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Die China-Versteher und ihre demokratischen Feinde

Wachsam gegen Diktaturen zu sein und Menschenrechtsverletzungen an den Pranger zu stellen, gehört zu den Lehren der Epochenwende von 1989. Doch leider kann eine Diktatur wie die in der Volksrepublik China hierzulande noch immer mit viel Verständnis rechnen. Essay und Diskurs geht den gängigen Verteidigungsstrategien auf den Grund.

Von Sabine Pamperrien | 10.03.2013
    Helmut Schmidt:
    "Dass der Westen nun meint, das Wichtigste ist, in China die Demokratie einzuführen, das halte ich für ziemlich lächerlich. [ ... ] Heute sind die Amerikaner große Vertreter der sogenannten Menschenrechte. [ ... ] Ich bin absolut dagegen, mit politischem Druck meine Vorstellung von Menschenrechten anderen Völkern mit Zwang zu oktroyieren."

    Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt erntet regelmäßig großen Beifall für seine klaren Worte. Wie hier im Jahr 2011 bei einer Podiumsdiskussion der Körber-Stiftung, in der es um die Rolle Chinas in der Weltpolitik ging. Schmidt war nach politischer Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen in China gefragt worden. Sogar für das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens vom Juni 1989 bringt er noch heute verständnisvolle Töne auf. Er positioniert sich damit bewusst gegen die nach seiner Meinung einseitige Berichterstattung in den hiesigen Medien.

    Erstens: Der konspirative Generalverdacht des China-Bashings.

    Helmut Schmidt lehnt rigoros jegliche westliche Einmischung in die repressive Politik der chinesischen KP gegenüber der eigenen Bevölkerung ab. Er widerspricht vehement der Mehrheitsmeinung, das chinesische Regime müsse mit Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten unter Druck gesetzt werden. Doch Schmidt steht, wie sich noch zeigen wird, mit seiner unkritischen Haltung gegenüber dem KP-Regime in Peking keineswegs allein.

    Sein Wort ist gewichtig, weil er der Deutschen liebster Lehrmeister ist. Wenn es um China geht, kann sich der "Zeit"-Herausgeber sogar noch auf seinen eigenen Sachverstand berufen. Der SPD-Nestor gilt nämlich als exzellenter China Kenner, seit er 1975 der erste Kanzler der Bundesrepublik war, der China und dessen politischem Führer Mao Zedong einen Staatsbesuch abstattete.

    Seither bereiste Schmidt immer wieder das asiatische Riesenreich. Seine Reputation ließ ihn zum viel zitierten Kronzeugen einer Gruppe von China-Experten werden, die wie er die immer wieder monierte Selbstgerechtigkeit und Selbstüberschätzung des Westens im Umgang mit China beklagen und eine gelassenere Kommunikation mit dem Regime anmahnen. Oft wird in aufgesetzter Hilflosigkeit auf die Analyse des Kronzeugen Schmidt verwiesen, wenn es darum geht, Kritik am politischen System Chinas und dessen permanenten Menschenrechtsverletzungen zurückzuweisen. Auch einige seiner Parteifreunde raten zur Zurückhaltung, sei es unter Berufung auf alte entspannungsdiplomatische Grundsätze, auf die chinesische Kulturgeschichte oder auf einen sozial zurechtgebogenen Freiheitsbegriff. So klagte zum Beispiel der der Politikwissenschaftler Thomas Meyer im Olympiajahr 2008:

    "Das sich allmählich als einheitlicher Grundton unserer Massenmedien einspielende China-Bashing verbaut die Chancen zum Kennenlernen des widerspruchsvollen Landes und seiner wirklichen Aufbruchprozesse."

    Meyer, seit Jahrzehnten Theorie-Funktionär der SPD, zählt zu jenen China-Experten, die im Namen einer "differenzierteren Betrachtung" auf Verständniswerbung für das Regime gehen. So auch im Streit um die unkritische Berichterstattung in der chinesischen Online-Redaktion der "Deutschen Welle" im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008, wo er in einem alarmistischen Rundschreiben eine ganze Reihe deutscher Sinologen und Freunde aus dem linksintellektuellen Milieu um sich scharte, die sich einem wahren Bollwerk vorgefasster Meinungen in den deutschen Medien gegenüber sahen. In einem Offenen Brief hieß es dazu:

    "Es sollen diejenigen Journalisten, Wissenschaftler und Politiker diskreditiert und eingeschüchtert werden, die in sorgfältig recherchierten Berichten und Analysen auf die vielfältigen und widersprüchlichen Facetten der Entwicklung Chinas hinweisen wollen und das Land eben nicht schlicht als "Schurkenstaat" betrachten. Das angestrebte Ziel ist offenkundig die Unterbindung jeder um Differenzierung bemühten öffentlichen Kommunikation über die Entwicklung Chinas in Journalismus und Wissenschaft und die Verpflichtung aller öffentlichen Akteure dieses Bereichs auf eine pauschale negative Berichterstattung über China."

