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Die Diskussion um die sechsjährige Grundschule

In Berlin gibt es seit Jahrzehnten die sechsjährige Grundschulzeit. Vor fünf Jahren hat der damalige Bildungssenator eine Studie in Auftrag gegeben. Sie sollte untersuchen, welche Lernzuwächse Fünft- und Sechstklässler in Lesen und Mathematik haben, und zwar an 69 Berliner Grundschulen und an 31 Gymnasien. Der Berliner Bildungsforscher Rainer Lehmann von der Humboldt-Universität kam zu dem Ergebnis: Am Ende der sechsten Klasse liegen die untersuchten Grundschüler bis zu zwei Jahre hinter den Altersgenossen, die aufs Gymnasium gegangen sind, zurück. Und diese Studie kam ausgerechnet dann heraus, als in Hamburg die sechsjährige Grundschule als Bestandteil des schwarz-grünen Koalitionsvertrags beschlossen und verkündet wurde. Eine Diskussion brach los.

Von Esther Körfgen | 24.05.2008
    Die sechsjährige Grundschulzeit bringe viele Vorteile, so hat man damals in Berlin gesagt, zum Beispiel würden auf diese Weise alle Schüler gefördert, auch die besonders leistungsstarken. Außerdem würden die sozialen Ungleichheiten im Bildungssystem vermindert. Ob das heute alles überhaupt noch so stimmt, wollte der Berliner Senat wissen, und zu beiden Punkten sagt der Bildungsforscher Rainer Lehmann: nein.

    " Die Befunde sind nun die, dass zwar Grundschulen und Gymnasien im Durchschnitt gleiche Lernfortschritte ermöglichen, dass aber dann, wenn man die Lernausgangslage der Klasse 5 kontrolliert, also Schüler gleicher Lernstände miteinander vergleicht, dass dann jeweils an den Gymnasien höhere Fortschritte erzielt werden. Durchschnittliche Fortschritte sind gleich, gleichwohl gibt es in jeder einzelnen Leistungsgruppe höhere Fortschritte für die grundständigen Gymnasien. "

    Überspitzt formuliert heißt das: Besonders begabte Kinder sollten nach der vierten Klasse tunlichst aufs Gymnasium. Was 10 Prozent der Berliner Grundschüler ja auch schon tun. Der Nachteil: die Kinder von Eltern mit hohem Bildungsanspruch sind dann weg, die soziale Schere an den Grundschulen öffnet sich. Angesichts dieser Ergebnisse kann der Bildungsforscher nur den Kopf schütteln über die schwarz-grüne Koalition in Hamburg, die dieses Schulmodell euphorisch zu ihrem zentralen Regierungsprojekt erklärt hat. Hamburgs neue Schulsenatorin, die GAL-Politikerin Christa Goetsch:

    " Wir haben uns verständigt auf eine Primarschule, die von der Vorschule bis zur Klasse 6 gehen wird, und zwar als organisatorische und pädagogische Einheit, und eben es geschafft, dass wir hier in Hamburg die frühe Auslese überwinden, und ich muss an dieser Stelle auch sagen, dass wir Bildungsgeschichte schreiben. "

    Die vierjährige Grundschule ist Vergangenheit, das sieht auch Jörg Tauss so, der bildungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Sein Argument: Die PISA-Ergebnisse hätten gezeigt, dass die Grundschulen gute Ergebnisse brachten, die weiterführenden Schulen schlechte. Ergo, jegliche Trennung der Schüler sei schlecht.

    " Dort, wo wir Modellschulen haben, wo die Möglichkeit besteht, dass länger gemeinsam gelernt wird und der Schulalltag vernünftig organisiert ist, sind die Ergebnisse wesentlich besser. Wir haben ja viele, ich nenne mal den Philologenverband in Deutschland, der sich eine andere Schule gar nicht vorstellen kann, der eben unbelästigt sein will von Kindern aus niederen, sozialen Schichten, der an dieser Teilung interessiert ist. "

    Die Diskussion ist eröffnet, der angesprochene Philologenverband argumentiert zurück: Auch andere Untersuchungen hätten gezeigt, je länger gemeinsam gelernt werde, desto mehr Lernnachteile seien vorhanden. So der Vorsitzende Heinz-Peter Meidinger. Und überhaupt:

    " Die PISA-Studie hat ja keinerlei Untersuchungen gemacht hinsichtlich längerem gemeinsamen Lernen. Sondern sie haben nur gesagt: an der Spitze sind Länder, die haben eine spätere Differenzierung. Da muss man aber auch genau hinsehen, wenn Sie etwa Länder nehmen wie England, in dem ein starkes privates System da ist, da wird schon bei der Einschulung entschieden, wird das Kind von einer privaten Schule gut gefördert oder kommt es auf eine öffentliche. "

    Was die Hamburger anders machen sollten als die Berliner? Heinz-Peter Meidinger ist vor allem für einen kompletten Umbau der Lehrerbildung. Und der Bildungsforscher Rainer Lehmann schlägt in die gleiche Kerbe: die Grundschulen bräuchten angemessen ausgebildete Lehrer, Mathematiklehrer etwa, die auf hohem Niveau Fachunterricht erteilen könnten. Das Argument, längeres gemeinsames Lernen sei besseres Lernen, hält er ohnehin für schwach.

    " Wer sagt, macht's doch wie die Finnen und macht eine lange Grundschule, der muss aber damit rechnen, dass aus München sofort die Äußerung kommt, klein Moment, wir haben doch hier viel besser vergleichbare Verhältnisse, Bayern oder Baden Württemberg haben nur vier Jahre Grundschule mit einer viel rigideren Regelung des Übergangs zu den Gymnasien, dort sind die Ergebnisse durchgängig besser. "

    Als verwirrungsstiftend kritisieren den Berliner Professor viele seiner Kollegen, zum Beispiel der Bildungsforscher Klaus-Jürgen Tillmann, Mitautor der ersten PISA-Studie. Der darauf hinweist, dass Berlins Bildungs-Senator Jürgen Zöllner Lehmanns Studie ganz anders interpretiert als ihr Urheber. Der Senator sieht die Ergebnisse als Bestätigung der sechsjährigen Grundschule. Sie unterstütze die Leistungsschwächeren genauso wie die Leistungsstärkeren. Doch Rainer Lehmann bleibt bei seiner Deutung: Die sehr guten Schüler würden an Berliner Grundschulen zu wenig gefördert.