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Die deutsche Bildungsreform

Die schlechte Qualitäts- und Leistungsbilanz unseres Schulsystems, die geringe Akademikerquote, die hohe Zahl der Bildungsabbrecher und die skandalöse Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft: Obwohl diese Defizite unseres Bildungssystems in erheblichem Maße strukturbedingt sind, stehen die Strukturen selbst kaum zur Diskussion.

Von Joachim Weiner | 08.03.2009
    Joachim Weiner ist Bildungssoziologe und Veranstaltungsmacher. In zahlreichen Publikationen hat er in den vergangenen Jahren den Stand der bildungspolitischen Diskussion in Deutschland reflektiert und ist dabei als prononcierter Kritiker der hiesigen Verhältnisse in Erscheinung getreten. Außerdem veröffentlichte er in Hörfunkbeiträgen die mehrteilige Serie "Leitbilder der Leistungsgesellschaft".

    Im ersten Teil seines Essays schrieb Weinter über: Erstarrte Fronten in der deutschen Bildungsreform.


    Die deutsche Bildungsreform
    Teil 2: Exzellenz und Effizienz
    "Durch das Schulsystem werden schon zehnjährige Kinder - und in der Regel definitiv - in Leistungsgruppen eingewiesen, die durch das Berechtigungswesen einer entsprechenden Gruppierung den sozialen Positionen zugeordnet sind. (...) Die Schule ist deshalb ein sozialpolitischer Direktionsmechanismus , der die soziale Struktur stärker bestimmt als die gesamte Sozialgesetzgebung der letzten 15 Jahre."

    Diese Sätze, die sich beim oberflächlichen Hinhören wie ein Kommentar zur PISA-Studie ausnehmen, stammen von dem Pädagogen Georg Picht aus dem Jahre 1964. Veröffentlicht wurden sie unter dem Titel "Die deutsche Bildungskatastrophe" in der Wochenzeitung "Christ und Welt".

    Jene Kritik an dem bildungspolitischen Konservativismus des Bildungssystems löste damals eine breite öffentliche Reformdebatte aus, die nach ihrer Radikalisierung durch die studentische Protestbewegung, zu Beginn der 70er-Jahre, in eine umfangreiche Reform der Schulen und Hochschulen einmündete.

    Die empirische Basis für Pichts Kritik am damaligen Bildungssystem bildete eine 1963 von der OECD veröffentlichte Untersuchung über den Bedarf an wissenschaftlichem und technischem Personal in den OECD Ländern, die u.a. eine Statistik enthielt, die eine alarmierende Rückständigkeit des deutschen Bildungssystems zu belegen schien.

    In dieser Statistik, in der Deutschland weit unten rangierte, waren nicht nur für jedes Land die jährliche Zahl der Schüler aufgelistet, die bis 1959 die Schule mit der Befähigung zum Hochschulstudium verlassen hatten, sondern auch die von den einzelnen Ländern bis 1970 geplanten Steigerungsraten der Studenten.

    Gestützt auf diese und einige andere statistische Daten, die den deutschen Schülern ein geringeres Bildungsniveau als ihren Altersgenossen in den übrigen europäischen Ländern attestierten, prognostizierte Picht für die nächsten Jahre einen erheblichen Fachkräftemangel für Deutschland. Diesen lastete er vor allem dem dreigliedrigen Schulsystem an, dessen rigide Sozialauslese er als eine ungeheure Verschwendung der vorhandenen Begabungsreserven betrachtete. Sie galt es durch eine umfassende Reform des Bildungswesens freizusetzen, um die internationale Wettbewerbfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu erhalten und den im Zuge des Wirtschaftswunders erreichten Wohlstand zu sichern.

    Seine Forderung nach dem systematischen Ausbau von Schulen und Hochschulen, einer Verlängerung der Pflichtschulzeit, der merklichen Erhöhung der Zahl der Lehrer und der Steigerung der Abiturientenzahlen, begründete Picht aber nicht nur ökonomisch. In seinen Augen verstieß das damalige Bildungssystem auch gegen das demokratische Prinzip der sozialen Gerechtigkeit.