    China-Bashing, einseitige Berichterstattung, Unkenntnis der tatsächlichen Lebensverhältnisse in der Volksrepublik und Ignoranz gegenüber der 5000-jährigen chinesischen Geschichte und Kultur lauten die Vorwürfe. Gerichtet sind sie nicht nur gegen deutsche Medien und einen als weit verbreitet beobachteten anti-chinesischen Rudeljournalismus, sondern auch gegen die Menschenrechtspolitik der USA und ihrer deutschen Verbündeten.

    Chinesische Oppositionelle geraten dabei in die Kritik. Vom Aktionskünstler Ai Weiwei wird behauptet, dass er nur ein eitler Selbstdarsteller sei. Der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, Verfasser der Charta 08 und dafür zu elf Jahren Gefängnis verurteilt, sei in China völlig unbekannt und eine reine Projektionsfläche missionarischen Eifers im Westen. Der inzwischen in Deutschland lebende Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Liao Yiwu verbreite schlichtweg Unsinn über China und bringe sich und seine Gesprächspartner nur durch scharfe hausgebrannte Schnäpse zum Reden.

    Alle drei prominenten Dissidenten verbinde, dass sie geschickt die Vorurteile des Westens gegen China zum eigenen Vorteil bedienten. Älteren Dissidenten wie den in den USA lebenden Wei Jingsheng und Harry Wu wird vorgehalten, dass sie vom modernen China keine Ahnung hätten, weil sie schon seit über zwanzig Jahren im Ausland lebten. Dass hochrangige Politiker wie Nancy Pelosi, die langjährige Sprecherin des USA-Repräsentantenhauses, sich von Wei oder Wu beraten ließen, hätte zu einer falschen Politik der USA gegenüber China geführt.

    Um die fragwürdigen Argumente der, nennen wir sie: China-Versteher, soll es im folgenden gehen. Darunter sind solche Freunde des Riesenreiches zu sehen, die sich in der Grauzone zwischen Visum und Wahrheit bewegen und Freiheitsforderungen aus dem Westen kulturrelativistisch zurückzuweisen versuchen. Außerdem changieren sie bei der Verteidigung der Volksrepublik zwischen alten entspannungspolitischen Floskeln und unverhohlenen Modellerwartungen an die Veränderungen im Land. Wohlbemerkt: China-Versteher gibt es nicht nur unter linken Politikern und Publizisten, sondern auch unter mächtigen Männern der Wirtschaft, die durch Menschrechtsinterventionen ihren blühenden Handel unnötig gefährdet sehen.

    Zweitens: Das Gebot der Nichteinmischung oder: Die Duldbarkeit von Diktaturen

    Helmut Schmidt begründet seine strikte Forderung nach politischer Neutralität mit dem Hinweis auf das Völkerrecht und dem geltenden Gebot der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Auch die chinesische Regierung beruft sich darauf. Die als UN-Menschenrechtscharta bekannte Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 wird kaum ernst genommen, da sie als rechtlich unverbindlich gilt. In der Tat handelt es sich nur um eine Resolution, kein Gesetz.

    Für Schmidt hat damit - und das hat er in zahlreichen gleichlautenden Statements wiederholt - das Gebot der Nichteinmischung juristisch absoluten Vorrang. Der in gewohnter Schmidt-Manier apodiktisch vorgetragene Hinweis hat allerdings einen kleinen Schönheitsfehler. Das von ihm als Norm des Völkerrechts verstandene Gebot der Nichteinmischung ist gar nicht kodifiziert. Es wird aus dem Souveränitätsbegriff der Charta der Vereinten Nationen abgeleitet und gehört zum Völkergewohnheitsrecht. Dem Völkergewohnheitsrecht werden aber inzwischen auch weitgehend die Menschenrechte zugeordnet.

