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Die einfache Melodie als große Kostbarkeit

Die portugiesische Pianistin Maria Joao Pires widmet sich mit "Wigmore Hall Recital" der Kammermusik der Romantik. Antonio Meneses vom Beaux Arts Trio begleitet sie auf dem Cello – und hat damit eine schwierigere Aufgabe zu meistern.

Von Raoul Mörchen | 20.10.2013
    Wir widmen unsere Sendung einem Konzert des brasilianischen Cellisten Antonio Meneses und der portugiesischen Pianistin Maria João Pires in der Londoner Wigmore Hall. Dort haben sie im Winter 2012 Musik gespielt von Schubert, Brahms, Mendelssohn und Bach. Eine neue CD des Hauses Deutsche Grammophon lässt den Konzertabend noch einmal Revue passieren.

    Fangen wir einfach mal in der Mitte an: eine Schubert-Sonate und drei Intermezzi von Brahms haben Antonio Meneses und Maria João Pires schon absolviert, ein weiterer, schwerer Brahms steht bevor. Dazwischen kommt ein Mendelssohn gerade recht: ein Lied ohne Worte, ein Souvenir aus dem Salon des 19. Jahrhunderts. Es ist die Zeit, als Kammermusik noch mehrheitlich in der Kammer gespielt wurde, im privaten Rahmen, im Musikzimmer oder dem Drawing Room vornehmer Familien. Säle wie die Wigmore Hall werden erst in einigen Jahrzehnten entstehen, wenn die bürgerliche Kultur endlich eine öffentliche ist. Dass diese öffentliche Kultur von Beginn an eine kommerzielle Seite hat, lässt sich gerade an diesem Ort gut nacherzählen: Die Wigmore Hall, heute die feinste Adresse für Kammermusik in London, wurde 1901 als Bechstein Hall eröffnet, als Showroom des großen deutschen Klavierherstellers, der in der britischen Metropole im eigenen Konzertsaal die eigenen Produkte einem bis zu 400-köpfigen Publikum präsentieren wollte.

    Diese Zeiten sind passé. Kein Bechstein und auch kein Gran Piano des alten Rivalen Steinway steht auf dem Londoner Podium, als Maria João Pires im Januar 2012 die ersten Töne anschlägt – sondern ein Flügel der japanischen Firma Yamaha...

    Cellisten lieben diese Musik – und fürchten sie. Denn eigentlich ist sie gar nicht für sie bestimmt. Als Franz Schubert 1824 die Komposition einer Duo-Sonate begann, hatte er ein ganz anderes Instrument im Sinn, eines, das gerade erst von einem Wiener Gitarrenbauer vorgestellt worden war: eine Kreuzung aus Gitarre und Cello, mit sechs Saiten, mit Metallbünden und einer Stimmung wie das Zupfinstrument, gespielt aber wie das Streichinstrument, eingeklemmt zwischen den Knien, mit einem Bogen. Hätte Schubert nicht Gefallen gefunden an dieser merkwürdige Kreuzung, wir wüssten heute vermutlich gar nichts mehr von ihrer Existenz, und auch ihr Name, Arpeggione, ist uns nur bekannt dank dieser einen Sonate. Schubert hat die technischen Vorteile der Arpeggione ausgeschöpft: das Spiel in hohen Lagen, die sichere Intonation dank fester Bünde, die leichte Ansprache des Tons und die Schnelligkeit, mit der über sechs Saiten Arpeggios und andere Spielfiguren ausgeführt werden konnten. Mit einem Wort: auf der Arpeggione war all das einfach, was auf dem Cello ziemlich schwierig ist.

    Wer sich als Cellist an Schuberts Arpeggione-Sonate wagt, der hat vor allem eine Herausforderung zu bestehen – er muss dem Publikum suggerieren, dass nichts leichter sei, als eben diese Sonate zu spielen. Und die wahren Anstrengungen vergessen lassen, die hohe physische Energie, die es kostet, das reiche Passengenwerk, die schnellen Figurationen, die weiten Intervallsprünge auf einem Instrument zu realisieren, dem von Natur aus eine gewisse Behäbigkeit zueigen ist.

    Antonio Meneses gelingt dieses Zauberstück. Sein Bogen fliegt und springt über die Saiten, statt daran zu kleben, sein Ton hat nichts mehr von der typischen Dickbäuchigkeit eines Cellos, er ist schlank und tanzt in den Höhen so flink, als spielte hier jemand Geige – oder eben eine Arpeggione. 1957 in Brasilien geboren, ist Meneses vor allem als Mitglied des berühmten Beaux Arts Trios bekannt – als ein begnadeter Kammermusiker, der gleichwohl schon früh auch als Solist großer Konzerte seine Meriten verdient hat: Davon zeugt noch heute etwa die alte Aufnahme des Doppelkonzerts von Brahms unter Herbert von Karajan, an der Seite der Geigerin Anne-Sophie Mutter. In den letzten Jahren, nach der Auflösung des Beaux Arts Trios, hat Meneses eine neue musikalische Partnerin gefunden in Maria João Pires, der renommiertesten portugiesischen Pianistin der letzten Jahrzehnte.

    Zu Gast in der Wigmore Hall – Antonio Meneses und Maria João Pires. Das Konzert der beiden Musiker wurde umjubelt. Den Musikern sei das gegönnt, doch wir sind froh, dass uns die Tontechniker der Deutschen Grammophon den tosenden Beifall erspart haben, der Live-Mitschnitte wie diesen bei mehrmaligem Hören zur Qual machen kann. Dass man das Publikum auf der CD überhaupt nicht bemerkt, das ist vermutlich aber einem anderen Umstand geschuldet: Längst ist es üblich geworden, selbst Live-Mitschnitte um Aufnahmen zu ergänzen, die ohne Publikum gemacht werden. Die Deutsche Grammophon nennt im Fall des Wigmore-Hall-Recitals im dünnen Booklettext denn auch nur den Monat der Aufnahme, Januar 2012, nicht aber den Tag – Meneses und Pires durften wohl ein wenig nachbessern. Das stört aber nicht, wenn eine solche musikalische Konzentration erlebbar wird, wie beispielsweise im Solo von Maria João Pires mit den Intermezzi op.117 von Johannes Brahms...

    Die drei Intermezzi von Brahms, das pianistische i-Tüpfelchen des Recitals von Maria João Pires und Antonio Meneses in der Londoner Wigmore Hall. Brahms stand am Ende noch einmal auf dem Programm, die erste Cellosonate, die dem Cellisten Meneses nicht durchweg so glückt wie zuvor Schubert Arpeggione. Phrasierungen geraten da mehr als einmal zu stumpf, vor allem dort, wo Meneses die Vorschriften von Brahms ignoriert, der Ton klingt stellenweise mehlig, die Balance in der finalen Fuge ist heikel – dies allerdings ein Problem, das im Werk selbst angelegt ist. Frei von Makel dann die Zugabe: die Bearbeitung einer Aria von Johann Sebastian Bach. Zwei Musiker verabschieden sich da in himmlischer Ruhe – und präsentieren die einfache Melodie als große Kostbarkeit wie auf einem Silbertablett.

    The Wigmore Hall Recital
    Antonio Meneses (Violoncello), Maria João Pires (Klavier)
    Deutsche Grammophon 00173, Bestellnummer: 4790965