Dienstag, 19. März 2024

Archiv


Die braune Geschichte Italiens

Erst als 1994 im Keller der römischen Militäranwaltschaft der so genannte "Schrank der Schande" entdeckt wurde, begann die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Italien. Italienische und deutsche Historiker leisten seitdem Entdeckerarbeit.

Von Thomas Migge | 21.01.2012
    "Dieses Buch erzählt die Geschichte der politischen Deportierten aus Italien in deutsche Konzentrationslager zwischen 1943 und 45. Und zwar mit Hilfe von Briefen und Tagebüchern. Wir können quasi Tag für Tag nachlesen, was diese Menschen erlebten, auch dann, wenn sie, wegen der Zensur, zwischen den Zeilen ihre Lebensumstände beschreiben mussten."

    Der römische Historiker Marco Palmieri hat zusammen mit seinem Kollegen Mario Avagliano private Dokumente ausgewertet, die rund 25.000 Italiener betreffen, eine Vielzahl davon waren Frauen, die als so genannte politische Gefangene nach Deutschland deportiert wurden. Nur zirka Zehntausend von ihnen überlebten das KZ-Inferno.

    "Um dieses Buch zu schreiben, haben wir zahllose Originaldokumente studiert, die auf Dachböden und in Kellern lagerten und bisher von niemandem durchgesehen wurden. Das ging natürlich nur mit Hilfe der Nachkommen der Deportierten."

    Die beiden Historiker leisteten Entdeckerarbeit – was aus deutscher Sicht verwundert. Anders als in Deutschland, wo die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit gleich nach Kriegsende begann und nach und nach so gut wie alle Aspekte des Dritten Reiches abdeckte, fand in Italien eine umfassende historische Analyse des Faschismus nur teil- und zeitweise statt. Der am deutschen historischen Institut in Rom forschende Faschismusexperte Lutz Klinkhammer am Telefon:

    "Die faschistische Vergangenheit wurde einerseits aufgearbeitet, andererseits verdrängt, weil die antifaschistische Nachkriegselite sich nicht verantwortlich fühlte für die Verbrechen des Faschismus, und hat deshalb seit 1944 alles getan, um zu zeigen, dass Italien auf der anderen Seite stand, auf Seiten der Alliierten, um das Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland vergessen zu machen."

    Das sieht auch der Berliner Historiker Felix Bohr so. Den italienischen Regierungen der direkten Nachkriegszeit, so Bohr, war daran gelegen, Verfahren gegen deutsche Kriegsverbrecher und auch jene Italiener, die mit den Deutschen kollaborierten, wenn möglich zu verhindern.
    Bohr entdeckte in diesem Zusammenhang im Archiv des Auswärtigen Amtes Dokumente, aus denen hervorgeht, dass die italienische Nachkriegsregierung von Alcide De Gasperi im
    berühmtberüchtigten Fall der Fosse Ardeatine bis hin zu diplomatischen Interventionen direkt an Konrad Adenauer nichts unversucht ließ, um weitere Verfahren zu verhindern. In den Fosse Ardeatine, einer Höhle bei der Via Appia in Rom, waren nach einem antifaschistischen Attentat 335 wahllos von der Strasse weg verhaftete Römer erschossen worden. Ein Massaker, für das 1948 der SS-Offizier Herbert Kappler verurteilt wurde.

    In den vergangenen Jahren wurde im Keller der römischen Militäranwaltschaft der so genannte "Schrank der Schande" entdeckt: Er enthielt die Dokumente zu insgesamt 2274 Fällen von NS-Kriegsverbrechen in Italien. Sie waren 1960, wie es damals hieß, "provisorisch archiviert" worden, was in Wirklichkeit nichts anderes hieß, als dass man sie unter den Teppich kehren wollte. Der Inhalt des Schranks wurde erst 1994 wieder entdeckt. Erst seitdem, aber auch nur langsam, begann die historische Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen in Italien. Felix Bohr:

    "Ich denke schon, dass es ganz klar den politischen Willen gab, diese Kriegsjahre zu verschleiern, beziehungsweise in Vergessenheit geraten zu lassen."
    Ein ungeheurer Vorwurf, auch vorgetragen von einigen italienischen Historikern - zu dem sich die noch lebenden politischen Verantwortlichen jener Zeit, wie zum Beispiel Giulio Andreotti, ein wichtiger Christdemokrat der ersten Stunde, bisher nicht äußerten.