    "In der modernen "Leistungsgesellschaft" heißt soziale Gerechtigkeit nicht anderes als gerechte Verteilung der Bildungschancen ; denn von Bildungschancen hängen der soziale Aufstieg und die Verteilung des Einkommens ab. (...) Der gesamte soziale Status, vor allem aber der Spielraum an persönlicher Freiheit, ist wesentlich durch die Bildungsqualifikationen definiert, die von dem Schulwesen vermittelt werden."

    Die durch Picht angestoßene Bildungsreformdiskussion führte in der ersten Hälfte der 70er-Jahre zu einer bis dahin beispiellosen Bildungsexpansion. Die Bildungsausgaben wurden verdoppelt, neue Universitäten und Schulen entstanden und die Zahl der Lehrer, Abiturienten und Studenten konnte erheblich gesteigert werden. Die Zwergschulen auf den Dörfern legte man zu Mittelpunktschulen zusammen, und der Aufbau von Gesamtschulen konnte trotz massiver Widerstände vorangetrieben werden. Die Kultusbürokratie wurde modernisiert und die Bildungsplanung verbessert. Darüber hinaus wurden auch neue, der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung Rechnung tragende Curricula, Lehrpläne und Unterrichtsmethoden erarbeitet.

    Mitte der 70er-Jahre aber kam die Bildungsreform aufgrund fehlender Finanzmittel und massiver ideologischer Auseinandersetzungen zwischen den Reformern und den konservativen Gegnern der Schul- und Hochschulreform weitgehend zum Erliegen. Das öffentliche Interesse an ihr war schon vorher erheblich abgesunken, obwohl 1972 und 1974 je eine große internationale Vergleichsstudie dem deutschen Bildungssystem eine nach wie vor unterdurchschnittliche Leistungsfähigkeit und eine unverändert hohe soziale Selektivität bescheinigte.

    Bis zur Jahrtausendwende gab es zwar immer wieder Versuche, eine neue Bildungsreformdebatte anzustoßen, denen aber kein Erfolg beschieden war. Man denke nur an die berühmte Berliner Hauruck Rede, in der der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1997, mit Blick auf die Anforderungen der globalisierten Wissensgesellschaft, die unzureichende Leistungsfähigkeit des Bildungssystems anprangerte und dessen rasche Modernisierung forderte.

    Trotz einer beträchtlichen Medienresonanz verhallte auch dieser Appell wirkungslos, weil die Bildungspolitik und die Mehrheit der am Bildungsprozess beteiligten Gruppierungen, in Erinnerung an die erbitterten ideologischen Auseinandersetzungen um die Gesamtschule, die Gruppenuniversität oder die gymnasiale Oberstufenreform, vor einer erneuten Bildungsreformdebatte zurückschreckten.

    Auch die in den 90er-Jahren sich häufenden Klagen aus den Reihen der Wirtschaft über die mangelnde Ausbildungsfähigkeit vieler Hauptschulabsolventen wurden beharrlich ignoriert. Da sich die Bundesrepublik bis 1997 weigerte an internationalen Schulleistungstest teilzunehmen, konnte man sich in der Illusion wiegen, dass es um die Qualität und Leistungsfähigkeit des Bildungssystems so schlecht nicht bestellt sei, wie seine Kritiker Glauben machen wollen. Erst nachdem die Kultusministerkonferenz unter dem Druck der OECD beschlossen hatte, künftig an internationalen Schulvergleichstest teilzunehmen, zeichnete sich ein Ende dieser bildungspolitischen Selbstgenügsamkeit ab.

    Als 2001 der erste Teil der bislang umfassendsten internationalen Vergleichstudie über die Schullandschaft und den Wissenstand von 15 jährigen Schülern aus 32 Mitgliedsstaaten der OECD vorlag, musste sich auch die Bildungspolitik endgültig von ihren, bis dahin gepflegten, Illusionen verabschieden. Dank des schlechten Abschneidens der deutschen Schüler in den Kompetenzbereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften und der deutlichen Kritik der OECD an den Strukturen des hiesigen Bildungssystems, ließ sich der Reformbedarf nicht mehr bestreiten. Unter dem Druck der Öffentlichkeit, in der schon bald nach der Bekanntgabe der PISA-Ergebnisse von einer neuen Bildungskatastrophe die Rede war, ging die Politik auf Reformkurs.