    Folglich kann es zu Kollisionen beider Rechte kommen, die eine rechtliche Einordnung notwendig machen, um Rechtsbrüche wie rechtsfreie Räume auszuschließen. Deshalb wurde vor über zehn Jahren mit dem Begriff der "internationalen Schutzverantwortung" eine Neudefinition des Souveränitätsbegriffs der Charta der Vereinten Nationen entworfen. Danach sind Menschenrechte nicht innere Angelegenheiten von Staaten, sondern supranationales Recht. Auch das ist nicht kodifiziert, setzt sich gewohnheitsrechtlich aber immer mehr durch.

    Helmut Schmidt übersieht, dass das Völkerrecht sich permanent fortentwickelt hat. In juristische Begriffe gefasst heißt das: Zum jetzigen Zeitpunkt ist Schmidts Meinung eine sogenannte Mindermeinung. Insbesondere bedeutet die von Schmidt monierte Einmischung nach herrschender Ansicht keinen Rechtsbruch. Bei diesem juristischen Problem handelt es sich im übrigen keineswegs um einen im Elfenbeinturm geführten Expertenstreit. Der Sachstand der Diskussion lässt sich in aktuellen Ausarbeitungen des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags nachlesen.

    Vergessen wir nicht: Das Gebot der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten war während der Zeit der Ost- und Entspannungspolitik die zentrale Abwehrkeule, derer sich kommunistische Machthaber bedienten, wenn sie an das Schicksal von inhaftierten oder ausgewiesenen Dissidenten im eigenen Land erinnert wurden.

    Drittens: Der Kotau vor dem Riesenreich und das Klischee von der Verlogenheit des Westens

    "Alles Heuchelei!" lautet der nächste Vorwurf. China-Versteher Tilman Spengler etwa, der seit Jahrzehnten als Sinologe und Schriftsteller das China-Bild der Deutschen maßgeblich mitbestimmt hat, klassifiziert die aktuelle Kritik an den Zuständen in China als selbstgerecht und verlogen. In einem Beitrag für das Monatsmagazin "Cicero" resümiert er:

    "Plötzlich führen sich die Chinesen auf, wie die meisten anderen sich aufführen in unserer Weltgemeinschaft. Sie unterhalten heimliche Staats- oder Foltergefängnisse, sie brechen Verträge und lügen in aller Öffentlichkeit. Sie verpesten die Umwelt, horten heimliche und öffentliche Devisen, überziehen das Land mit Abhöranlagen, missachten die Rechte des Bürgers, respektieren nicht einmal die grundsätzlichen Forderungen der Französischen Revolution, die wir doch so dringend benötigten, um unsere Menschenrechte zu legitimieren. Anders gesagt: Die Chinesen sind in der Moderne angekommen und vielleicht ist es das, was uns am meisten nervös macht - in unserer eigenen Blase der Selbstgerechtigkeit und aufgeklärten Selbstüberschätzung."

    Spengler nennt die Vereinigten Staaten von Amerika nicht namentlich. Doch lässt sich unschwer erkennen, dass er auf Guantanamo anspielt und die ganze unglücksselige Doppelzüngigkeit amerikanischer Machtpolitik. All das - und da transportiert sein Diktum traditionelles und abgestandenes antiamerikanisches Ressentiment - passt nicht mit dem moralischen Anspruch der Amerikaner zusammen.

    Dennoch sind es die US-Amerikaner, die sich auf der Ebene politischer Intervention am vehementesten für die Bürgerrechte in China stark machen. Und ja nicht nur dort. Jeder, der auf gleicher Linie mit den USA argumentiert, kontaminiert damit den eigenen moralischen Anspruch und führt ihn ad absurdum, will uns das sagen. Angegriffen werden mit solchen Sottisen alle, die sich für die Achtung der Menschenrechte einsetzen. In dieser ganz speziellen Denke macht sich jeder unglaubwürdig, der nicht zuerst die USA wegen Guantanamo und der Todesstrafe attackiert, bevor er Menschenrechtsverletzungen in China anprangert . Jeder - nicht nur Politiker.

    Spengler ist Schriftsteller. Er weiß mit Worten umzugehen, sollte man meinen. Es hat also etwas zu bedeuten, wenn er umständlich von den "grundsätzlichen Forderungen der Französischen Revolution" schreibt, die wir - Zitat "doch so dringend benötigten, um unsere Menschenrechte zu legitimieren". Das ist pure Ironie. Menschenrechte müssen nicht legitimiert werden. Das macht doch gerade ihre Bedeutung aus. Als universelle Rechte sind sie allgemeingültig.

