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Die Deutschen und die alltägliche Judenverfolgung

Der Titel von Peter Longerichs Studie führt ein wenig in die Irre. Denn der Ausspruch "Davon haben wir nichts gewusst!" bezog sich vor allem auf die so genannte Endlösung. Doch Longerichs eigentliches Thema ist, was den Juden schon seit 1933 in Deutschland widerfahren war und wie die vielzitierten "ganz normalen" Deutschen seinerzeit auf all das reagierten, was unter ihren Augen geschah.

Von Norbert Frei | 24.04.2006
    "Das haben wir nicht gewusst." Mit diesem Satz reagierten die Deutschen im Frühjahr 1945 auf eine Frage, die schon fast niemand mehr stellte. Denn noch ehe die Waffen schwiegen, waren die ersten Aufnahmen aus den befreiten Konzentrations- und Vernichtungslagern um den Globus gegangen, und seitdem lagen die Dinge nicht nur für jene alliierten Soldaten klar, die auf die Leichenberge, Massengräber und Tötungsanlagen gestoßen waren: Aller Welt erschien es fortan unvorstellbar, dass die unvorstellbaren Verbrechen hätten geschehen können, ohne dass die Deutschen davon etwas wussten. Deren dauerndes Dementi vermochte deshalb kaum jemanden zu überzeugen - außer die Deutschen selbst, und zwar um so mehr, je öfter sie es untereinander bekräftigten.

    Pointiert gesagt, war die Frage, ob der Durchschnittsdeutsche von der Ermordung der Juden wusste, eine Erfindung der Nachkriegszeit. Als Problem jedenfalls musste das Thema erst entwickelt werden, darin vergleichbar dem so genannten Kollektivschuldvorwurf, mit dem die Alliierten damals die Deutschen angeblich überzogen. Tatsächlich gelang es den aus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft entlassenen Deutschen in erstaunlichem Maße, sich einzureden, sie litten nicht nur unter einer unterstellten kollektiven Schuld, sondern auch unter dem unberechtigten Vorwurf, ein Wissen zu leugnen, das sie nie besessen hätten.

    Peter Longerichs Studie über "Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945" ist mit dem Ausruf überschrieben: "Davon haben wir nichts gewusst!". Die Kombination von Haupt- und Untertitel lenkt ein wenig in die Irre. Denn gewiss war auch diese Formulierungsvariante nationaler Apologie in Deutschland lange zu hören, aber sie bezog sich doch vor allem auf die so genannte "Endlösung"; nur die unverfrorensten und dümmsten Lügner meinten, mit eben diesen Worten auch die Kenntnis dessen bestreiten zu können, was den Juden schon seit 1933 in Deutschland widerfahren war. Die Frage aber, wie die viel zitierten "ganz normalen" Deutschen seinerzeit auf all das reagierten, was unter ihren Augen geschah, ist Longerichs eigentliches Thema.

    Im Grunde geht es also um die Frage nach dem Antisemitismus im "Dritten Reich" - mithin um ein Thema, dessen mangelnde Erforschung erstaunlicherweise erst Mitte der neunziger Jahre, nicht zuletzt durch die Kontroverse um das Buch von Daniel Goldhagen, deutlich geworden ist. Seitdem allerdings hat sich viel getan, und Peter Longerich, selbst ein international anerkannter Holocaust-Forscher, kann sich auf eine ganze Reihe neuer Detail- und Regionalstudien stützen, vor allem aber auf eine große Quellenedition über "Die Juden in den nationalsozialistischen Stimmungsberichten", die Otto Kulka und Eberhard Jäckel 2004 herausgegeben haben.

    Unter Berufung auf dieses Material kommt Longerich - ganz anders als Goldhagen - zu der These, dass in der Anfangszeit des "Dritten Reiches" von einem "breiten radikal-antisemitischen Konsens in der deutschen Bevölkerung" nicht die Rede sein konnte. Nun ist sich der Autor aber der methodischen und definitorischen Probleme bewusst, die einer solchen Aussage trotz aller Quellenbelege innewohnen. Zur Stützung seiner These zieht er deshalb einen Umkehrschluss heran: Hätte es den (eigentlich von kaum jemandem behaupteten) frühen radikal-antisemitischen Konsens gegeben - oder auch nur eine weit verbreitete Indifferenz -, dann, so Longerich,

    "wären nicht immer wieder diese groß angelegten Kampagnen notwendig gewesen, mit denen die äußere Zustimmung der 'Öffentlichkeit’ zur 'Judenpolitik’ dokumentiert wurde."