    Es wurde die überragende Bedeutung der Bildung für die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands in der globalisierten Wissensgesellschaft und die Teilhabe des Einzelnen am kulturellen und gesellschaftlichen Leben betont. Plötzlich schien jeder genau zu wissen, was getan werden muss, um die von der OECD aufgelisteten Defizite unseres Bildungssystems zu beseitigen. In den Medien übertrumpfte man sich gegenseitig mit Reformforderungen, die man vor PISA noch aus wahltaktischen oder ideologischen Gründen bekämpft hatte.

    Im Focus der durch PISA ausgelösten Bildungsreformdiskussion stehen die schon von Picht monierten, und seither von der Bildungsforschung durch zahlreiche empirische Untersuchungen immer wieder bestätigten, Kernprobleme unseres Bildungssystems. Das sind vor allem: die schlechte Qualitäts- und Leistungsbilanz unseres Schulsystems, die im internationalen Vergleich zu geringe Akademikerquote, die hohe Zahl der Bildungsabbrecher und die skandalöse Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft.

    Obwohl diese Defizite, deren Bearbeitung bereits auf der Agenda der letzten Bildungsreform gestanden hat, nicht nur aus Sicht der OECD in erheblichem Maß strukturbedingt sind, stehen die Strukturen unseres Bildungssystems kaum zur Diskussion. Unmittelbar nach der Veröffentlichung der PISA-Studie waren eher Erklärungen zu vernehmen, dass sich die von der OECD aufgelisteten Schwächen unseres Bildungssystems nur durch eine gezielte Verbesserung der Unterrichtsqualität erfolgreich bearbeiten lassen.

    Dabei wäre gerade nach PISA eine breit angelegte Strukturdebatte unter Beteiligung aller am Bildungsprozess beteiligten Gruppierungen aus mehreren Gründen notwendig gewesen:

    Einmal, um Klarheit darüber zu gewinnen, warum die in den 70er-Jahren unternommenen Reformanstrengungen ihr Ziel, die Erhöhung der Chancengleichheit und eine merkliche Verbesserung der Leistungsbilanz unseres Schulsystems verfehlt haben. Nicht um mit den damaligen Reformplanern abzurechnen, sondern um nach PISA nicht noch einmal deren Denkfehler zu wiederholen.

    Dazu zählt die Überzeugung, mehr Universitäten, mehr Lehrer, mehr Abiturienten usw. würden automatisch die Systemleistung verbessern. Außerdem die Annahme, dass ein gewachsenes System wie die Schule auf Inputs von außen in einer vorhersagbaren Weise reagiert und sich wie eine simple Maschine steuern lässt.

    Und nicht zuletzt zählt dazu die Fehleinschätzung, Reformen im Bildungssektor ließen sich erfolgreich umsetzen, ohne mehrheitlich von denen mitgetragen zu werden, die von ihnen am stärksten betroffen sind: die Schüler, die Lehrer und die Eltern.

    Zum Zweiten hätte eine offene und breit angelegte Diskussion über die Strukturen unseres Bildungssystems vielleicht dazu beigetragen, die erstarrten Fronten zwischen den Verteidigern des dreigliedrigen Schulsystem und den Gesamtschulbefürwortern aufzubrechen und den Weg für eine Lösung frei zu machen, mit der beide Seiten hätten leben können.

    Das wäre insofern ein bedeutender Schritt nach vorn gewesen, weil die leidige Schultypdebatte seit Jahrzehnten den Blick von den übrigen strukturellen Problemen unseres Schulsystems ablenkt und deren Bearbeitung weitgehend verhindert.

    Zum Dritten wären die auch die Anhänger der Gesamtschule im Rahmen einer Strukturdiskussion genötigt gewesen ein tragfähiges und auf die bestehende Bildungslandschaft zugeschnittenes Gesamtschulkonzept vorzulegen, anstatt immer nur wieder den PISA-Sieger Finnland der Öffentlichkeit als Beleg dafür zu präsentieren, dass die Gesamtschule nicht nur leistungsstärker als unser auf fragwürdigen begabungstheoretischen Annahmen basierendes dreigliedriges System ist, sondern auch für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgt.