    Die Französische Revolution führte allenfalls dazu, dass erstmals die Menschenrechte in den heute noch gebräuchlichen Begriffen formuliert wurden. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Spengler verkleinert die Idee zur Episode. Menschenrechte: Alles selbstgerechte Produkte westlicher Selbstüberschätzung. Das passt in eine Linie mit Kritik, wie sie unter anderem der DDR-Dramatiker Heiner Müller in der Tradition von Kolonialismus-Kritikern wie Frantz Fanon formulierte. Danach sind die Menschenrechte Erfindungen des Imperialismus zur Unterdrückung anderer Völker.

    Ganz so offen mag Spengler das wohl nicht sagen. Er lässt sich durch seine verschwiemelten Formulierungen das Hintertürchen offen, behaupten zu können, er habe ja etwas ganz anderes gemeint. Das könnte für ihn immer dann wichtig werden, wenn er als Mitglied des deutschen PEN in offizieller Mission zur Verteidigung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und körperliche Unversehrtheit unterwegs ist.

    So zum Beispiel als er zur Verleihung des Hermann-Kesten-Preises des PEN an den späteren Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo die Lobrede halten durfte. Dabei leistete er sich gönnerhafte Töne gegenüber den Forderungen nach Demokratie und Menschenrechten, für die Liu zu elf Jahren Haft verurteilt wurde.

    Fast ein Treppenwitz ist der Umstand, dass Spengler durch seinen Auftritt für den PEN in den für Expertenkarrieren überaus förderlichen Genuss eines Einreiseverbots nach China kam. Nun lässt er sich in die öffentliche Debatte als "der, der ausgeladen wurde" einführen.

    Doch es gibt noch ein weiteres Argument, mit dem ein differenziertes Urteil über China eingefordert wird.

    Viertens: Die halbierte Freiheit oder: Die soziale Hierarchisierung der Menschenrechte

    Die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin moniert zwar gravierende Verletzungen von Freiheitsrechten in China. Doch sind Freiheitsrechte, so die frühere Vorsitzende des Bundestagsmenschenrechtsausschusses, ohne soziale Rechte "nur die Hälfte wert".

    Zur Verwirklichung der sozialen Menschenrechte habe China in den vergangenen Jahrzehnten aber Erstaunliches geleistet. Auch dieses Argument wird besonders gern von der KP gegen Kritik an der Menschenrechtslage in China vorgebracht. Tatsächlich hat sich die wirtschaftliche Situation von Millionen Chinesen seit der Öffnung unter Deng Xiaoping verbessert.

    Allerdings ist das nicht zwingend das Ergebnis einer auf die Verwirklichung sozialer Menschenrechte ausgerichteten Politik, sondern bloßes Nebenprodukt einer ungehemmten wirtschaftlichen Expansion. Die hat China nicht nur ein Wirtschaftswunder beschert. Spitze ist China auch bei der Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Der Ginikoeffizient, mit dem die Weltbank die Ungleichheit bei den Einkommen misst, hat bereits im Jahr 2000 die kritische Schwelle von 0,4 überschritten. Alles darüber bedeutet eine Gefährdung des sozialen Friedens. Im November 2012 wurde eine Studie aus China publiziert, die für 2010 einen Wert von 0,61 errechnet hat. Damit liegt China weit vor den Vereinigten Staaten einsam an der Weltspitze der sozialen Ungerechtigkeit.

    Chinesische Oppositionelle halten dem Argument von der Verbesserung der sogenannten sozialen Menschenrechte gern entgegen, dass die Fürsprecher der KP doch wenigstens in Erwägung ziehen sollten, wer die Not im Land verursacht hat und wo China stehen könnte, wenn nicht 40 Jahre jegliche Modernisierung durch die KP verhindert worden wäre.

    Die Hierarchisierung der Menschenrechte gehört zur Taktik der KP. Es ist aus Sicht der Propaganda nicht ganz ungeschickt, die in der westlichen Linken diskutierte Kollision von Freiheitsrechten und Gerechtigkeit zu instrumentalisieren. Nur: Das Knüpfen von Menschenrechten an sozialökonomische Voraussetzungen trägt überhaupt nicht. Denn soziale Errungenschaften sind gegen Bürgerrechte vom Staat wie die Presse- und Meinungsfreiheit nicht in Stellung zu bringen.

