Freitag, 05. April 2024

Archiv


Die Brücke von Varvarin

Bei dem Krieg im Kosovo geriet nicht die serbische Soldateska ins Visier der NATO-Tornados, sondern irrtümlicherweise und unbeabsichtigt immer wieder auch Zivilisten. Zum Beispiel im serbischen Varvarin, 200 Kilometer östlich von Belgrad: Dort sind die Wunden bis heute nicht verheilt und die Angehörigen der Opfer sind verbittert.

Von Simone Böcker | 24.03.2009
    Es fahren wieder Autos über die Brücke von Varvarin. Marijana Stojanovic sitzt auf einer Bank. Die 25-Jährige mit den langen, blond gefärbten Haaren vermeidet den Blick auf das Wasser. Ihr steht immer noch vor Augen, was hier vor zehn Jahren geschah: Es war ein warmer, sonniger Frühlingssonntag und das Dorf war mit den Vorbereitungen für das orthodoxe Dreifaltigkeitsfest beschäftigt.

    "Ich bin mit meinen zwei Freundinnen Sanja und Marina spazieren gegangen. Wir wollten über die Brücke ins Dorf. Als wir fast in der Mitte angekommen waren, haben wir Flugzeuge gehört. Wir wollten dann schnell über die Brücke laufen. Sekunden später spürte ich in meinem Rücken nur eine fürchterliche Wärme."

    Ein NATO-Kampfjet hatte die Brücke getroffen, die Bomben hatten sie durchtrennt. Die Mädchen fielen mit Trümmerteilen und Mauerbrocken ins Wasser. Menschen strömten aus der nahen Kirche zum Ufer, um zu helfen.

    "Sanja war bewusstlos, Marinas Bein war gebrochen. Ich hatte einen gebrochenen Arm. Wir hatten viele Verletzungen von den Granaten. Wir haben Leute zur Brücke gerufen, aber die waren machtlos, sie konnten nichts tun."

    Da kam das Flugzeug zurück und nahm die Brücke ein zweites Mal unter Feuer. Dieser Angriff forderte eine noch größere Zahl an Opfern - nun traf es auch die Helfer. Zehn Menschen kamen ums Leben, 17 wurden schwer verletzt. Marijana und Marina überlebten die schweren Verletzungen, ihre 15-jährige Freundin Sanja starb kurz darauf im Krankenhaus.

    Im Büro des Bürgermeisters von Varvarin. Zigarettenrauch umgibt Zoran Milenkovic, er ist ein bärtiger, schwerer Mann mit traurigen Augen. Er ist der Vater von Sanja, dem getöteten Mädchen. Seit zehn Jahren kämpft er zusammen mit anderen Hinterbliebenen und Verletzten darum, dass die Bombardierung als Kriegsverbrechen anerkannt wird.

    "Was damals auf der Brücke passiert ist, das war ein Angriff auf die Zivilbevölkerung. Die ganze Region hier hatte überhaupt keine militärische Bedeutung. Von unserem Ort ging keinerlei Gefahr aus. Wir wollen, dass die NATO für diese Ungerechtigkeit zur Verantwortung gezogen wird, auch vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Wenn es Gerechtigkeit geben soll, dann müssen alle angeklagt werden, die Massaker begangen haben - egal wo und wer."

    Im Jahr 2001 verklagten Milenkovic und seine Mitstreiter Deutschland auf Schadenersatz. Der Kern ihrer Klage: Der Angriff habe gegen die Genfer Konvention verstoßen. Der Bundesgerichtshof wies die Klage 2006 jedoch in letzter Instanz ab - Deutschland könne nicht haftbar gemacht werden, da es nicht unmittelbar an dem Geschehen beteiligt gewesen sei, so die Begründung. Zoran Milenkovic will das nicht gelten lassen: Deutschland sei an diesem Krieg beteiligt gewesen, sagt er, mehr noch: Es habe sich an der Ausspähung von Kriegszielen beteiligt. Die NATO verteidigte damals den Angriff, es habe sich bei der Brücke um ein "legitimes militärisches Ziel" gehandelt. Für die NATO seien die Opfer also nur ein "Kollateralschaden" gewesen, meint der Bürgermeister.

    "Sie hätten die Brücke bombardieren können, als keine Menschen da waren. Außerdem war die Brücke doch schon durch die erste Bombe zerstört. Der zweite Angriff wäre gar nicht nötig gewesen. Dass sie ein zweites Mal angegriffen haben, bedeutet für uns, dass sie absichtlich Zivilisten töten wollten."

    Noch immer haben die Angehörigen die Hoffnung, dass irgendwann jemand die Verantwortung für das erlittene Unrecht übernimmt. Bis heute hat keiner der Überlebenden eine Entschädigung, finanzielle Unterstützung oder psychologische Betreuung erhalten. Zoran Milenkovic ist fest entschlossen, die Klage bis vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen.

    "Wir machen das nicht wegen des Geldes. Der Tod meiner Tochter kann nicht mit Geld aufgewogen werden. Aber wir wollen, dass so etwas nie wieder vorkommt. Und Europa soll sehen, dass auch die Serben Unrecht erlitten haben. Es sind nicht nur die Serben, die Kriegsverbrechen begangen haben."