    Auch wenn es zutrifft, dass alle Länder, die bei PISA gut abgeschnitten haben, auf die Gesamtschule setzen, so ist das keineswegs ein hinreichender Beweis dafür, dass nur sie in der Lage ist, die von der OECD diagnostizierten Defizite unseres Schulsystems zu beseitigen. Unterschlagen wird dabei, dass die PISA-Spitzenreiter höchst unterschiedliche Typen von Gesamtschulen unterhalten und auch in vielen der bei PISA ganz unten rangierenden Länder die Gesamtschule die Regelschule ist.

    Hinzu kommt, dass sich das positive Bild der finnischen Gesamtschule nicht auf das ganze finnische Bildungssystem übertragen lässt. Nach dem obligatorischen Gesamtschulabschluss setzt auch in Finnland ein rigider Selektionsprozess ein. Dann nämlich werden die Schüler auf einen Gymnasial- und einen Berufsschulzweig aufgeteilt, die keineswegs gleichwertige Alternativen sind, wie ein 2005 von der OECD erstellter Länderbericht zur Chancengleichheit feststellt.


    Während im Berufsbildungszweig viele auf der Strecke bleiben und nur eine ganz geringe Prozentzahl den Sprung an eine Universität schafft, haben im gymnasialen Zweig auch in Finnland Jugendliche aus den gebildeten und gut verdienenden Milieus, weitaus bessere Chancen, die schwierige Aufnahmeprüfung an der Universität zu bestehen und ein Studium zu beginnen, als ihre weniger privilegierten Mitschüler.

    Das spricht zwar nicht gegen die finnische Gesamtschule und ihre Förderkultur, ist aber Grund genug darüber nachzudenken, ob sich die hierzulande besonders ausgeprägte Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft auch mit kompromissfähigeren Schulvarianten als der derzeit nicht durchsetzbaren Gesamtschule erfolgreich minimieren lässt.

    Eine solche Variante wäre etwa eine für alle Kinder verbindliche zweijährige Vorschule und eine sich daran anschließende sechsjährige Grundschule, an die sich dann der Übergang zum Gymnasium oder zu einer mit der Hauptschule zusammengelegten Realschule anschließen würde. Ein solches Modell würde nicht nur die unsinnige Selektion nach dem vierten Grundschuljahr beenden, sondern auch ausreichend Zeit und Raum für die heute allseits beschworene aber kaum stattfindende Förderung leistungsschwacher und auf Grund ihrer sozialen Herkunft benachteiligter Kinder zur Verfügung stellen.

    Wäre die Bildungspolitik nach PISA bereit gewesen, sich auf die von vielen erhoffte Strukturdebatte einzulassen, hätte zumindest eine vage Chance bestanden, die von allen Seiten für notwendig gehaltene Reform unseres Bildungssystems nicht nur wieder von oben und mehr oder weniger im Alleingang anzugehen, sondern im Verbund mit allen am Bildungsprozess beteiligten Gruppierungen. Dazu gehören, was hierzulande gerne vergessen wird, auch die Schüler und Schülerinnen, die aber bezeichnenderweise über keine eigene Lobby verfügen.

    Das immer wieder von den konservativen Bildungspolitikern vorgebrachte Argument, eine Strukturdebatte würde nicht weiterführen und die nach PISA dringend gebotene Verbesserung der Unterrichtsqualität nur unnötig verzögern, zeigt, dass die Bildungspolitik hierzulande immer noch nicht begriffen hat, dass eine nachhaltige Reform unserer Bildungseinrichtungen nicht im Schnellverfahren zu haben ist. Sie setzt vielmehr die Bereitschaft voraus, sich auf einen zähen und langwierigen Reformprozess einzulassen, der überdies strategisch gut durchdacht sein muss, um nicht vorzeitig am Widerstand einer der am Bildungsprozess beteiligten Gruppierungen zu scheitern.

    Zäh, weil eine gezielt an den strukturellen Defiziten unseres Bildungssystems ansetzende Reform gegen den massiven Widerstand der durch das derzeitige System privilegierten Minderheit durchgesetzt werden muss.

    Langwierig, weil sich grundlegende Veränderungen in gewachsenen Bildungssystemen nicht von oben verordnen lassen und jeder Reformschritt erst dann eingeleitet werden kann, wenn auch die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung stehen.