    Faktisch aber waren solche Kampagnen, das weiß auch Longerich, ein Wesensmerkmal des auf permanente Mobilisierung gegründeten Regimes - und keine Besonderheit seines widerwärtigen Kampfes gegen die Juden. Einerseits Ausdruck eines in den zwanziger und dreißiger Jahren weit verbreiteten Glaubens an die Wirkungsmacht massenmedial vermittelter Indoktrination, waren die Propagandaaktionen andererseits auch Ersatz für eine nicht mehr geduldete freie öffentliche Meinungsbildung. Insofern erscheint es doch zumindest fraglich, ob ein so einfacher Umkehrschluss berechtigt und das Ausmaß der antisemitischen Kampagnen tatsächlich ein Indiz für schwächelnden Antisemitismus ist. Die Beobachtungen der sozialdemokratischen Regimegegner, aus deren Berichten Longerich immer wieder - und zu Recht - zitiert, fügen sich jedenfalls zu einem weniger eindeutigen Bild. Im Deutschland-Bericht der Sopade, wie sich die Sozialdemokraten im Exil nannten, vom September 1935, der sich noch auf die Hetzpropaganda aus den Wochen vor dem Erlass der so genannten Nürnberger Rassegesetze bezieht, heißt es:

    ""Die Judenverfolgungen finden in der Bevölkerung keinen aktiven Widerhall. Aber sie bleiben andererseits doch nicht ganz ohne Eindruck. Unmerklich hinterlässt die Rassenpropaganda doch ihre Spuren. Die Leute verlieren ihre Unbefangenheit gegenüber den Juden, und viele sagen sich: Eigentlich haben ja die Nazis mit ihrem Kampf gegen die Juden doch Recht, aber man ist gegen die Übertreibungen dieses Kampfes, und wenn man in jüdischen Warenhäusern kauft, dann tut man es in erster Linie nicht, um den Juden zu helfen, sondern um den Nazis eins auszuwischen. "

    Ob die Motive der nichtjüdischen Käufer damit schon vollständig beschrieben sind, mag dahin gestellt bleiben; immerhin denkbar ist auch eine Entscheidung nach dem günstigsten Preis. Aber wie Longerich an anderer Stelle bemerkt, taten sich die klandestin berichtenden Sozialdemokraten aus begreiflichen Gründen schwer, nicht doch immer wieder die Möglichkeit einer Veränderung der politischen Verhältnisse in Deutschland zu erhoffen. Im Frühjahr 1940 - der Höhepunkt seiner Popularität stand Hitler noch bevor - war diese Hoffnung überhaupt nur noch aufrecht zu erhalten, wenn man die vorherrschende Stimmung als durch "Terror" erzeugt begriff. Am Ende fiel die Diagnose der Sopade gleichwohl ernüchternd aus:

    " Der umfassende Terror zwingt die 'Volksgenossen’, ihre wirkliche Stimmung zu verbergen, ihre tatsächliche Meinung zurückzuhalten und stattdessen Zustimmung und Zuversicht zu heucheln. Ja, er bringt offensichtlich mehr Menschen dazu, sich schon in ihrem Denken den Forderungen des Regimes anzupassen, sie wagen nicht mehr, sich vor sich selber Rechenschaft abzulegen. Diese äußere Schale der Loyalität, die sich so bildet, kann noch lange halten. "

    Im Nachhinein wissen wir, dass diese "äußere Schale", entgegen den Hoffnungen der Sopade, bis in die letzten Tage des Regimes nicht zersprungen ist. Was aber spricht dann dafür, nicht auch von einer breiten Anpassung an dessen antisemitische Forderungen auszugehen?
    Nach einem aufschlussreichen Kapitel über die so genannte Reichskristallnacht, in der das Regime, wie Longerich zeigt, die nichtjüdischen Deutschen zu "Komplizen des gewalttätigen Anschlags auf die deutschen Juden" machte, richtet sich das Augenmerk des Autors vor allem auf die Phase, in der die "Endlösung" zu einem "öffentlichen Geheimnis" wurde. Während die Einführung des "gelben Sterns" im Herbst 1941 bei den Deutschen noch einmal - Zitat - "offensichtlich in größerem Umfang Gesten der Sympathie und Solidarität" gegenüber den Juden ausgelöst habe, sei davon später - also während die Vernichtungsaktionen liefen - nichts mehr zu bemerken gewesen. Seit 1942 habe sich die Mehrheit der Deutschen in der Öffentlichkeit gegenüber den Juden tatsächlich distanziert und indifferent verhalten - mithin so, wie das Regime es verlangte. Zu diesem Ergebnis kommt Longerich allerdings weniger durch die Auswertung der oft widersprüchlichen Stimmungs- und Lageberichte, als vielmehr durch einen erneuten Umkehrschluss, der seine Auswertung zeitgenössischer biographischer Zeugnisse und der späteren Memoirenliteratur beschließt:

    " Freundlichkeiten, Gesten der Solidarität und Hilfe einerseits, offene Anpöbeleien, Akte der Unmenschlichkeit und Denunziationen andererseits erschienen den Zeitgenossen vor allem deshalb als so bemerkenswert, weil sie als untypische Verhaltensweisen hervorstachen. "

    Ein nicht überzeugend gelöstes Problem der Darstellung liegt in der Verknüpfung der internen Überlegungen an der Spitze des Regimes mit den gesteuerten antisemitischen Kampagnen, in denen sich übrigens Robert Ley, der Chef der Deutschen Arbeitsfront, noch brutaler als Goebbels erwies, und oft ganz unzweideutig in seiner Wortwahl. Die Zusammenführung dieser Quellen ist zwar aufschlussreich, trägt aber dazu bei, dass die Grenzen zwischen dem damals öffentlich und dem nur intern Gesagten verschwimmen. Will sagen: Longerich macht es seinen Lesern nicht immer leicht, sich darüber im Klaren zu bleiben, was die Deutschen zu welchem Zeitpunkt wussten oder doch wissen konnten. Ein interessanter Schwerpunkt der Studie liegt auf der alliierten Rundfunk-Propaganda. Thomas Mann, in seinen berühmten Sendungen an "Deutsche Hörer", sprach wiederholt über den Mord an den europäischen Juden. Am 27. September 1942 berichtete er detailliert, wie im deutsch besetzten Warthegau Juden in Gaswagen getötet wurden. Und die Ansprachen des emigrierten Dichters waren nicht die einzigen Informationen, mit denen die BBC die Deutschen aufzurütteln suchte. In einer Sendung speziell für die deutschen Frauen informierte Radio London Mitte Juli 1943 eingehend über die Tötungslager Belzec, Treblinka und Sobibor; ein Jahr später über die Tötung tschechoslowakischer Juden in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Aber auch, wer nicht den Mut aufbrachte oder die Chance hatte, den englischen "Feindsender" zu hören - immerhin war das seit Kriegsbeginn verboten -, der konnte doch an entsprechende Informationen gelangen: durch die in der zweiten Kriegshälfte regelmäßig über dem Reichsgebiet abgeworfenen Flugblätter, durch Feldpostbriefe, durch Berichte von Fronturlaubern im privaten Kreis und durch eine nicht zu unterschätzende Gerüchtekommunikation. Dies alles weiß und belegt Longerich mit zahlreichen Beispielen - weshalb manche seiner Schlussfolgerungen etwas verwundern: So, wenn er den Abschnitt über die alliierte Flugblattpropaganda mit der Feststellung beschließt, von einer - so wörtlich - "herausragenden Rolle des Massenmords an den europäischen Juden" könne auf diesen Flugblättern "keine Rede" sein. Oder wenn er bemerkt, die von ihm selbst beobachtete "vorherrschende Distanz und Indifferenz" der Deutschen gegenüber dem Schicksal der Juden dürfe - Zitat - "nicht mit Desinteresse oder Wegschauen verwechselt werden". Vielmehr habe es sich dabei um eine "vom Regime durch jahrelange Propaganda und Repression erzwungene Verhaltensweise im öffentlichen Raum (gehandelt), die wenig über die 'wahre’ Einstellung aussagt".

    Wenn dem so wäre, müsste man freilich fragen, welche Bedeutung eine Quellenanalyse überhaupt haben kann, wie sie hier auf über 400 materialgespickten Seiten präsentiert wird. Und man müsste fragen, wie fundiert die - dem Rezensenten allerdings sehr einleuchtende - Feststellung ist, dass die Wurzeln der nach Kriegsende zur Floskel geratenen Redewendung, man habe "davon" nichts gewusst, in der zweiten Kriegshälfte auszumachen sind: In einer Zeit also, in der die Deutschen begannen - so Peter Longerich -, "sich jeder Verantwortung für das Geschehen durch ostentative Ahnungslosigkeit zu entziehen".

    Peter Longerich: "Davon haben wir nichts gewusst!"
    Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945
    Siedler Verlag, München 2006, 400 Seiten, 24,95 Euro