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Die Brieffreundin

Eigentlich fühlt sich der Erzähler, ein 35jähriger Schriftsteller mit Talent und erstem Erfolg, am Ziel seiner Wünsche. Zweifacher Vater, lebt er in einem Dorf am Rande von Paris zusammen mit der - wie er immer wieder betont - "Frau [s]eines Lebens". Seine Alkoholabhängigkeit wird von ihr genauso selbstverständlich hingenommen wie seine nächtlichen Ausflüge in die Natur - bis ihm eines Tages der Brief einer Leserin den Kopf verdreht und er das heimische Glück aufs Spiel setzt.

Christoph Vormweg | 02.08.2002
    Dem Erzähler seines Romans "Die Brieffreundin" hat der 1960 geborene Éric Holder den eigenen Namen gegeben. Das scheint in Frankreich mittlerweile mehr als nur ein Versteckspielchen im Grenzbereich von Dichtung und Wahrheit zu sein. Denn auch die derzeitigen Export-Schlager Michel Houellebecq, Christine Angot und Christine Millet schüren beim Leser mit dieser Strategie die Hoffnung auf autobiographische Intimitäten. Aber so viel vorneweg: Anders als bei Millet & Co. ist bei Éric Holder nicht viel Sex zu erwarten. Dafür trinkt sein Erzähler einfach zu viel Scotch, seinem liebsten "Medikament" und Seelentröster.

    Statt hartem Sex also Säufer-Melancholien. Immer wieder ist der Erzähler "gerührt". Zwar reicht sein Horizont -trotz aller alkoholischen Einnebelung - wesentlich weiter als bis zum eigenen Hosenschlitz. Doch ist der Rückzug aus den größeren gesellschaftlichen Kontexten total: Gegen den Moloch Paris setzt Éric Holder das Dorf und die Natur, gegen die Seilschaften des Literaturbetriebs die Einsamkeit des Schriftstellers, gegen die Rührigkeit des Tages die Stille der Nacht. Mit einem Wort: der Roman "Die Brieffreundin" stimmt unverblümt das Lob der Marginalität an. Und deshalb gibt es für den Erzähler auch nur eine Alternative zur langweilig gewordenen Privatsphäre: nämlich den Aufbau einer neuen. Konkurrenzfähig ist seine Brieffreundin dabei nicht wegen ihres Alters - sie geht auf die fünfzig zu, hat selber Kinder und einen meist abwesenden Workoholic als Mann. Konkurrenzfähig ist sie, weil sie die Literatur und natürlich die Texte des Erzählers liebt.

    Éric Holder beschreibt also eine Seelenverwandschaft, ein - wie es heißt - "komplizenhaftes Einverständnis". Widerstehen kann sein Erzähler da schon deshalb nicht, weil die Brieffreundin seinen Dauersuff nicht nur hinnimmt, sondern deckt. Doch gibt es noch einen tieferen Grund für seinen Ausbruch. Denn er sucht nach einem Stoff für sein nächstes Buch, einen Stoff, den er weder im Scotch-Rausch noch während seiner Natur-Betrachtungen gefunden hat. Und so schließt sich nach einigem Hin und her, nach Eifersuchts-Szenen daheim und Momenten der Nähe mit der Neuen, der Kreis: Die Brieffreundin wird zum Romanthema - und damit zwangsläufig der persönliche Teufelskreis des Erzählers. Denn wer will schon mit jemandem leben, den jede Schreibkrise zum Dauertrinker macht, mehr noch: der für jedes neue Buch die Annäherung an eine neue Frau benötigt?

    Schriftsteller und Alkoholiker - so das Fazit von Donald W. Goodwins als Suhrkamp Taschenbuch vorliegenden Studie "Alkohol & Autor" - sind beides Einzelgänger, Schreiben und Trinken zwei Arten, "nicht allein sein zu müssen." Zur Egozentrik von Éric Holders Erzähler gehört da, dass er dem neuen Buch - ob bewusst oder unbewusst - alles andere, also auch die nächsten Bezugspersonen unterordnet. Solange er nicht den Anfang einer neuen Geschichte gefunden hat, stürzt er seine Familie in Ungewissheit. Doch sobald er ihn hat, stört er sich an den bourgeoisen Manien seiner Brieffreundin und serviert sie ab, um daheim zu retten, was zu retten ist. Mit Moral jedenfalls ist ihm nicht beizukommen. Oder anders ausgedrückt: wäre er zu moralisch, ginge wahrscheinlich auch seine schriftstellerische Phantasie baden.

    Éric Holders Roman "Die Brieffreundin" gehört zweifellos in die Kategorie der Nabelschau. Sein Talent jedoch ist unübersehbar. Denn "der Wüste des Realen", die sein Erzähler beharrlich mit Scotch befeuchtet, entlockt er immer wieder Momente von lyrischer Dichte. Seine Kunst liegt vor allem in der subtilen Beschreibung des Zwischenmenschlichen, der Wechselspiele von Anziehung und Abstoßung im Verhältnis des Erzählers zu seiner Brieffreundin und zu seiner Familie. Ihn stimmt der Alkohol nicht aggressiv und zynisch, sondern sanft und poetisch. Und so landet er nicht - wie so viele Ausbüxer - in der Einsamkeit zwischen den Frauen. Nein, er bekommt eine neue Chance am heimischen Herd.

    So moralinsauer dieses Happy end auch anmutet, es ist gebrochen - der Kompromiss eines Schriftstellers mit seiner eigenen Hilflosigkeit. "Das Glück ist eine große Tasche, in die man alles hineinstopft", heißt es an einer Stelle. Das ist so wahr wie Éric Holders Feststellung, ein Buch habe "die Aufgabe, das Leben zu erfinden".