    Schaut man sich unter diesem Blickwinkel die nach PISA eingeleitete Bildungsreform an, dann ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie aus der gegenwärtigen Bildungsmisere herausführt, auch wenn die Bildungspolitik die Öffentlichkeit glauben machen will, mit dem Ausbau der Vorschulerziehung und der Ganztagsschule sowie der Erstellung von Bildungsstandards und entsprechender Evaluationsverfahren, ließen sich in absehbarer Zeit auch im Rahmen des bestehenden Systems mehr Chancengleichheit und bessere Bildung für alle erreichen.

    Voraussetzung dafür aber wäre, dass Ganztagsschule und Bildungsstandards mehr sind als nur begriffliche Beruhigungspillen für die durch PISA verunsicherte Öffentlichkeit, und es den für die Bildung Verantwortlichen nicht nur um eine Ausweitung der Lernzeit und eine Erhöhung der Leistungsanforderungen geht. Beides mag zwar kurzfristig zu einem Spitzenplatz beim nächsten PISA-Test reichen, führt aber nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung der Lehr- und Lernkultur in unseren Schulen und verringert auch nicht die Abhängigkeit der Bildungschancen von der sozialen Herkunft.

    Es gibt zumindest zu denken, dass die Ganztagsschule und der Ausbau der Vorschulerziehung, im Verbund mit Bildungsstandards, der Öffentlichkeit nun schon seit einigen Jahren stereotyp als Ausweg aus der Bildungsmisere verkauft werden, ohne dass bislang die Voraussetzungen dafür geschaffen worden sind, dass sie die ihnen von der Bildungspolitik zugemutete Leistung auch erbringen können.

    Dazu kommt der durch zahlreiche Untersuchungen belegte Mangel des Lehrpersonals an diagnostischen Fähigkeiten, der zur Folge hat, dass bei einer Vielzahl der Kinder der Förderbedarf gar nicht erst erkannt wird. Das liegt weniger an den Lehrern, als an ihrer Ausbildung, in der sie bislang keine diagnostische und auch keine Förderkompetenz vermittelt bekommen.

    Ohne eine grundlegende, auf die veränderten Anforderungen der Schule zugeschnittene Reform der Lehrerausbildung, die seit Jahren von der Bildungspolitik versprochen wird, aber noch immer auf sich warten lässt, wird auch die Ganztagsschule keine besseren Ergebnisse zeitigen als die traditionelle Halbtagsschule.

    Von diesen und anderen erst zu schaffenden Rahmenbedingungen ist allerdings nie die Rede, wenn Politiker die Entwicklung eines flächendeckenden Ganztagsschulangebots als wirksamen Beitrag zu mehr Chancengleichheit und zur Verbesserung der Qualitäts- und Leistungsbilanz unseres Schulsystems loben. Auch nicht davon, dass für den Aufbau gut funktionierender Ganztagsschulen, kompetente Schulleitungen notwendig sind, die gegenüber dem Kollegium hinreichend weisungsbefugt sind, um organisatorische Veränderungen oder neue pädagogische Konzepte gegen lieb gewonnene Gewohnheiten und eingefahrene Verhaltensmuster durchsetzen zu können.

    Die bildungspolitische und pädagogische Gedankenlosigkeit mit der hierzulande der Ausbau des Ganztagsschulangebots betrieben wird, erweckt den Verdacht, dass nicht der in zahlreichen Talkshows propagierte Abschied von der traditionellen Lernschule zugunsten einer modernen Angebots- und Förderschule auf der Reformagenda steht, sondern die Verbesserung der Leistungsbilanz unseres Schulsystems, durch eine quantitative Ausweitung des Lernstoffs und der täglichen Lernzeit.

    Sollte aber die Bildungspolitik, entgegen allem Anschein, ernsthaft die Absicht hegen, Ganztagsschulen zu entwickeln, die auch nur annährend das Leistungsniveau skandinavischer Einrichtungen erreichen sollen, dann wäre es notwendig, die dafür erforderlichen Ressourcen bereit zu stellen und die Öffentlichkeit, insbesondere aber die Lehrer, die Schüler und die Eltern, in einer ganz anderen Weise als bisher in den Diskurs über die Schulentwicklung einzubinden.