    Helmut Schmidt geht der Diskussion um Menschenrechte anders aus dem Weg. Er sagt völlig unmissverständlich, dass er wenig von der Idee der Menschenrechte hält. Als Giovanni di Lorenzo ihn in einem Interview für die "Zeit" daran erinnerte, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte eine Reaktion auf die Schrecken des zweiten Weltkriegs gewesen sei, entgegnete Schmidt trocken, er sei kein allzu begeisterter Anhänger der Vereinten Nationen. Dann fuhr er fort, dass seine Kenntnis der chinesischen Geschichte und Kultur ihn zu der Schlussfolgerung kommen ließ, dass die Menschenrechte der chinesischen Kultur fremd seien.

    "Die Menschenrechte sind der chinesischen Zivilisation bisher nicht inhärent."

    Grundsätzlich bestreitet er damit die Universalität der Menschenrechte. Er stellt ganz klar heraus, dass es sich bei Kapitalismus, Demokratie und Menschenrechten um europäische Errungenschaften handelt, zu denen andere Zivilisationen nicht gezwungen sein sollten. Schon Ende der 90er-Jahre sagte er:

    "Mir kommt es so vor, als verstünden die Europäer diese drei Elemente als etwas, was überall anzuwenden ist. Und natürlich nehmen ihnen das die Chinesen und die Leute in Singapur und eine Menge anderer Völker, zum Beispiel in der arabischen Welt, nicht ab. Sie sind bereit, die Industrialisierung zu übernehmen, aber sie sind nicht bereit, die Demokratie zu übernehmen, und sie sind nicht bereit, die Menschenrechte zu übernehmen."

    Fünftens: Der Konfuzianismus als Alternative zum westlichen Menschenrechtskonzept

    Auch die Feststellung, die Menschenrechte seien der chinesischen Kultur nicht inhärent, hält keinerlei Überprüfung stand. Schmidt begründet sein Urteil mit dem Konfuzianismus, dessen intimer Kenner er zu sein denkt und - was schwerer wiegt - als dessen Kenner er sich in der öffentlichen Meinung etabliert hat. Danach ist der Konfuzianismus eine ganz spezielle Pflicht-Ethik, die seit Jahrtausenden das geistige wie materielle Leben der Chinesen bestimmt: der Pflicht zum uneingeschränkten Gehorsam, dem individuelle Rechte fremd sind. China-Versteher Schmidt:

    "Das Menschenrechtskonzept vernachlässigt, ja ignoriert die Bedeutung persönlicher Tugenden, von Verantwortungsbewusstsein und Verpflichtung gegenüber Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat. [ ... ] Konfuzianismus bedeutete Pflichterfüllung. Man musste den Befehlen von oben gehorchen. [ ... ] Im Konfuzianismus gab es keine Freiheit des Individuums. Niemand durfte für sich allein entscheiden. Natürlich ist der Konfuzianismus ein gutes sittliches Erbe, aber er taugt wenig für ein Verständnis der individuellen Rechte, wie sie den westlichen Demokratien zugrunde liegen."

    Der auf Menschenrechte und chinesische Philosophie spezialisierte Erkenntnistheoretiker Gregor Paul hat schon 1998 in einer Studie das, wie er es nennt: "Märchen vom spezifisch konfuzianischen Menschenrechtsverständnis" widerlegt. Es wirft einen ganz anderen Blick auf den Vorwurf der Mainstreamhörigkeit, dass Paul und der ehemalige "Handelsblatt"-Chefredakteur Bernd Ziesemer, selbst Sinologe, mit ihrer wissenschaftlich fundierten Kritik an der Konfuzianismus-These seit Jahren in der öffentlichen Debatte ignoriert werden. Sowohl Paul als auch Ziesemer stellen heraus, dass es sich bei dem durch Schmidts Expertise weit verbreiteten Konfuzianismus-Verständnis, um eine neokonfuzianische Verkürzung handelt. Ziesemer nennt das Konfuzius-Konfusion:

    "Das, was wir in der heutigen Debatte Konfuzianismus nennen, ist allerhöchstens die vierte oder fünfte Ableitung des ursprünglichen philosophischen Werks. Es geht nicht um die ursprünglichen Ideen des Meisters Kong, sondern um Neoneoneokonfuzianismus. Wechselnde Dynastien und Herrschaftssysteme bis hin zur heutigen kommunistischen Partei Chinas haben sich über die Jahrhunderte konfuzianischer Gedanken bemächtigt und sie in ihrem Sinne verarbeitet und für ihre Zwecke verdreht."

