er große bedeutende Sammlungen und Bibliotheken aufgebaut. Ohne seine Arbeit sähe das literarische Gedächtnis der Bundesrepublik anders aus.

Von Michael Köhler | 28.02.2007
    Wie es dazu kam, dass Paul Raabe erst in Marbach am Deutschen Literaturarchiv, dann in Wolfenbüttel an der Herzog August Bibliothek und schließlich in Halle an den Franckeschen Stiftungen so einfluss- und segensreich wirkte, ist nicht Gegenstand seiner Erinnerungen.

    Über diese Arbeit hat er in anderen Büchern Rechenschaft abgelegt. Über die Arbeit an der Herzog August Bibliothek etwa in "Bibliosibirsk oder Mitten in Deutschland. Jahre in Wolfenbüttel", das gerade in zweiter Auflage erschienen ist. Die Zeit in Marbach von 1958 bis 1968 ist Inhalt des Buches "Mein expressionistisches Jahrzehnt. Anfänge in Marbach am Neckar".

    Paul Raabes Erinnerungen, "Frühe Bücherjahre", schildern seinen intellektuellen Weg, seine frühen Lebens-, Lese- und Bildungserlebnisse.

    " Ja, es war natürlich nach dem Kriege, nach dem Abitur 1946 für einen jungen Mann schwierig zu studieren. Das war ganz ausgeschlossen, da war ich neunzehn. Da kamen die Kriegsheimkehrer. Die hatten das Vorrecht zunächst einmal studieren zu können. Da hat meine Mutter ihrem Sohn einen Beruf verschaffen wollen. Gott sei Dank bin ich bei der Bank abgelehnt worden und beim Museum war auch keine Arbeit, aber dann unterm Dach des Schlosses in Oldenburg, befand sich die ausgebombte Landesbibliothek. Und dort habe ich als unbezahlter Praktikant begonnen und dann hat man eine Verordnung im Freistaat Oldenburg, dass man dort einen jungen Mann zum Diplom-Bibliothekar des gehobenen Dienstes ausbilden konnte und so bin ich durch Zufall in die Bibliothek geraten, unter die Bücher geraten und so habe ich den Beruf meines Lebens gefunden."

    Nicht unter die Räder, sondern unter die Bücher ist Paul Raabe geraten: Bibliothekar, Germanist, Philanthrop, Kulturmanager, Bücherfreund, Ausstellungsmacher, Menschenfischer und Bibliotheksretter. Paul Raabe ist alles auf einmal.

    Seine Erinnerungen umfassen drei Jahrzehnte, von 1927 bis 1957, die Jahre der Prägung, des Elternhauses, der frühen Bildungserlebnisse, des Kriegs, der Armut und Not, aber auch des unbedingten Wunsches ein Büchermensch zu werden. Seine Liebe zu Büchern erwachte zufällig und plötzlich in der Schule.

    " Ja sicherlich, ich habe auch Kinderbücher gelesen, aber da zu Hause Schmalhans Küchenmeister war, war das nicht so weit her. Ich habe dann als Zehn- oder Elfjähriger im Zeichenunterricht ein altes Buch abzeichnen müssen uns dieses alte Buch lag in einer Krabbelkiste. Andere holten sich da Würfel und Kästen heraus, und ich habe dieses alte Buch da herausgefischt. Und das habe ich wunderbar abgezeichnet und habe mir das angeschaut und war fasziniert von diesem alten deutsch-lateinischen Lexikon, einem Handwörterbuch von 1796. Und das habe ich von meinem Zeichenlehrer erbeten, der war ganz irritiert und entsetzt, was will dieser Bengel mit so einer Schwarte. Er hat dann im Lehrerzimmer nachgefragt, so habe ich das dann bekommen, was ich auch noch bei mir im Hause habe."

    Paul Raabe wird als Sohn eines Schnitzers, eines Holzbildhauers, geboren und wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Er sammelt bereits als Kind Mineralien und beschreibt sie, stellt ein Verzeichnis seiner kleinen Schätze auf und macht auf dem Wohnzimmertisch eine kleine Ausstellung. Seine Kindheit beschreibt er als eine friedliche Zeit: eine Handwerkeridylle. In der Schule erweist sich der unsportliche Junge bald als ein Bücherwurm. Er ist dreizehn Jahre alt als ihn ein Sportunfall ans Sofa fesselt. So macht er lesend mit Schiller Bekanntschaft. Eigentlich wollte er Bauer werden, dann Apotheker, schließlich sogar Geistlicher.

