Mittwoch, 24. April 2024

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Die deutschsprachige Erstaufführung von Jon Fosses "Der Sohn"

Da hocken sie schlaff im Sessel, bewegungslos, mit leerem Blick, wie diese hyperrealen Skulpturen von Duane Hanson, fleischgewordene Denkmäler des misslungenen Lebens und der Resignation. Alte Leute. Die Gesichter im Schatten. Er mit abgenutzter brauner Wolljoppe, sie mit geblümter Hausjacke und einer schrecklichen rosa Hose. Er mit einer Tageszeitung, die er später mechanisch umblättert, sie mit dem Strickzeug zum Festhalten.

Christian Gampert | 11.10.2003
    Dann glühen die Scheinwerfer ein wenig auf, und sie sagt "ziemlich dunkel ist es zurzeit/ richtig schwarz"; und er sagt "Ja sehr dunkel/ fast überhaupt nicht mehr hell/ mittags ein bisschen dämmrig/ sonst immer dunkel". So ist auch das Stück. Die Mutter sagt "Ja", "Jaja", "Ja, schlimm", "Ja furchtbar", in diesem Tonfall, der Vater antwortet mit den nämlichen Worten, ein einsilbiger traurigkomischer Wechselgesang, als wärs eine Litanei von Samuel Beckett, als wärs ein Bild von Edvard Munch, ein steckengebliebener Schrei von da hinten, aus dem Nichts, wo keiner mehr wohnt.

    Vor drei Jahren haben Nicola Weisse und Peter Brombacher schon einmal, am gleichen Ort, so ein altes Paar gespielt. "Und die Nacht singt ihre Lieder" hieß das Stück von Jon Fosse, Regie Falk Richter, und die beiden Alten kamen zu Besuch zu einem jungen und sehr unglücklichen Paar. Jetzt, in Fosses neuem Stück, sitzen sie nur und warten, auf den Sohn, den sie lieben, der aber von ihnen nichts wissen will. Der sie bedroht, weil er draußen in der Welt ist, von der sie nichts verstehen. Der Sohn war im Gefängnis, sagt der Nachbar. Das können die Eltern nicht glauben. Und der Nachbar weiß nichts Genaues.

    Elias Perrig hat dieses ausgeklügelte, feine, leise Kammerstück inszeniert wie ein Chemiker, der mit nur schwer reagierenden Substanzen hantiert. Es ist kein Zufall, dass Perrig tatsächlich einmal Chemie studiert hat. Es ist sein Prinzip der Menschenbeobachtung. Er zeigt uns Personen, die ihrer eigenen Beerdigung beiwohnen. Etwas neudeutscher ausgedrückt: er zeigt uns die Aufkündigung des Generationenvertrags. Die Alten sitzen zu Hause und hoffen, dass die Kinder mal kommen. Die Kinder aber haben ganz anderes zu tun. Sie haben tatsächlich mal im Gefängnis gesessen, bei den Eltern, und sie sind froh, entkommen zu sein. Und die Eltern schauen nach draußen, ob bald der Bus kommt. Und ob einer aussteigt. Und sie reden darüber, was der Nachbar sagt.

    Wenn einer kommt, dann kommt er von unten, aus der Unterwelt. Bei Elias Perrig kündigt sich das durch ein dumpfes Trampeln und Scheppern an. Zwei Reaktionen, zwei Begegnungen gibt es in dieser großen Stille: Da steht der Sohn, schuldbewusst, mager, blaß. Er will hier nicht sein, aber er kommt mal vorbei. Der schlaksige Philipp Hochmair hat die Reisetasche immer in Reichweite, er zieht die Jacke kaum aus. Immer hat er nur Gitarre gespielt und sich um nichts gekümmert. Wie die Eltern nun versuchen, diesem Kind Guten Tag zu sagen; wie die Mutter die Umarmung andeutet und dann davor zurückschreckt, wie der Vater aus größter Distanz die Hand zu geben versucht - das ist weitaus trauriger als alle Rentenformeln. Es ist eine unerträgliche Wort- und Körperlosigkeit, virtuos hergestellt.

    Und dann hören wir den Nachbarn. Josef Bierbichler schiebt sich massig ins Wohnzimmer, mit rasselndem Atem, ein schnaubendes, keuchendes, röchelndes Stück Mensch. Der Nachbar ist krank, er fasst sich an die Schulter, man sieht den Herzinfarkt schon, bevor der Streit ausbricht. Der Nachbar hat etwas gehört, aber er weiß es nicht genau. Der Nachbar hat Whisky dabei. Der Sohn bestreitet, je im Gefängnis gewesen zu sein – obwohl jeder sehen kann, aus welchem Elternhaus er kommt. Der Sohn packt den Nachbarn an die Schulter. Der Nachbar fällt um und ist tot.

    Das ist Jon Fosse: das Leben ist stehen geblieben. Es besteht aus ein paar Strukturelementen, die variiert werden. Elias Perrig hat diesen existentialistischen Minimalismus, diese depressiven Wiederholungen und Echos ganz zart, zeitlupenhaft auskomponiert. Die Bühnenbildnerin Beate Fassnacht hat in eine Grasnarbe, wie beim Torfstechen, ein erdfarbenes Wohnzimmer-Grab gesetzt. Es ist ein Stück für die dunkelste Zeit des Jahres, und es erzählt mehr über uns als all die schicken Video-Kriegsspiele und angeblich goldenen Zeitalter, mit denen das Züricher Schauspiel sich derzeit selbst beweihräuchert. Es ist die erste stimmige Züricher Premiere in dieser Spielzeit, und die Juroren des Berliner Theatertreffens sollten auch so was mal angucken.

    Und am Schluss geht der Vater nach drüben, in die Wohnung des toten Nachbarn, und knipst das Licht aus. Sonst tut das ja keiner.