    Daran, dass Konfuzianismus weiterhin als "gesetzt" vermittelt wird, könnte eine Neuerscheinung vom letzten Jahr etwas ändern. Die als neues Standardwerk gelobte "Geschichte Chinas" des Hamburger Sinologen Kai Vogelsang räumt mit Vorstellungen von einer durchgängig konfuzianischen Geschichte Chinas und der damit verbundenen Erzählung von der einheitlichen chinesischen Kultur gründlich auf.

    "China und die Chinesen sind Geschöpfe der Geschichtsschreibung. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat die Erzählung von der Ausbreitung einen autochthonen Kultur, die alle Kraft aus sich selbst schöpfte, Stück um Stück untergraben.[ ... ] Die scharfe Abgrenzung Chinas nach außen ist ebenso ein Mythos wie die Entgrenzung im Inneren. Das chinesische Einheitsreich war ethnisch und kulturell nie einheitlich."

    Das Selbstverständnis als große Nation mit 5000-jähriger Geschichte entpuppt sich als Konstrukt. Schon deshalb ist jede vereinheitlichende Festlegung auf ein speziell chinesisches Ethos eine künstliche Angelegenheit, damit auch die aktuelle Version. Die Wiederentdeckung des Konfuzianismus durch die KP ist nichts weiter als eine weitere Manipulation des Blicks auf den Vielvölkerstaat mit seiner vielschichtigen und widerspruchsvollen Geistes- und Kulturgeschichte, der China eigentlich ist.

    Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, wie perfide es von den deutschen Kritikern Liao Yiwus ist, ihn wegen seiner Friedenspreisrede des Unsinns zu bezichtigen, als er eine Zerschlagung Chinas forderte. Nicht er kennt die chinesische Geschichte nicht, sondern seine Kritiker.

    Bisher wurde die chinesische Geschichte anhand von Texten gelehrt, die - wie Vogelsang schreibt - mehr als ein Jahrtausend mündlicher und handschriftlicher Überlieferung durchlaufen haben, mit allem, was dazu gehört: fahrlässigen Verderbnissen, wohlgemeinten Umgestaltungen und orthodoxen Vereinheitlichungen. Vogelsang:

    "Dass sie sich auf diese Literatur gestützt haben, war vor allem dem Mangel an Primärquellen geschuldet. Erst im 20. Jahrhundert wurden Primärquellen in größeren Mengen verfügbar. Sie bieten eine differenziertere Perspektive, die weniger die Einheit als die Vielfalt der Geschichte in den Fokus rückt; und sie machen deutlich, wie stark das überlieferte Geschichtsbild perspektivisch gebrochen und verkürzt ist."

    Zu welchen falschen Schlüssen das führt, zeigen Behauptungen wie die des China-Verstehers Thomas Meyer, dass China das "soziale Laboratorium der Zukunft" sei, Die konfuzianische Mischung aus Disziplin und Leistungsbereitschaft bringe China voran. Folgerichtig schlägt er den ökonomisch gestrandeten Kubanern zum 50. Jahrestag ihrer Revolution 2009 das chinesische Exempel vor.

    "Nun reden viele vom ‘chinesischen Weg‘. Ein Autoritarismus, der Raum für Märkte und für Wohlstand schafft, ohne sich selbst zur Disposition zu stellen, dabei aber Raum für kleine, mitunter auch größere Spielräume für Diskussionen und abweichende Meinungen, für zivilgesellschaftliche Selbstbetätigung und Wissenschaft und vor allem auch für eine Öffnung des Landes nach draußen schafft und der vom Rest der Welt lernt."

    "Ohne sich selbst zur Disposition zu stellen" ist wohl der Kernsatz dieses politischen Modells, das von einem sozialdemokratischen Vordenker aus Deutschland Fidel Castro und Co. zum Erhalt ihrer Macht empfohlen wird. Konzessionen werden nur zum Machterhalt gemacht.