    " Ja , es war sicherlich ein Zufall. Die verschiednen Berufe, das ging nach dem Apotheker weiter, dann wollte ich Arzt werden, das war gegen Ende des Krieges. Das reichte mir auch nicht mehr, dann wurde ich sehr fromm und wollte Pastor werden, und wurde so fromm, dass ich eigentlich ins Kloster gehen wollte. Davon hat meine Mutter mich abgebracht, dadurch ergab es sich, dass ich dann in der Tat Bibliothekar geworden bin. Das war sicherlich auch ein Zufall, aber wenn ich jetzt zurückdenke und darüber nachgedacht habe in den letzten Jahren, muss ich sagen, es ist auch eine Fügung gewesen, dass eigentlich alles in Erfüllung ging was ich von früher Kindheit an verfolgt habe, die Liebe zum Sammeln, die Liebe zu Büchern, die Liebe zu Sprachen, auch die Liebe Bücher nachzuschlagen, alles das kommt zusammen in einem bibliothekarischen Beruf, den ich dann ergriffen habe. "

    Das Suchen, Erforschen, Verzeichnen, Ordnen und Ausstellen machte ihm Spaß. Auf dem Dachboden der Großmutter findet er ein Konversationslexikon in fünfzehn Bänden. Ein Fund mit lebenslangen Folgen. Raabe schreibt:

    In einer öffentlichen Bibliothek gehört das Konversationslexikon nach wie vor trotz des Internets zu den wichtigsten Nachschlagewerken.

    Als Fünfzehnjähriger wird er noch als Luftwaffenhelfer eingesetzt. Aber ohne Bücher geht es auch dort nicht. Im Geschützsitz liest er Goethes "Werther".

    Ein Dienstvergehen, das ihm eine Strafarbeit einbringt. Er muss einen Aufsatz über die Pflichten des Geschützhelfers schreiben. Der gelingt ihm unterdessen so gut, dass der Text zu Schulungszwecken eingesetzt wird. Er übersteht die Kriegsjahre unverwundet und hält an seiner Liebe zufestigt Büchern fest.

    Paul Raabes Erinnerungen konzentrieren sich fast ausschließlich auf seine "Frühen Bücherjahre", blenden die Zeit, die politischen Ereignisse nicht vollständig aus, aber stark ab. Es vermittelt sich der Eindruck eines gewissenhaften, disziplinierten, verantwortungsvollen aber auch einzelgängerischen Menschen.

    Er hat etwas von einem zahmen Wolf, der, "Der mit den Büchern tanzt". Paul Raabe ist aber kein Kevin Costner der Bibliotheken, er ist viel zu sanftmütig. Geradezu calvinistisch sagt er, erst komme die fleißige Arbeit, dann der Lohn.

    Seine Erinnerungen schildern nicht die "Geschichte einer unseligen Zeit", sondern persönliche Bildungserlebnisse unter widrigen Verhältnissen.

    Der autoritäre Charakter der Zeit drückt sich nur in seiner Erzählung vom herrischen und ungnädigen Hamburger Goetheforscher Hans Pyritz aus, dem Raabe in den frühen Fünfzigern philologisch assistierte und der ihn knechtete.

    Paul Raabes "Frühe Bücherjahre" sind eine Art Bildungs-roman, die Geschichte seliger Lektüre und kultureller Begegnungen. Seine Erinnerungen schildern einen nicht selbstverständlichen Weg von der Schule über den Kriegseinsatz zur Lehre in der Bibliothek von Oldenburg, die Ausbildung in Hamburg, die Promotion über Hölderlin, die Arbeit an und über Goethe. Er bekennt freimütig:

    Die Bewahrung, Pflege und Vermittlung einer Erinnerungskultur habe ich bis heute als eine meiner Lebensaufgaben gesehen.

    Persönlichkeiten wie Paul Raabe sind in Deutschland selten geworden. Sie strahlen auf große Kenntnis und Liebhaberei aus, die ansteckt ohne aufdringlich oder belehrend zu wirken. Wie er spricht, schreibt er auch, niemals protzend, nie hochnäsig. Er ist eine Art Rot-Kreuz-Helfer des Geistes und der Bibliotheken geblieben. Er hat nicht nur ein gewinnendes Wesen, er ist ein Menschenfischer, ein Petrus unter den Philologen, zutiefst von der aufklärerischen Kraft der Bibliotheken überzeugt. So wie es Lessing in Wolfenbüttel war, wo Paul Raabe fast ein Vierteljahrhundert wirkte.

    " Ja, wenn ich von Lessing ausgehen soll, dann habe ich ihn zum Vorbild genommen bei dem Heben von Schätzen. Das war die große Leistung von Lessing, dass er aus den Schätzen der herzoglichen Bibliothek Bedeutendes hervorgehoben hat. ( ... ) Ich werbe nach wie vor für die Bibliothek als eine humane Anstalt."