    Man muss ihnen Kriterien an die Hand geben, die eine Ganztagsschule zu erfüllen hat, wenn sie mehr als eine Halbtagsschule mit nachmittäglichem Verwahrangebot sein will und auch ihre Vorbehalte und kritischen Einlassungen ernst nehmen. Nicht nur die skandinavischen Einrichtungen zeigen, dass Ganztagsschulen nur dann die ihnen zugemuteten Aufgaben erfüllen können, wenn sie von den Schülern, den Lehrern und ihrem sozialen Umfeld aktiv mitgetragen werden.


    Was für die Ganztagsschule gilt, das gilt in gleichem Maße auch für die Vorschulerziehung, die nach dem Willen der Bildungspolitik eine doppelte Aufgabe erfüllen soll. Zum einen soll sie durch eine stärkere Bildungsorientierung dazu beitragen, insgesamt das Bildungsniveau der Kinder anzuheben. Zum anderen soll sie die herkunftsbedingten Nachteile der Kinder aus bildungsfernen Familien durch frühzeitige individuelle Förderung ihrer Sprach-, Sozial-, Alltags- und Lernkompetenz, abbauen und so für mehr Chancengleichheit beim Übergang in die Grundschule sorgen.

    Der hohe Stellenwert, den die Bildungspolitik seit PISA der frühkindlichen Bildung und Erziehung für die weitere Bildungskarriere unseres Nachwuchses einräumt, äußert sich zwar in erhöhten Anforderungen an die Kindergärten, nicht aber in der Bereitschaft, ihnen auch die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

    Die Mehrheit unserer Kindergärten verfügen weder über die personelle und finanzielle Ausstattung noch über pädagogische Konzepte, die notwendig wären, um die von der Bildungspolitik erwartete Bildungs- und Förderleistung zu erbringen. Auch die pädagogischen und erst recht die diagnostischen Kompetenzen, die neuerdings von den Erzieherinnen und Erziehern gefordert werden, sind in der Regel nicht vorhanden, weil sie bislang in der Erzieherausbildung nicht vermittelt worden sind. Erschwerend kommt hinzu, dass trotz bestehendem Rechtsanspruch faktisch nicht für alle Kinder ein Kindergartenplatz zur Verfügung steht, Kindergartenplätze für Kinder unter drei Jahren in vielen Ballungszentren absolute Mangelware sind und eine große Zahl von Kindergärten nur ein Halbtagsangebot vorhalten.

    Wer der Öffentlichkeit weismachen will, es reiche aus, das Kindergartenangebot in seiner derzeit bestehenden Form auszuweiten, um für ein höheres Bildungsniveau und mehr Chancengleichheit zu sorgen, der hat im Gegensatz zu vielen unserer Nachbarstaaten, immer noch nicht begriffen, dass die Frühförderung der Kinder eine höchst anspruchvolle Angelegenheit ist, die nicht unzureichend ausgebildeten Erzieherinnen und schlecht bezahlten Hilfskräften überlassen werden kann, wenn der Kindergarten seinen Förder- und Bildungsauftrag erfüllen soll.

    Nicht umsonst haben die Erzieher und Erzieherinnen in Belgien, Holland oder Skandinavien eine Hochschul- oder zumindest eine Fachhochschulausbildung. Solange die Politik nicht bereit ist erheblich mehr Geld als bisher in die Frühförderung unserer Kinder zu stecken und die Ausbildung der Erzieher in die Hochschule zu verlagern, werden auch verbindliche Bildungsziele für die Kindergärten, wie sie derzeit in fast allen Bundesländern entwickelt werden, nicht zu einer Verbesserung der Vorschulerziehung beitragen, weil vor Ort die Mittel und das Personal fehlen, um sie umzusetzen.

    Angesichts der eklatanten Diskrepanz zwischen dem von der Bildungspolitik formulierten Reformanspruch und dem realen Zustand der Kindergarten- und Schullandschaft, erweist sich der von der Politik nach PISA begonnene Reformdiskurs als ein Scheindiskurs, der verdeckt, dass die Mehrheit der für die Bildung Verantwortlichen in unserem Land am Aufbau eines chancengerechteren Bildungssystems kein Interesse hat, weil sie sich vor allem den finanziell gut ausgestatteten bildungsorientierten Schichten verbunden fühlen, die das bestehende System privilegiert.