    Wie die Realität in Sachen Freiräume in China aussieht, konnte die Welt seit dem Tag der Verhaftung Liu Xiaobos in aller Öffentlichkeit verfolgen. Elf Jahre Haft dafür, dass er das Regime zur Einhaltung der eigenen Gesetze aufforderte. Liu zeigte mit dem Finger auf die Wunde: Mit der neuen Gesetzgebung zum Verbot der Anonymität im Internet wird George Orwells Zukunftsvision vom totalen Zugriff auf den Bürger Wirklichkeit. Im Januar wagten einige Journalisten den Protest gegen die Zensur. Es folgten Verhaftungen.

    Man muss weit zurückgehen in der Geistesgeschichte der Bundesrepublik, um die Sonderrolle Chinas für viele deutsche Intellektuelle zu begreifen. Hans Werner Richter, der Gründer der Gruppe 47, notierte schon in seinen Tagebuchaufzeichnungen der 60er- und 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts, wie naiv er die Begeisterung jüngerer Zeitgenossen für Maos Kulturrevolution fand. Was machte das Faszinosum aus? Der WELT-Kolumnist Alan Posener war, wie Bernd Ziesemer, in den 1970er-Jahren maoistischer Kader. Er erinnert sich:

    Alan Posener:
    "Wir haben gesagt, ja, die Weltrevolution muss kommen. Und da gibt es objektive Notwendigkeiten. Im internationalen Maßstab muss eine anti-imperialistische Front gegen die beiden Supermächte Sowjetunion und USA gebildet werden. Und da haben wir auch, sagen wir der chinesischen Linie gefolgt. Wenn man einmal gesagt hat, der Hauptwiderspruch regelt alles, und der Hauptwiderspruch ist der zwischen den revolutionären Völkern der Welt und dem sowjetischen Sozialimperialismus und dem US-Imperialismus, dann verschwinden die moralischen Maßstäbe. Dann fängt man selbst im Kleinsten an, alles abzuleiten von der Weltrevolution."

    Es ist kein Zufall, dass sich die heutigen China-Versteher ihre Feindbilder aus dieser nun schon uralten ideologischen Konfrontation beziehen. Neu ist nur, dass nun Demokratie und Menschenrechte für den Imperialismus stehen. Der anti-freiheitliche Reflex ist ganz der alte. Mit der Usurpation konfuzianischer Ethik - beziehungsweise, was sie dafür halten - füllen die alten Autoritären ihr moralisches Vakuum ideologisch auf. Endlich haben sie - ihrer Meinung nach - eine tragfähige Alternative zur westlichen Demokratie und dem westlichen Menschenrechtskonzept gefunden. Gregor Paul stellt kritisch heraus, dass laut chinesischen Gelehrten deshalb

    " ... Politik kein Bereich ist, in dem Menschen miteinander verhandeln, um ihre Interessenkonflikte zu lösen, sondern ein Geschäft, eine moralische Gemeinschaft herzustellen, die ihre Mitglieder in Richtung auf volle Menschlichkeit hin kultiviert, bereichert und erzieht."

    Die regierende KP ist mit ihrer konfuzianischen Pflichtauffassung das Vorbild solchen Autoritätsdenkens. Das, was in der chinesischen Propaganda als "Harmonisierung" der Gesellschaft vermittelt wird, wird als bare Münze genommen. Der in diesem Sinne als weise Autorität rezipierten KP wird zugetraut, alle Probleme des Landes zum Vorteil aller Chinesen lösen zu können. Nur so ist die unverhohlene Bewunderung für das Regime zu verstehen. Dabei ist diese vermeintliche Weisheit, wie gezeigt wurde, ein rein ideologisches Konstrukt.

    Ein Weiser unserer Tage kritisierte schon vor Jahren die unkritische China-Tümelei westlicher China-Experten. Der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo schreibt:

    "Die Idealisierung der chinesischen Kultur durch Menschen aus dem Westen mag als persönliche Entscheidung durchgehen, aber als Methode und Waffe zur Lösung der Probleme der Menschheit kann sie nur zu einem Rückschritt führen. [ ... ] Natürlich sind solche Westler in der Hauptsache die von einem extremen Utilitarismus beseelten sogenannten Sinologen. Als Touristen loben sie die chinesische Kultur aus Neugier auf fremde Dinge. Diese Westler, die die moderne Zivilisation genossen haben und diesen Genuss nie werden aufgeben können, brauchen ein Regulativ, um ihren Appetit anzuregen."