    Statt überzeugende und diskussionswürdige Reformkonzepte vorzulegen, ergeht sich die Bildungspolitik in symbolischen Aktionen wie dem von Angela Merkel inszenierten Bildungsgipfel und einer wohlklingenden Reformrhetorik, deren Begriffe und Parolen so vage und unbestimmt sind, dass sich aus ihnen nicht verbindlich ableiten lässt, in welche Richtung und in welcher Form Schule entwickelt werden muss, um die offenkundigen Defizite des Bildungssystems erfolgreich anzugehen.

    Die der Öffentlichkeit präsentierten Reformziele, angefangen von der Verbesserung der Unterrichtsqualität durch eine größere Methodenvielfalt und die Individualisierung des Lernprozesses bis hin zur Herstellung von mehr Chancengleichheit durch eine Verbesserung der vorschulischen Bildung und eine individuelle Lernförderung sind kaum mehr als leere Versprechungen, weil bislang kein strategisches Konzept zu deren Umsetzung in der Praxis vorliegt.

    Mit bloßen Appellen an das Lehrpersonal aber lässt sich weder die Unterrichtsqualität verbessern noch mehr Chancengleichheit herstellen. Da bislang völlig unbestimmt ist, was die Qualität eines Unterrichts ausmacht und wie sie gemessen werden kann, werden Appelle keine Veränderung der Unterrichtspraxis bewirken, weil jeder Lehrer davon überzeugt ist, einen qualitativ hochwertigen Unterricht abzuhalten.

    Der entscheidende Mangel des von den Bildungspolitikern und der Bildungsbürokratie dominierten Reformdiskurses aber ist der, dass er ohne die Schüler, die Lehrer und die Eltern stattfindet. Sie tauchen bislang nur als Reformobjekte in ihm auf, obwohl eine tragfähige und nachhaltige Bildungsreform nur mit ihnen und nicht gegen sie durchgeführt werden kann.

    Da seit PISA außer der Entwicklung von Bildungsstandards, der Einführung von regelmäßigen Lernstandserhebungen und der Erhöhung der Zahl der Ganztagsschulen in Sachen Bildungsreform kaum etwas geschehen ist, dass zu einer spürbaren Verbesserung der Lehr- und Lernkultur in unseren Bildungseinrichtungen geführt hat, droht die endlich in Gang gekommene Diskussion über den Reformbedarf unseres Bildungssystems erneut zu versanden, ohne dass sich an unserem Bildungssystem substantiell irgendetwas verändert hat.

    Obwohl der jährlich erscheinende nationale Bildungsbericht die alarmierenden Befunde der PISA-Studie erneut bestätigt hat, ist die Politik immer noch nicht zu grundlegenden Korrekturen am bestehenden Bildungssystem bereit. Stattdessen setzt man weiter auf symbolischen Aktionismus. So hat auch Bundeskanzlerin Merkel als Reaktion auf den nationalen Bildungsbericht unter dem Slogan "Wir müssen die Bildungsrepublik Deutschland werden" eine große Offensive gestartet und die Länder zu einem nationalen Bildungsgipfel zusammengerufen, um mit ihnen über den weiteren Fortgang der Reform zu diskutieren.

    Dieses monatelang mit erheblichem publizistischen Aufwand vorbereitete und von hohen Erwartungen begleitete Treffen, das nur wenige Stunden dauerte, hat nicht mehr erbracht als eine grundsätzliche Einigung auf eine Verlängerung des milliardenschweren Hochschulpakts zur Schaffung von Studienplätzen und zur Verbesserung der Forschung, Sprachkurse für Migrantenkinder und benachteiligte Jugendliche, verbindliche Sprachtest vor der Einschulung und Maßnahmen zur Halbierung der hohen Abbrecherquote in Schule und Lehre.

    Das Ziel, die Ausgaben für Bildung und Forschung bis 2015 auf 10% des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, wurde zwar grundsätzlich begrüßt, aber wegen der unklaren Finanzaufteilung wurde eine gemeinsame Arbeitsgruppe eingerichtet, die ihre Umsetzungsvorschläge erst nach der Bundestagswahl 2009 vorlegen soll.

    Wer nach PISA mehr von der Bildungspolitik erwartet hat, wird sich wohl bis zu nächsten " Bildungskatastrophe" gedulden müssen, um vielleicht doch noch eine Bildungsreform zu erleben, die diesen Namen auch verdient hat.